30

Die Dämmerung überzog das Land südlich des Regenbogensees mit purpurfarbenem und silbernem Dunst, der wie eine Katze aus dem Anar herankroch, um einen feurigen Sonnenuntergang gen Westen in die Black Oaks und die Gebiete dahinter zu jagen. Das Zwielicht war weich und seidig, während es die Schwüle des Tages mit einer Brise milderte, die tröstlich und kühl aus dem tiefen Wald heranwehte. Farmen, die das Land oberhalb des Battlemound sprenkelten, waren in eine Mischung aus Schatten und Licht gebadet und erinnerten an alte Gemälde. Tiere hatten ihre Gesichter der Brise zugewandt und standen regungslos vor den schattigen grünen Weiden. Knechte und Gehilfen kamen von der Arbeit herein, Wasser plätscherte in die Waschgefäße, und der Geruch von Essen zog vom Herd heran. Gelassene Heiterkeit lag in den Schatten und Erleichterung in der abkühlenden Luft. Stille sammelte sich und tröstete und versprach Ruhe für jene, die einen weiteren Tag zu Ende gebracht hatten.

In einem Hartholzhain nördlich des Battlemound erhob sich auf einem kleinen Hügel am Rande des Anar Rauch aus einem zerfallenen Schornstein. Er gehörte zu der Hütte eines alten Jägers, die aus vier splitternden Holzwänden bestand und vom Wetter und der Zeit gezeichnet war. Ihr Schindeldach war löcherig und verwahrlost, die überdachte Veranda an einem Ende war abgesackt und der Brunnen aus Stein in die tiefsten Schatten der Bäume zurückgewichen. Ein Wagen stand nahe bei der Hütte, und das Gespann von Maultieren, das ihn gezogen hatte, war an einem Halteseil am Rande der Bäume angepflockt worden. Die Männer, denen beides gehörte, waren im Innern versammelt und saßen an einem Tisch beim Essen, während einer auf den Stufen der Steinveranda Wache hielt und das Tal südlich und östlich beobachtete. Sie waren insgesamt fünf mit dem, der draußen wachte, und sie waren einfache und schmutzige Männer mit harten Gesichtern. Sie trugen Schwerter und Messer und waren mit Narben aus vielen Kämpfen gezeichnet. Wenn sie sprachen, klangen ihre Stimmen rauh und laut. Und wenn sie lachten, fehlte ihnen jede Fröhlichkeit.

Sie schauten nicht zu Damson Rhee und Matty Roh hinüber und verhielten sich auch nicht wie jemand, der Grund gehabt hätte, sich sehr genau umzusehen.

Die Frauen kauerten an einer Stelle im Westen, an der Gebüsch ihre Bewegungen abschirmte, und sahen einander an.

»Seid Ihr sicher?« fragte die größere Frau leise.

Damson nickte. »Er ist dort, dort drinnen.«

Sie wurden still, als fehlten ihnen die Worte, um die Unterhaltung weiterzuführen. Sie waren dem Trupp gefolgt, seit sie auf die Wagenspuren getroffen waren, während sie südlich des Regenbogensees dem Skree folgten. Drei Tage zuvor hatten sie den See überquert, waren unmittelbar vor dem herannahenden Unwetter aus der Mündung des Mermidon herausgesegelt, nachdem sie Morgan Leah verlassen hatten. Die Winde, die dem Sturm vorwegliefen, hatten sie sanft über den See getrieben, und das Unwetter selbst hatte sie erst erwischt, als sie schon fast das andere Ufer erreicht hatten. Doch dann waren sie abgetrieben und so stark herumgestoßen worden, daß sie östlich des Nebelsumpfes gekentert und gezwungen gewesen waren, an Land zu schwimmen. Sie waren mit dem größten Teil ihrer Vorräte im Schlepptau, vollgesogen und erschöpft, davongekommen und hatten die Nacht in einem Eschenhain verbracht, der nur wenig Schutz vor der Feuchtigkeit gewährt hatte. Sie waren von dort gen Süden gezogen, angetrieben von dem Licht des Skree und auf der Suche nach einem Zeichen von Par Ohmsford. Es war keines zu finden gewesen, bis auf die Wagenspuren und jetzt auch die Männer, die sie hinterlassen hatten.

»Es gefällt mir nicht«, sagte Matty Roh leise.

