Kapitel 12

Puzzleteile, die sich ineinander fügen

Gegen Ende dieses Sommers hörte ich zufällig ein Gespräch mit an, das mich aus meinem Zustand seliger Unwissenheit riss. Solange wir Kinder sind, denken wir nur selten an die Zukunft. Diese Unschuld ermöglicht es uns, uns zu vergnügen, wie nur wenige Erwachsene das können. Der Tag, an dem wir beginnen, uns Gedanken über die Zukunft zu machen, ist der Tag, an dem wir unsere Kindheit hinter uns lassen.

Es war Abend, und die Truppe hatte am Straßenrand ihr Lager aufgeschlagen. Abenthy hatte mir ein neues Teilstück der Sympathie zum Üben aufgegeben: Die Maxime von der wechselnden Wärme und der beständigen Bewegung – oder etwas Anspruchsvolles in dieser Art.

Es war verzwickt, aber dann hatte es sich doch wie passende Puzzleteile ineinander gefügt. Ich brauchte knapp eine Viertelstunde dafür, und Abenthys Ton nach hatte er damit gerechnet, dass es mich mindestens drei oder vier Stunden kosten würde.

Also ging ich ihn suchen. Zum einen, um mir meine nächste Lektion abzuholen, und zum anderen, damit ich mich ein klein wenig selbstgefällig aufführen konnte.

Ich fand ihn beim Wagen meiner Eltern. Ich hörte die drei, lange bevor ich sie sah. Ihre Stimmen waren nur ein Gemurmel, die ferne Musik, zu der ein Gespräch wird, wenn man kein einzelnes Wort versteht. Als ich jedoch näher kam, hörte ich ein Wort klar und deutlich: Chandrian.

Als ich das hörte, blieb ich stehen. Jeder in der Truppe wusste, dass mein Vater an einem Lied arbeitete. Seit über einem Jahr hatte er überall, wo wir auftraten, den Leuten alte Geschichten und Weisen entlockt.

Monatelang waren es Geschichten über Lanre gewesen. Dann hatte er begonnen, auch alte Märchen zu sammeln, Sagen über Schreckgespenster und Butzemänner. Und schließlich fing er an, Fragen über die Chandrian zu stellen …

Das lag nun schon einige Monate zurück. Im Laufe des vergangenen halben Jahres hatte er sich immer häufiger nach den Chandrian erkundigt und immer seltener nach Lanre, Lyra und den anderen. Die meisten Lieder meines Vaters waren nach einer Saison fertig geschrieben, die Arbeit an diesem aber ging nun schon ins zweite Jahr.

Ihr solltet außerdem wissen, dass mein Vater, solange ein Lied nicht fertig war, keinen Ton daraus nach draußen dringen ließ. Einzig und allein meine Mutter zog er ins Vertrauen, denn sie hatte bei jedem Lied, das er schrieb, ihre Hand im Spiel. Die brillante Musik kam von ihm, die besten Texte stammten von ihr.

Wenn man einige Spannen oder Monate darauf wartet, ein endlich fertig gestelltes Lied zu hören, kann man die Vorfreude noch genießen. Nach anderthalb Jahren jedoch waren die meisten in der Truppe förmlich verrückt vor Neugier. Das führte hin und wieder zu harten Worten, wenn jemand dabei erwischt wurde, wie er unserem Wagen zu nahe kam, während meine Eltern drinnen an dem Lied arbeiteten.

Ich schlich mich jedenfalls näher ans Lagerfeuer meiner Eltern heran. Heimliches Lauschen ist eine beklagenswerte Angewohnheit, aber ich habe seither noch üblere angenommen.

»… nicht allzu viel darüber«, hörte ich Ben sagen. »Aber wo ich kann, helfe ich gern.«

»Es freut mich, dass ich mal mit einem gebildeten Mann über dieses Thema sprechen kann.« Der kräftige Bariton meines Vaters bildete einen Kontrast zu Bens Tenor. »Ich habe diese abergläubische Landbevölkerung so satt, und …«

Jemand legte Holz ins Feuer, und das darauf folgende Knacken übertönte kurz die Stimme meines Vaters. So schnell ich es nur wagte, huschte ich in den langen Schatten des Wagens meiner Eltern.