Damson Rhee nahm die abgebrochene Hälfte des Skree hervor, legte sie in ihre gewölbte Hand und hielt sie der Hütte entgegen. Sie brannte hell und stetig wie kupfernes Feuer. Damson sah Matty an. »Er ist dort.«

Die andere nickte. Ihre Kleidung war zerknittert und von Dornengestrüpp und Felsen zerrissen. Sie hatten sie gewaschen, aber das hatte nur den Schmutz beseitigt, nicht ihr Aussehen verbessert. Mattys jungenhaftes Gesicht war sonnengebräunt und schweißgebadet, und ihre Stirn war gefurcht, während sie nachdenklich den glühenden Metallhalbmond betrachtete.

»Wir werden uns das näher ansehen müssen«, sagte sie. »Wenn es dunkel geworden ist.«

Damson nickte. Ihr rotes Haar war geflochten und wurde mit einem Band aus der Stirn zurückgehalten. Ihre Kleidung war jedoch ein Spiegel von Mattys Kleidung. Sie war müde und hungerte nach einer warmen Mahlzeit und brauchte ein Bad, aber sie wußte, daß sie im Moment ohne alles auskommen mußte.

Sie gingen zurück zu der Stelle, an der sie ihre Ausrüstung zurückgelassen hatten, und ließen sich dort nieder, um etwas Obst und Käse zu essen und etwas Wasser zu trinken. Sie schwiegen beide, während das Mahl eingenommen wurde und die Schatten sich verlängerten. Dunkelheit schloß sich um sie herum, der Mond und die Sterne kamen hervor, und die Luft kühlte so sehr ab, daß sie beinahe erträglich wurde. Sie waren sehr verschieden, diese beiden Frauen. Damson war leidenschaftlich und den Menschen zugewandt und sich dessen, was sie wollte, sehr sicher. Matty war kühl und zurückhaltend und glaubte daran, daß man nichts als erwiesen ansehen konnte. Über ihre gemeinsame Unternehmung hinaus verband sie eiserne Entschlossenheit, die im jahrelangen Überlebenskampf im Dienst der Geächteten geschmiedet worden war. Diese drei Tage gemeinsamer Suche nach Par Ohmsford hatten gegenseitigen Respekt bewirkt. Sie hatten wenig voneinander gewußt, als sie aufgebrochen waren, und in Wahrheit wußten sie auch jetzt nicht viel mehr. Aber was sie wußten, war ausreichend, daß beide überzeugt waren, daß sie sich auf die andere verlassen konnten, wenn es nötig würde.

»Damson.« Matty Roh sprach plötzlich ihren Namen aus. »Kennt Ihr das Gefühl, wenn man sich plötzlich mitten in einer Geschichte wiederfindet und sich fragt, wie das geschehen ist?« Sie schien fast bestürzt. »Genau so fühle ich mich gerade jetzt. Ich bin hier, aber ich bin mir nicht sicher, warum das so ist.«

Damson rückte nah heran. »Wünscht Ihr, irgendwo anders zu sein?«

»Ich weiß es nicht. Nein, ich glaube nicht.« Sie schürzte die Lippen. »Aber ich bin verwirrt darüber, was ich hier tue. Ich weiß, warum ich gekommen bin, aber ich verstehe nicht, warum ich beschlossen habe, das zu tun.«

»Vielleicht ist der Grund ja gar nicht wichtig. Vielleicht ist es nur wichtig, daß wir hier sind.«

Matty schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«

»Vielleicht ist es gar nicht so schwierig, das herauszufinden. Ich bin wegen Par hier. Weil ich ihm versprochen habe, daß ich kommen würde.«

»Weil Ihr ihn liebt.«

»Ja.«

»Ich kenne ihn nicht einmal.«

»Aber Ihr kennt Morgan.«

Matty seufzte. »Ich kenne ihn besser, als er sich selbst kennt. Aber ich liebe ihn nicht.« Sie hielt inne. »Ich glaube es jedenfalls nicht.« Sie schaute fort, denn sie war von diesem Eingeständnis beunruhigt. »Ich bin hierhergekommen, weil ich es satt hatte, nur herumzusitzen. So habe ich es dem Hochländer erklärt. Es war ja auch wahr. Aber ich bin noch aus einem anderen Grund hierhergekommen. Ich weiß nur nicht, was es ist.«

»Ich denke, Morgan Leah könnte der Grund sein.«

»Das ist er nicht!«

»Ich glaube, Ihr braucht ihn.«

»Ich brauche ihn?« fragte Matty ungläubig. »Es ist eher umgekehrt, glaubt Ihr nicht? Er braucht mich!«

»Das auch. Ihr braucht einander. Ich habe Euch beobachtet, Matty – Euch und Morgan. Ich habe gesehen, wie Ihr ihn anschaut, wenn er es nicht sieht. Ich habe gesehen, wie er Euch anschaut. Da ist mehr zwischen Euch, als Ihr wahrhaben wollt.«

Die große Frau schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Ihr sorgt Euch um ihn, nicht wahr?«

»Das ist nicht dasselbe. Das ist etwas anderes.«

Damson betrachtete sie, ohne etwas zu sagen. Mattys Blick war auf irgendeinen Punkt in dem Raum zwischen ihnen fixiert, und ihre kobaltblauen Augen schimmerten unergründlich und ruhig. Sie sah etwas, was niemand sonst sehen konnte.

Als sie wieder aufschaute, war ihr Blick leer und traurig. »Er liebt noch immer Quickening.«

Damson nickte bedächtig. »Das vermute ich auch.«

»Er wird sie immer lieben.«

»Vielleicht, Matty. Aber Quickening ist tot.«

»Das ist unwichtig. Habt Ihr gehört, wie er von ihr spricht? Sie war wunderschön und zauberhaft, und sie liebte ihn auch.« Die blauen Augen blinzelten. »Es ist zu schwer, dagegen antreten zu müssen.«

»Das müßt Ihr auch nicht. Das ist nicht nötig.«

»Es ist nötig.«

»Er wird sie rechtzeitig vergessen. Er wird nichts dagegen tun können.«

»Nein, das wird er nicht. Niemals. Das wird er sich nicht erlauben.«

Damson seufzte und schaute fort. Die Nacht lag in stiller Erwartung tief und ruhig um sie herum. »Er braucht Euch«, flüsterte sie schließlich und wußte nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Sie schaute wieder zu Matty hin. »Quickening ist fort, Matty, und Morgan Leah braucht Euch.«

Sie sahen einander in der Dunkelheit an, maßen den Sinn dieser Worte und wogen ihre Kraft. Keine von beiden sprach. Dann erhob sich Matty plötzlich und schaute über das Grasland zurück zu der Hütte. »Wir sollten hinabgehen und einen Blick darauf werfen.«

»Ich werde gehen.« Damson stand mit ihr auf. »Ihr wartet hier.«

Matty ergriff ihren Arm. »Warum nicht ich?«

»Weil ich weiß, wie Par aussieht, und Ihr nicht.«

»Dann sollten wir beide gehen.«

»Und uns beide in Gefahr begeben?« Damson hielt dem Blick der anderen stand. »Ihr wißt es doch besser!«

Matty sah sie einen Moment lang abwehrend an und ließ ihren Arm dann los. »Ihr habt recht. Ich werde hier warten. Aber seid vorsichtig.«

Damson lächelte, wandte sich um und glitt in die Dunkelheit. Sie gelangte leicht hinab, bis sie sich nördlich der Hütte befand. Lampenlicht brannte und warf von innen einen gelblichen Schimmer durch die vorhanglosen Fenster und die geöffnete Vordertür. Sie hielt inne und dachte nach. Der Klang von Männerstimmen kam von drinnen, aber das rote Glühen eines Pfeifenkopfes und der Geruch nach Tabak warnten sie, daß der Wächter noch immer die Verandatreppe besetzt hielt. Sie beobachtete die dunklen Umrisse der Maultiere, die sich an ihrem Halteseil neben der Hüttenwand bewegten, und hörte dann das Geräusch zerspringender Gläser und Fluchen von innen. Die Männer tranken und stritten.

Sie ging weiter bis zum Wald und hinten um die Hütte herum, da sie sich von der Südseite aus nähern wollte, denn wenn sie von Norden herankam, würden die Tiere sie verraten. Wolken glitten wie Fabelwesen über sie hinweg und veränderten die Helligkeit des Lichts, während sie über den Mond und die Sterne hinwegzogen. Damson schlich in den Schatten unter den Bäumen entlang und näherte sich vorsichtig, obwohl die Stimmen und das Gelächter andere Geräusche sicherlich verschlucken würden. Als sie sich hinter der Hütte befand, verließ sie den Schutz der Bäume und eilte zur Rückwand hinüber. Sie ging dann daran entlang und richtete ihren Blick auf das Südfenster. Inzwischen konnte sie die Stimmen deutlich hören und konnte Verärgerung und Drohungen herausspüren. Harte Männer waren es, und sie durfte sie nicht unterschätzen.