»… die Arbeit an diesem Lied gleicht dem Versuch, Gespenster zu erhaschen. Der Versuch, diese Geschichte zu rekonstruieren, ist der reine Irrwitz. Hätte ich doch bloß niemals damit angefangen.«

»Ach was«, sagte meine Mutter. »Es ist dein bestes Werk, und das weißt du auch.«

»Dann glaubt Ihr also, dass es eine ursprüngliche Geschichte gibt, auf die alle anderen Geschichten zurückgehen?«, fragte Ben. »Eine historische Grundlage für Lanre?«

»Es deutet alles darauf hin«, sagte mein Vater. »Es ist, als würde man zwölf Enkelkinder betrachten und sehen, dass zehn von ihnen blaue Augen haben. Da weiß man dann, dass die Großmutter auch blaue Augen hatte. Ich habe so etwas schon einmal gemacht, ich beherrsche das. Unter den Mauern habe ich auf die gleiche Weise geschrieben. Aber …« Ich hörte ihn seufzen.

»Was ist denn dann das Problem?«

»Die Geschichte ist älter«, erklärte meine Mutter. »Es ist eher, als würde man Ururenkel betrachten.«

»Ja, und als wären sie in alle vier Winde verstreut«, fügte mein Vater hinzu. »Und wenn ich endlich eins dieser Kinder gefunden habe, hat es fünf Augen: zwei grüne, ein hellgrünes, ein blaues und ein braunes. Das nächste Kind hat dann nur ein Auge, das aber seine Farbe zu ändern vermag. Wie soll ich denn daraus irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen?«

Ben räusperte sich. »Eine beunruhigende Analogie«, sagte er. »Aber Ihr dürft Euch gerne mein Wissen über die Chandrian zunutze machen. Im Laufe der Jahre habe ich eine Menge Geschichten über sie gehört.«

»Zuallererst muss ich wissen, wie viele es überhaupt sind«, sagte mein Vater. »In den meisten Geschichten heißt es, es seien sieben, aber selbst dazu gibt es widersprüchliche Angaben. Manche sagen, es seien drei, andere fünf, und in Feliors Fall sind es gar dreizehn – einer für jeden Pontifet in Atur und dann noch einer zusätzlich für die Hauptstadt.«

»Das kann ich beantworten«, sagte Ben. »Es sind sieben. Da könnt Ihr Euch sicher sein. Es steckt nämlich schon in ihrem Namen. Chaen bedeutet ›sieben‹. Chaen-dian bedeutet ›Die Sieben‹. Chandrian.«

»Das wusste ich nicht«, sagte mein Vater. »Chaen. Was ist denn das für eine Sprache? Yllisch?«

»Klingt nach Tema«, sagte meine Mutter.

»Ihr habt ein gutes Ohr«, sagte Ben. »Es ist Temisch. Gut tausend Jahre älter als Tema.«

»Na, das macht es doch schon mal viel einfacher«, hörte ich meinen Vater sagen. »Hätte ich Euch doch bloß schon vor einem Monat gefragt. Ich nehme nicht an, dass Ihr wisst, warum sie tun, was sie tun?« Am Tonfall meines Vaters hörte ich, dass er darauf keine Antwort erwartete.

»Das ist das große Rätsel, nicht wahr?«, sagte Ben. »Ich glaube, deshalb sind sie viel furchterregender als die anderen Schreckgespenster, von denen man in Geschichten hört. Ein Geist will Vergeltung, ein Dämon will deine Seele, und ein Butzemann ist hungrig und durchgefroren. Das nimmt ihnen etwas von ihrem Schrecken. Dinge, die wir nachvollziehen können, können wir auch versuchen zu beherrschen. Die Chandrian aber kommen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Reine Zerstörung. Ohne Sinn und Verstand.«

»In meinem Lied kommt beides zu seinem Recht«, sagte mein Vater mit grimmiger Entschlossenheit. »Ich glaube, ich habe nun letztlich doch herausgefunden, was ihre Beweggründe sind. Ich habe es aus vielen kleinen Einzelheiten herausgepusselt. Das ist ja so ärgerlich daran: Das Schwierige habe ich bereits erledigt, und jetzt bereiten mir diese ganzen Einzelheiten solche Probleme.«