Sie schlich geduckt zum Fenster, richtete sich vorsichtig auf und schaute hinein.

Coll Ohmsford lag an der Rückwand der muffigen, verwitterten Hütte und lauschte dem Streiten der Männer, während sie um Geld würfelten. Er war in eine Decke gewickelt und hatte sich der Wand zugedreht. Seine Hände und Füße waren zusammengebunden und an einen Ring gekettet, den die Männer in die Bretter hineingehämmert hatten. Sie hatten ihm Nahrung und Wasser gegeben und ihn dann vergessen. Was wirklich nicht schlecht war, dachte er erschöpft, wenn man ihren gegenwärtigen unerfreulichen Zustand bedachte. Das Trinken und Spielen hatte sie boshafter als sonst werden lassen, und er wollte nicht erfahren, was geschehen würde, wenn sie sich daran erinnerten, daß er da war. Er war bereits zweimal geschlagen worden, seit sie ihn gefangengenommen hatten – einmal für den Versuch zu fliehen und einmal, weil einer von ihnen über irgend etwas verärgert gewesen war und beschlossen hatte, es an ihm auszulassen. Er hatte Quetschungen und Schnitte und war überall wund, nachdem er den ganzen Tag auf dem Wagen umhergeschüttelt worden war. Jetzt wollte er einfach in Ruhe gelassen werden und schlafen.

Das Problem war allerdings, daß er unter diesen Bedingungen nicht schlafen konnte. Seine Müdigkeit und seine Schmerzen waren nicht so stark, daß sie den Lärm überlagern konnten. Er lag lauschend da und fragte sich, was er tun könnte, und dachte erneut an Flucht. Sie kamen mit dem Wagen und den Maultieren nur langsam voran, aber sie waren nur noch drei oder vier Tage von Dechtera entfernt, und wenn sie erst einmal dort waren, würde er erledigt sein. Er hatte von den Sklavenminen gehört, in denen hauptsächlich Zwerge arbeiteten. Morgan hatte die Minen beschrieben, nachdem er von Steff etwas darüber erfahren hatte. Sie wurden als Abladeplatz für Zwerge benutzt, die sich den Föderationsbesetzern widersetzt hatten, und ganz besonders auch für Mitglieder des Widerstands. Die Zwerge, die in die Minen geschickt wurden, kehrten niemals zurück. Niemand kehrte jemals zurück. Morgan hatte ihm von Gerüchten erzählt, daß Südländer zum Arbeiten in die Minen gesandt worden waren, aber bis jetzt hatte Coll das nicht für möglich gehalten.

Er starrte die gespaltenen und zersplitterten Wandbretter an und dachte, daß es ihm wohl bestimmt war, viele Wahrheiten auf die harte Art zu erfahren.

Er atmete tief ein und atmete langsam und abgespannt wieder aus. Die Zeit wurde knapp, und das Glück hatte ihn schon lange verlassen. Er war in einer besseren Verfassung, als zu erwarten gewesen wäre, denn seine Übungen mit Ulfkingroh in der Südwache hatten ihn durch das Schlimmste hindurchgebracht. Aber das war jetzt nur ein geringer Trost, so angekettet wie er war. Er hatte keine Hoffnung, ohne Schlüssel von seinen Ketten befreit zu werden. Zwar hatte er versucht, die Schlösser zu zerstören, aber sie waren schwer und stark. Er hatte auch schon versucht, seine Wärter davon zu überzeugen, sie ihm abzunehmen, damit er umhergehen könnte, aber sie hatten nur gelacht. Sein Plan, Par aus den Händen von Felsen-Dall und den Schattenwesen zu befreien, war nur noch eine schwache Erinnerung. Er war so weit davon entfernt wie von seiner Heimat im Shady Vale, und von dort war er so weit entfernt, daß er das Gefühl hatte, er würde wohl niemals dorthin zurückkehren können.

Einer der Männer trat einen Stuhl um, stand auf und verließ den Raum. Coll riskierte einen Blick aus seiner Decke heraus. Das Schwert von Shannara lag auf dem Tisch. Sie spielten darum, wer welchen Anteil daran haben sollte. Die drei am Tisch verspotteten den Hinausgehenden, ließen einander aber auch nicht aus den Augen.

Coll drehte sich wieder der Wand zu und schloß die Augen. Es half nichts, daß diese Männer keine Ahnung von dem wahren Wert des Schwertes hatten. Es half nichts, daß nur er die Magie gebrauchen konnte und daß vielleicht so vieles davon abhing, daß er es einsetzte. Im Augenblick konnte nur noch ein Wunder helfen. Er verschränkte die Hände unter der Decke und stieg zu einem dunklen Ort hinab.

Was soll ich tun?

»Ist er es?«

Mondlicht spiegelte sich auf Matty Rohs glattem Gesicht und gab ihr ein geisterhaftes Aussehen. Damson trank aus dem Wasserschlauch, den sie ihr gegeben hatte, und schaute den Weg zurück, den sie gekommen war, um sicherzugehen, daß ihr niemand gefolgt war. Aber die Nacht war ruhig und das Land leer und wie erstarrt im Sternenlicht.

»Ist er es?« wiederholte Matty aufgeregt.

Damson nickte. »Er muß es sein. Er kauerte an der Rückseite des Raumes unter einer Decke, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber das macht nichts. Das Schwert auf dem Tisch war ohne jeden Zweifel das Schwert von Shannara. Er ist es. Sie haben ihn angekettet. Es sind Sklavenhändler, Matty. Ich habe auf dem Rückweg in den Wagen geschaut, und der war voller Fesseln und Ketten.« Sie hielt inne, und ihre Miene verriet Besorgnis. »Ich weiß nicht, wie er an sie geraten ist oder wie er es zulassen konnte, daß sie ihn gefangengenommen haben, aber das hätte eigentlich nicht geschehen dürfen. Die Magie des Wunschgesangs muß diesen Männern doch entgegengetreten sein. Ich verstehe es nicht. Irgend etwas stimmt nicht.«

Matty schwieg und wartete einfach ab.

Damson gab ihr den Wasserschlauch zurück und seufzte. »Ich hätte so gern sein Gesicht gesehen. Er hat einmal aufgeschaut, nur einen Moment lang, aber es war zu dunkel, um es deutlich erkennen zu können.« Sie schüttelte den Kopf. »Sklavenhändler – mit denen kann man nicht verhandeln.«

Matty änderte die Stellung. »Verhandlungen würden solche Männer ohnehin nicht verstehen. Wir sind Frauen. Wenn sie jemals auch nur halbwegs die Chance bekommen, werden sie uns ergreifen, uns zu ihrem Vergnügen gebrauchen und uns dann die Kehlen durchschneiden. Oder sie verkaufen uns zusammen mit dem Talbewohner.« Sie schaute in die Nacht hinaus. »Wie viele habt Ihr gezählt?«

»Fünf. Vier drinnen und einen, der Wache hält. Sie trinken und würfeln und bekämpfen sich untereinander.« Sie hielt hoffnungsvoll inne. »Wenn sie schlafen, könnten wir vielleicht an ihnen vorbeischlüpfen und Par befreien.«

Matty sah sie direkt an. »Das wäre zu riskant im Dunkeln. Wir können sie nicht von uns unterscheiden, wenn es zu einem Kampf kommt. Und wenn der Talbewohner an der Wand festgekettet ist, kostet uns das zuviel Zeit und wird auch zu laut, wenn wir ihn befreien wollen. Außerdem bleiben sie vielleicht die ganze Nacht wach, so wie die Dinge liegen. Das kann man nicht wissen.«

»Laß uns doch eine Weile warten! Einen Tag oder zwei, wenn es sein muß. Früher oder später wird eine Gelegenheit kommen.«

Matty schüttelte den Kopf. »Wir haben nicht soviel Zeit. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, bis sie ihr Ziel erreichen. Vielleicht sind vor ihnen noch mehr von ihrer Sorte. Nein. Wir müssen jetzt handeln. Noch heute nacht.«

Jetzt war es an Damson, Matty anzustarren. »Noch heute nacht«, wiederholte sie kopfschüttelnd. »Wie?«

»Was glaubt Ihr wohl? Wenn sie eine Möglichkeit gefunden haben, den Talbewohner trotz seiner Magie gefangenzunehmen, sind sie zu gefährlich, als daß man mit ihnen spielen dürfte.« Matty Roh schien etwas abzuzählen. »Wenn wir schnell sind, werden sie tot sein, bevor sie wissen, was geschieht. Könnt Ihr das?«

Damson atmete tief ein. »Könnt Ihr es?«

»Folgt mir einfach und bleibt hinter mir. Gebt mir Rückendeckung. Erinnert Euch daran, wie viele es sind. Verliert das nicht aus den Augen. Wenn ich zu Boden gehe, dann verschwindet von dort.« Sie richtete sich auf. »Seid Ihr bereit?«