»Ihr glaubt, Ihr wisst es?«, fragte Ben neugierig. »Wie sieht Eure Theorie denn aus?«

Mein Vater lachte leise. »Oh nein, Ben, da müsst Ihr wie alle anderen auch noch warten. Ich habe zu lange an diesem Lied gefeilt, um den Kern zu verraten, ehe es richtig fertig ist.«

Bens Stimme klang enttäuscht. »Das ist doch alles nur eine ausgeklügelte List, die mich dazu bringen soll, auch weiterhin mit Euch zu reisen«, murrte er. »Jetzt kann ich Euch erst wieder verlassen, wenn ich das verdammte Ding gehört habe.«

»Dann helft uns doch, es fertig zu stellen«, sagte meine Mutter. »Die Zeichen der Chandrian sind ein weiteres Schlüsselelement, über das sich die Gelehrten streiten. Man ist sich allgemein einig, dass es Zeichen gibt, die vor ihrer Anwesenheit warnen, aber welche das sind, darüber ist man sich nicht einig.«

»Lasst mich mal nachdenken …«, sagte Ben. »Die blauen Flammen sind natürlich klar. Aber ich hätte Bedenken, sie ausschließlich den Chandrian zuzuschreiben. In manchen Geschichten sind sie ein Zeichen für Dämonen, in anderen für Magie im Allgemeinen.«

»Sie zeigen auch in Bergwerken schlechte Luft an«, sagte meine Mutter.

»Tatsächlich?«, fragte mein Vater.

Meine Mutter nickte. »Wenn eine Lampe bläulich brennt, weiß man, dass Grubengas in der Luft liegt.«

»Ach du lieber Himmel! Grubengas?«, sagte mein Vater. »Entweder man löscht das Licht und verläuft sich in der Dunkelheit, oder man lässt es brennen und jagt den ganzen Laden in die Luft. Das ist furchterregender als jeder Dämon.«

»Ich gebe auch zu, dass manche meiner Kollegen gelegentlich präparierte Kerzen oder Fackeln verwenden, um damit leichtgläubige Leute zu beeindrucken«, sagte Ben und räusperte sich verlegen.

Meine Mutter lachte. »Bedenkt, mit wem Ihr sprecht, Ben. Ein wenig Effekthascherei werden wir niemandem verübeln. Ja, blaue Kerzen wären genau das richtige, wenn wir das nächste Mal Daeonica aufführen. Das heißt, falls Ihr noch irgendwo ein paar davon auftreiben könntet.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Ben in belustigtem Tonfall. »Sonstige Anzeichen … Einer von ihnen soll Augen wie ein Ziegenbock haben – oder gar keine Augen – oder schwarze Augen. Das habe ich schon einige Male gehört. Ich habe auch gehört, dass Pflanzen eingehen, wenn die Chandrian in der Nähe sind. Holz vermodert, Metall rostet, Ziegelsteine zerbröckeln …« Er hielt inne. »Ich weiß bloß nicht, ob dies unterschiedliche Zeichen sind oder ein und dasselbe.«

»Da seht Ihr mal, in was für Schwierigkeiten ich stecke«, sagte mein Vater verdrießlich. »Und hinzu kommt ja noch die Frage, ob sie alle die gleichen Zeichen führen oder jeder von ihnen eigene.«

»Ich habe es dir doch gesagt«, sagte meine Mutter. »Jeder von ihnen hat ein eigenes Zeichen. Das ist die sinnvollste Erklärung.«

»Die Lieblingstheorie meiner lieben Frau«, sagte mein Vater. »Aber das passt nicht. In manchen Geschichten sind die blauen Flammen das einzige Zeichen. In anderen werden Tiere wild, und es gibt keine blauen Flammen. In wieder anderen kommt ein Mann mit schwarzen Augen vor und werden Tiere wild und gibt es blaue Flammen.«

»Ich habe dir doch erklärt, wie das einen Sinn ergibt«, entgegnete meine Mutter. Ihr gereizter Tonfall ließ erkennen, dass sie schon einige Male über dieses Thema debattiert hatten. »Sie müssen nicht immer alle zusammen sein. Sie könnten auch zu dritt oder viert losziehen. Und wenn einer von ihnen das Feuer dämpft, sieht es so aus, als würden sie alle das Feuer dämpfen. Das würde die Unterschiede der Geschichten erklären. Eine unterschiedliche Anzahl und unterschiedliche Zeichen, je nach dem, wie viele von ihnen es jeweils sind.«

Mein Vater brummelte etwas.