»Jetzt?«

»Je eher wir beginnen, desto eher werden wir fertig sein.«

Damson nickte schweigend. Sie fühlte sich von dem, was geschah, so weit entfernt, als beobachte sie es von einem anderen und günstigeren Angriffspunkt aus. »Ich habe nur ein Jagdmesser.«

»Gebraucht, was immer Ihr habt. Erinnert Euch einfach an das, was ich gesagt habe.«

Matty legte ihren Umhang ab, zog das schlanke Kampfschwert aus ihrem Gepäck hervor und band es sich auf den Rücken. Sie trug es auf dieselbe Art, wie Morgan Leah das seine trug. Sie befestigte einen Gürtel mit Wurfmessern an ihrer Taille und ließ ein breitklingiges Jagdmesser in ihren Stiefel gleiten. Damson beobachtete sie schweigend. Zwei gegen fünf, dachte sie. Aber es gab noch mehr Ungleichheiten. Diese Männer waren erfahrene Kämpfer, Meuchelmörder, die sie töten würden, ohne auch nur eine Sekunde lang zu zögern. Doch dann schob sie alle Grübeleien beiseite.

Sie verschwanden in der Nacht und glitten über das Grasland wie Geister. Damson führte Matty denselben Weg zurück, den sie zuvor gegangen war. Sie beobachteten, wie das Licht der Öllampen in der Hütte beim Näherkommen heller wurde. Die Stimmen der Männer drangen bis zu ihnen, begrüßten sie rauh und heiser. Damson konnte das Glühen der Pfeife auf der Veranda nicht mehr sehen, aber das bedeutete nicht, daß der Wächter verschwunden war. Sie betraten nördlich der Hütte den Wald, näherten sich ihr von hinten und drückten sich schließlich flach gegen die rauhe Bretterwand. Die Geräusche von innen begleiteten offenbar weiterhin Spiele und Trinken.

Sie spähten um die Südseite der Hütte herum, aber auf der Vorderseite war kein Zeichen von dem Wächter zu sehen. Matty ging jetzt voran und hielt dabei das Schwert gezückt vor sich. Gemeinsam eilten sie zu dem Fenster und warfen einen schnellen Blick hinein. Die Szene war unverändert geblieben. Der Gefangene lag noch immer an der Rückwand der Hütte in seine Decke gewickelt auf dem Boden, und vier Männer saßen noch immer an dem Tisch. Damson und Matty wechselten einen schnellen Blick und tasteten sich dann zur Vorderseite der Hütte vor. Sie erreichten die Ecke und schauten zu der abgesackten Veranda hinüber.

Der Wächter war fort.

Mattys Gesicht umwölkte sich, aber sie trat dennoch ins Licht. Mit dem Schwert in der Hand ging sie auf die geöffnete Tür zu. Damson folgte ihr, schaute nach links und nach rechts und überlegte, wo der Wächter sein konnte. Sie hatten die Tür fast erreicht, als der Mann wieder aus der Dunkelheit auftauchte. Er war vielleicht bei den Tieren gewesen und achtete jetzt bei jedem Schritt, wohin er trat, und brabbelte dazu vor sich hin. Daher bemerkte er die Frauen auch nicht, bis er die Veranda erreichte, grunzte dann überrascht und griff nach seinen Waffen. Aber Matty war schneller. Sie hob das Schwert mit ihrer linken Hand, griff mit ihrer rechten nach unten, zog eines der Wurfmesser heraus und schleuderte es auf den Mann. Die Klinge erwischte ihn in der Brust, und er fiel mit gequältem Stöhnen rückwärts von der Veranda hinab.