»Ihr habt wirklich eine kluge Frau, Arl«, meldete sich Ben zu Wort und löste damit die Anspannung, die in der Luft lag. »Für wieviel würdet Ihr sie mir verkaufen?«

»Ich brauche sie leider für meine Arbeit, aber wenn Ihr an einem befristeten Mietverhältnis interessiert wärt, könnten wir sicherlich schnell –« Ein kräftiger Schlag, gefolgt von einem leicht schmerzhaften Glucksen des Baritons meines Vaters. »Kommen Euch noch irgendwelche anderen Merkmale in den Sinn?«

»Sie sind angeblich ganz kalt, wenn man sie anfasst. Ich weiß allerdings nicht, wie irgendjemand das herausgefunden haben will. Außerdem habe ich gehört, dass Feuer nicht brennen, wenn sie in der Nähe sind. Das würde allerdings den Geschichten mit den blauen Flammen widersprechen. Es könnte –«

Der Wind frischte auf, und es rauschte in den Bäumen. Das übertönte Bens Stimme. Ich nutzte die Gelegenheit und schlich mich ein paar Schritte näher heran.

»… ›in den Schatten gespannt‹, was auch immer das bedeuten mag«, hörte ich meinen Vater sagen, als sich der Wind wieder legte.

Ben seufzte. »Das weiß ich auch nicht. Ich habe einmal eine Geschichte gehört, in der sie sich damit verrieten, dass ihre Schatten in die falsche Richtung wiesen, zum Licht hin. Und in einer anderen Geschichte wurde einer von ihnen als ›Umschatteter‹ bezeichnet. Es war ›Soundso der Umschattete.‹ Ich kann mich aber leider nicht mehr an den Namen erinnern …«

»Apropos Namen: Das ist auch so ein Punkt, der mir Schwierigkeiten bereitet«, sagte mein Vater. »Ich habe einige Dutzend gesammelt, und ich würde gerne Eure Meinung dazu hören. Der –«

»Arl«, unterbrach ihn Ben. »Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr sie nicht laut aussprechen würdet. Die Namen, meine ich. Wenn Ihr mögt, könnt Ihr sie in die Erde schreiben, oder ich könnte schnell eine Schiefertafel holen, aber mir wäre wohler, wenn Ihr sie nicht aussprechen würdet. Ihr wisst ja: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«

Tiefes Schweigen folgte. Ich hielt mitten im Schritt inne, nur einen Fuß auf dem Boden, weil ich fürchtete, sie hätten mich gehört.

»Jetzt schaut mich bitte nicht so an«, sagte Ben gereizt.

»Wir sind nur erstaunt, Ben«, erwiderte die sanfte Stimme meiner Mutter. »Ihr wirkt sonst gar nicht so abergläubisch.«

»Das bin ich auch nicht«, sagte Ben. »Ich bin nur vorsichtig. Das ist etwas anderes.«

»Natürlich«, sagte mein Vater. »Ich würde niemals –«

»Hebt Euch das für Eure zahlende Kundschaft auf, Arl«, schnitt Ben ihm das Wort ab. Er klang nun deutlich gereizt. »Ihr seid ein zu guter Schauspieler, um es Euch anmerken zu lassen, aber ich merke ganz genau, wenn mich jemand für einen Dummkopf hält.«

»Ich habe das bloß nicht erwartet, Ben«, sagte mein Vater entschuldigend. »Ihr seid ein gebildeter Mann, und ich bin die Leute so leid, die ein Stück Eisen berühren oder ihr Bier auskippen, sobald ich auf die Chandrian zu sprechen komme. Ich rekonstruiere hier lediglich eine Geschichte – ich dilettiere nicht etwa in den dunklen Künsten.«

»Lasst mich ausreden. Ihr seid mir beide zu lieb, als dass ich zulassen würde, dass Ihr mich für einen alten Narren haltet«, sagte Ben. »Und außerdem habe ich nachher noch etwas mit Euch zu besprechen, und dafür ist es erforderlich, dass Ihr mich ernst nehmt.«

Der Wind frischte wieder auf, und ich nutzte das Rauschen dazu, ein paar Schritte zu machen. Ich bog um die Ecke des elterlichen Wagens und spähte nun durch einen Laubvorhang. Die drei saßen rund um das Lagerfeuer. Ben hockte in seinem abgetragenen braunen Umhang auf einem Baumstumpf. Meine Eltern saßen ihm gegenüber. Meine Mutter lehnte sich an meinen Vater, und beide hatten sich in eine Decke gehüllt.