Dann waren sie durch die Tür hindurch und standen in der Hütte. Matty als erste und Damson hinter ihr. Der Raum war klein und verraucht und so beengt, daß es schien, als wollten sie sich einfach in den Kreis der Sklavenhändler einreihen. Damson konnte ihre Gesichter deutlich sehen, den Schweiß auf ihrer Haut und die Verärgerung und Überraschung in ihren Augen. Die Männer sprangen vom Tisch auf und rissen ihre Waffen aus Gürteln und Scheiden heraus. Schreie und Flüche erklangen, Gläser und Zinnbecher wurden umgestoßen, und Bier ergoß sich über den Boden. Matty tötete den nächststehenden Mann und wandte sich dann einem anderen zu. Der Tisch kippte um und verstreute alles im ganzen Raum. Einer der Männer wandte sich dem Gefangenen zu, aber Matty war schon zu nah, und so wandte er sich erneut um, um ihr entgegenzutreten. Ein zweiter Mann ging zu Boden, Blut strömte aus seiner Kehle, die er mit den Händen umklammerte, bis er zusammensank. Die beiden letzten Männer stürzten auf Matty Roh zu. Ihre Schwerter und Messer blitzten gefährlich im Lampenlicht, und sie zwangen sie zur Wand zurück. Damson trat fort und suchte nach einer Lücke. Jemand ergriff sie von hinten; der fünfte Mann, aus dessen Wunde das Blut rann, war durch den Eingang hereingesprungen und umklammerte sie mit seinen Fingern. Sie entwand sich ihm, da er wegen seiner Verletzung keinen festen Halt finden konnte, schob ihn dann wieder zur Tür hinaus und die Stufen hinab. Draußen schrien die Maultiere und traten erschreckt gegen die Hüttenwand.

Matty stürzte auf die Männer vor ihr zu und schlug auf sie ein. Sie kämpfte darum, nicht von zwei Seiten angegriffen zu werden, und schrie nach Damson. Eine Lampe zerbrach, Öl spritzte umher, und Flammen breiteten sich über den Boden der Hütte aus. Damson sprang dem nächststehenden Mann auf den Rücken und krallte sich in seine Augen. Er heulte vor Schmerz auf und ließ seine Waffen fallen. Dann kämpfte er mit bloßen Händen darum, sie abzuschütteln. Sie ließ los, warf sich beiseite und faßte nach ihrem Messer. Der Mann griff sie wütend an, ohne auf irgend etwas anderes zu achten, stolperte und fiel in die Flammen. Seine Kleidung fing Feuer und begann zu brennen, und er lief schreiend durch die Tür in die Nacht hinaus.

Der letzte Mann hielt noch einen Moment länger stand und rannte dann ebenfalls zur Tür hinaus. Flammen schössen jetzt die Wände hinauf, strebten den Balken zu und verschlangen hungrig das trockene Holz. Damson und Matty eilten zur Rückwand der Hütte, wo sich der Gefangene auf die Knie erhoben hatte und an dem Ring zog, der ihn an die Wand kettete. Matty schob ihn schweigend beiseite, zog das große Jagdmesser aus ihrem Stiefel und hackte und schnitt und stieß auf die Wand ein, bis der Ring herausbrach. Dann eilten sie auf die Hüttentür zu, während die Flammen überall um sie herum hochschlugen und die Hitze ihr Haar und ihre Haut versengte. Sie waren fast hinausgelangt, als sich der Gefangene ihnen entwand und zurücklief. Seine Ketten schleppten über den Boden, als er in den Rauch und das Feuer zurückeilte und den Schutt auf dem Boden absuchte, bis er mit dem Schwert von Shannara wieder herauskam.

Erst als sie alle draußen waren, nach Luft rangen und Rauch und Staub aushusteten, während die Hütte hinter ihnen abbrannte, erkannte Damson, daß es nicht Par Ohmsford war, den sie befreit hatten, sondern sein Bruder Coll. Sie nahmen sich gerade lang genug Zeit, um die Fesseln von Colls Handgelenken und Knöcheln zu lösen, warfen ängstliche Blicke über ihre Schultern in die Nacht und glitten dann schnell davon. Die rauchende Ruine der Hütte, den leeren Wagen und die Körper der Toten ließen sie zurück. Die Maultiere waren schon längst davongelaufen, die beiden übrigen Sklavenhändler waren mit ihnen verschwunden, und das Land war bar allen Lebens. Coll und die Frauen rochen nach Feuer und Asche, ihre Augen tränten von dem Rauch, und sie waren mit dem Blut der Männer beschmiert, die sie getötet hatten. Matty hatte mehrere leichtere Verletzungen erlitten, und Damson hatte Kratzer im Gesicht, aber beide waren ohne ernsthaften Schaden davongekommen. Coll Ohmsford ging wie ein Mann, dessen Beine gebrochen waren.