Ben goss aus einem Tonkrug etwas in einen Lederbecher und reichte ihn meiner Mutter. Dann ergriff er wieder das Wort, und sein Atem dampfte. »Wie steht man denn in Atur zu Dämonen?«, fragte er.

»Man fürchtet sie.« Mein Vater pochte sich mit einer Fingerspitze an die Stirn. »Dieses ewige Geglaube führt zu Hirnerweichung.«

»Und in Vintas?«, fragte Ben. »Da gibt es doch auch viele Tehlaner. Ist es dort genauso?«

Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Dort findet man das ein wenig dumm. Man spricht dort eher metaphorisch von Dämonen.«

»Und wovor fürchtet man sich des Nachts in Vintas?«

»Vor den Fae«, sagte meine Mutter.

»Draugar«, sagte mein Vater gleichzeitig.

»Ihr habt beide recht, je nachdem, in welchem Landesteil man sich befindet«, sagte Ben. »Und hier im Commonwealth lacht man sich über beides ins Fäustchen.« Er wies auf die umstehenden Bäume. »Hier aber sind die Leute, wenn der Herbst kommt, sehr vorsichtig, aus Furcht, die Aufmerksamkeit der Butzemänner zu erregen.«

»So ist das nun mal«, sagte mein Vater. »Und eine gute Schauspieltruppe muss immer wissen, wohin ihr Publikum jeweils tendiert.«

»Ihr haltet mich doch immer noch für plemplem«, sagte Ben belustigt. »Hört mal, wenn wir morgen nach Biren kämen, und jemand dort würde Euch erzählen, dass es in den Wäldern Butzemänner gibt, würdet Ihr das glauben?« Mein Vater schüttelte den Kopf. »Und wenn zwei Leute es Euch erzählen würden?« Erneutes Kopfschütteln.

Ben beugte sich auf seinem Baumstumpf vor. »Und wenn ein Dutzend Leute Euch vollkommen ernsthaft erzählen würden, dass draußen auf den Feldern Butzemänner seien, und die fräßen –«

»Natürlich würde ich ihnen nicht glauben«, sagte mein Vater gereizt. »Das ist doch lächerlich.«

»Natürlich ist es das«, pflichtete Ben bei und hob einen Zeigefinger. »Aber die eigentliche Frage ist doch: Würdet Ihr in den Wald gehen?«

Mein Vater saß einen Moment lang ganz still und nachdenklich da.

Ben nickte. »Ihr wäret ein Narr, wenn Ihr die Warnungen der halben Stadt in den Wind schlagen würdet, auch wenn Ihr nicht an die gleichen Dinge glaubt wie sie. Wovor habt Ihr denn Angst, wenn nicht vor Butzemännern?«

»Vor Bären.«

»Und Banditen.«

»Das sind gute, vernünftige Ängste für einen fahrenden Schauspieler«, sagte Ben. »Ängste, mit denen Städter nichts anzufangen wissen. Jeder Ort hat seinen eigenen kleinen Aberglauben, und jeder lacht über das, woran die Leute am anderen Ufer des Flusses glauben.« Dann sah er sie mit einem strengen Blick an. »Aber habt Ihr jemals ein lustiges Lied oder eine lustige Geschichte über die Chandrian gehört? Ich wette einen Penny, dass nicht.«

Meine Mutter überlegte einen Moment lang und schüttelte dann den Kopf. Mein Vater trank einen Schluck und tat es ihr gleich.