Im Schutz der Bäume, unter denen sie ihre Ausrüstung zurückgelassen hatten, säuberten sie sich, so gut es ging, aßen etwas, tranken ein wenig Wasser und versuchten herauszufinden, was geschehen war. Sie entdeckten ziemlich schnell, daß Coll die andere Hälfte des Skree trug, die Hälfte, die er Par gestohlen hatte, als er noch unter dem Einfluß des Spiegeltuchs stand, und das erklärte, warum Damson und Matty geglaubt hatten, sie würden Par folgen. Es erklärte aber noch nicht, warum das Skree in zwei Richtungen aufgeleuchtet hatte, als Damson es an der Südwache geprüft hatte, obwohl sie, nachdem sie Colls Geschichte über sich und seinen Bruder gehört hatte, annehmen konnte, daß Pars Magie die Scheibe in irgendeiner Weise beeinflußt hatte. Pars Magie schien fast alles zu beeinflussen, mit dem sie in Berührung kam, bemerkte Coll. Irgend etwas geschah mit seinem Bruder, und wenn sie nicht bald zu ihm gelangten und vernichteten, was auch immer an ihm zerrte, würden sie ihn verlieren. Coll konnte Damson und Matty nicht erklären, warum das so war, aber er war davon überzeugt. Als er die Magie des Schwertes von Shannara ausgelöst hatte, war die Wahrheit über verschiedene Dinge offenbart worden, die zuvor vor ihm verborgen waren, und dies war eine davon.

Es gab keinerlei Diskussion darüber, was sie als nächstes zu tun hatten. Sie hatten ein gemeinsames Ziel, sogar Matty Roh. Sie packten ihre Ausrüstung zusammen und brachen erneut gen Norden auf, strebten über das Grasland hinweg dem Regenbogensee und dem Land jenseits des Sees zu und bereiteten sich auf eine Konfrontation mit den Schattenwesen und Felsen-Dall vor. Morgan Leah würde dort auf sie warten, und mit ihm zusammen wollten sie eine weitere Befreiungsaktion versuchen. Sie würden vier sein, wenn es an der Zeit wäre, ihren Feinden entgegenzutreten, und hatten Unterstützung von ihren Talismanen und ihren geringfügigen Magien, von ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit und von wenig mehr. Was sie vorhatten, war mehr als nur ein wenig verrückt, aber sie hatten die Vernunft schon vor langer Zeit zurückgelassen. Sie nahmen es hin, daß sie sich wieder einem neuen Tag im Osten näherten, dessen schwaches Schimmern den verdunkelten Horizont mit goldenen Streifen überzog. Sie nahmen es hin, daß sie jenen Weg beschritten, auf dem die unterschiedlichsten Richtungen ihres Lebens sie zu einer Kreuzung geführt hatten, von der ab sie ein gemeinsames Schicksal teilen würden. Es gab Unausweichlichkeiten im Leben, die man nicht ändern konnte, wie sie wußten, und dies war sicherlich eine davon.

Sie hofften, während jeder von ihnen schweigend dieselben Gedanken wälzte, daß diese besondere Unausweichlichkeit zu etwas Gutem führen würde. Morgan Leah hatte kaum Zeit, nach Luft zu schnappen.

Der Angriff war so schnell und unerwartet gekommen, daß er am Boden war, bevor er auch nur daran denken konnte, sich zu wehren. Die Hand war noch immer fest auf seinen Mund gepreßt, während eine Gestalt in einem dunklen Umhang sich anstrengte, ihn festzuhalten. Er hatte sein Schwert verloren und damit den einzigen Gegenstand, der ihm hätte helfen können, und er war so erstaunt darüber, daß er unvorbereitet erwischt worden war, daß er in der Art eines kleinen Tieres, das in einer Falle gefangen wird, erstarrte, obwohl sein Geist ihm zuschrie, er müsse sich bewegen. Seine Kehle verengte sich, und er hörte auf zu atmen. Er wußte, daß er tot war.

Ein großes, pelziges Gesicht schob sich nah an seines heran, als wollte es neugierig ergründen, welche Art Lebewesen er sein könnte, und die leuchtenden gelben Augen einer Moorkatze blinzelten zu ihm herab.

»Ruhig, Hochländer«, flüsterte eine vertraute Stimme sanft und tröstlich in sein Ohr. »Du bist in Sicherheit. Ich bin es nur.«

Die Hand wurde fortgenommen, und Morgan sog schnell und unregelmäßig die Luft ein. Er spürte, wie sich die Verspannungen in seinem Körper lösten und die Kälte aus seinem Magen verschwand. »Still jetzt«, flüsterte die Stimme. »Sie sind noch immer in der Nähe.«

Dann verschwand das Katzengesicht, und er erkannte Walker Boh.

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