»Also, ich behaupte nicht, dass die Chandrian da draußen sind und gleich dreinfahren werden wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Aber überall haben die Leute Angst vor ihnen. Und für so etwas gibt es normalerweise einen Grund.«

Ben grinste und kippte seine Tontasse um, kippte den Rest von seinem Bier auf die Erde. »Und Namen sind etwas Seltsames. Etwas Gefährliches.« Er sah sie eindringlich an. »Das weiß ich mit Sicherheit, weil ich ein gebildeter Mann bin. Wenn auch ich ein ganz klein wenig abergläubisch bin …«, er zuckte die Achseln, »… so ist das meine Entscheidung. Ich bin alt. Und alten Leuten soll man ihren Willen lassen.«

Mein Vater nickte nachdenklich. »Merkwürdig, dass mir nie aufgefallen ist, dass die Chandrian von jedermann gleich gesehen werden. Das hätte ich eigentlich bemerken müssen.« Er schüttelte den Kopf. »Auf die Namen können wir wohl auch noch später zurückkommen. Worüber wolltet Ihr mit uns sprechen?«

Ich wollte mich schon davonschleichen, ehe man mich noch erwischte, doch was Ben als nächstes sagte, ließ mich erstarren.

»Es ist wahrscheinlich leicht zu übersehen, da Ihr ja seine Eltern seid, aber Euer Kvothe ist ein ausgesprochen kluger Junge.« Ben schenkte sich nach und bot auch meinem Vater den Krug an, der aber dankend ablehnte. »Ja, ›klug‹ ist wirklich noch untertrieben.«

Meine Mutter sah Ben über ihren Becher hinweg an. »Das sieht jeder, der ein wenig Zeit mit dem Jungen verbringt, Ben. Ich wüsste nicht, warum man das zur Sprache bringen müsste.«

»Ich glaube, Euch ist das nicht in seinem ganzen Ausmaß bewusst«, sagte Ben und streckte seine Füße fast bis ins Feuer. »Wie leicht hat er das Lautenspiel erlernt?«

Mein Vater schien wegen des plötzlichen Themenwechsels etwas erstaunt. »Sehr leicht. Warum?«

»Wie alt war er da?«

Mein Vater zupfte sich nachdenklich den Bart. In diesem Schweigen ertönte die Stimme meiner Mutter wie ein Flötenton. »Acht.«

»Denkt einmal an die Zeit zurück, als Ihr das Lautenspiel erlernt habt. Wisst Ihr noch, wie alt Ihr da wart? Erinnert Ihr Euch daran, wie schwer es Euch gefallen ist?« Mein Vater zupfte sich immer noch den Bart, aber seine Miene war nun nachdenklicher, und sein Blick schweifte in weite Ferne.

Abenthy fuhr fort: »Und er hat doch bestimmt sämtliche Töne und Fingersätze beherrscht, nachdem man sie ihm ein einziges Mal gezeigt hatte, und zwar ohne daneben zu greifen oder sich zu beklagen, nicht wahr? Und wenn er doch einmal einen Fehler machte, dann machte er ihn nie ein zweites Mal, stimmt’s?«

Mein Vater wirkte ein wenig verwirrt. »Meistens schon, aber er hatte auch seine Schwierigkeiten, wie jedermann sonst auch. Das E. Er hatte große Schwierigkeiten mit dem hohen und dem tiefen E.«

Meine Mutter meldete sich zu Wort: »Daran erinnere ich mich auch, mein Lieber. Aber ich glaube, das lag nur an seinen kleinen Händen. Er war noch so unglaublich jung …«

»Davon hat er sich bestimmt nicht lange aufhalten lassen«, sagte Ben. »Er hat überhaupt wunderbare Hände. Meine Mutter hätte gesagt: Die Hände eines Magiers.«

Mein Vater lächelte. »Die hat er von seiner Mutter – zart und doch stark. Bestens geeignet zum Töpfeschrubben, nicht wahr, Weib?«

Meine Mutter verpasste ihm einen Klaps, hielt dann eine seiner Hände fest und zeigte Ben die Handfläche. »Die hat er von seinem Vater – feingliedrig und zart. Bestens geeignet, um Edelfräuleins zu verführen.« Mein Vater wollte protestieren, aber sie beachtete ihn gar nicht. »Mit seinen Augen und Händen wird auf der ganzen Welt kein weibliches Wesen vor ihm sicher sein, wenn er erst einmal anfängt, den Frauen nachzustellen.«

»Ihnen den Hof zu machen, meine Liebe«, berichtigte mein Vater behutsam.

»Wortklauberei.« Sie zuckte die Achseln. »Es ist doch immer eine Jagd, und anschließend tun einem die Keuschen leid, die ihr entronnen sind.« Sie lehnte sich wieder an meinen Vater und hielt seine Hand im Schoß. Dann neigte sie den Kopf ein wenig, und er verstand den Wink, beugte sich hinüber und küsste sie auf den Mundwinkel.

»Amen«, sagte Ben und hob seine Tasse.

Mein Vater legte einen Arm um meine Mutter und drückte sie an sich. »Ich verstehe immer noch nicht, worauf Ihr hinauswollt, Ben.«

»Er macht alles mit dieser Leichtigkeit und Schnelligkeit, und er macht so gut wie keine Fehler. Ich wette, er kennt sämtliche Lieder auswendig, die Ihr ihm je vorgesungen habt. Er weiß mittlerweile besser über den Inhalt meines Wagens Bescheid als ich selber.«

Er nahm den Krug und zog den Korken heraus. »Und er lernt nicht nur auswendig. Er versteht es auch. Die Hälfte dessen, was ich ihm eigentlich zeigen wollte, hat er ganz von alleine herausbekommen.«

Ben schenkte meiner Mutter nach. »Er ist elf Jahre alt. Seid Ihr schon jemals einem Jungen in seinem Alter begegnet, der so redet wie er? Das kommt natürlich auch daher, dass er in einer so aufgeklärten Umgebung aufwächst.« Ben wies auf die Wagen. »In den tiefgründigsten Gedanken der meisten Elfjährigen geht es eher darum, wie man Steine am besten übers Wasser flitscht oder Katzen am Schwanz herumschleudert.«

Meine Mutter lachte glockenhell, Abenthys Miene aber blieb ernst. »Das ist die Wahrheit. Ich hatte schon weit ältere Schüler, die viel darum gegeben hätten, auch nur halb so gut zu sein wie er.« Er grinste. »Wenn ich seine Hände hätte und nur ein Viertel seines Verstands, würde ich binnen Jahresfrist von silbernen Tellern essen.«

Es herrschte kurz Schweigen. Dann sagte meine Mutter leise: »Ich weiß noch, wie es war, als er noch ganz klein war und auf wackligen Beinen ging. Beobachtet – er hat immer alles beobachtet. Mit klaren, hellen Augen, die aussahen, als wollten sie die ganze Welt in sich aufsaugen.« Ihre Stimme zitterte ein wenig. Mein Vater legte wieder einen Arm um sie, und sie lehnte den Kopf an seine Brust.

Das nächste Schweigen währte länger. Ich hatte schon vor fortzuschleichen, als mein Vater es brach. »Was schlagt Ihr vor, was sollen wir tun?« In seinem Ton schwangen leichte Besorgnis und Vaterstolz mit.

Ben lächelte. »Ich sage nur, dass Ihr Euch überlegen solltet, welche Wahlmöglichkeiten Ihr ihm eröffnet, wenn einmal die Zeit dazu gekommen ist. Er wird der Welt seinen Stempel aufdrücken – als einer der Besten.«

»Der besten was?«, fragte mein Vater.

»Was auch immer er sich erwählt. Wenn er bei Euch bleibt, wird er zweifellos der nächste Illien.«

Mein Vater lächelte. Illien war der große Held jedes fahrenden Schauspielers und der einzige wirklich berühmte Edema Ruh aller Zeiten. Unsere ältesten und schönsten Lieder stammen von ihm.

Hinzu kommt, dass Illien, glaubt man den Geschichten, die man sich über ihn erzählt, zu seiner Zeit die Laute neu erfunden hat. Als meisterhafter Lautenist schuf er auf der Grundlage der damaligen altertümlichen, unhandlichen Hoflaute die wunderbare, vielseitige, siebensaitige Laute von heute. In diesen Geschichten heißt es auch, Illien sei mit seiner eigenen Laute noch einen Schritt weitergegangen, und sie habe acht Saiten gehabt.

»Illien. Der Gedanke gefällt mir«, sagte meine Mutter. »Könige kommen von weither, um meinen kleinen Kvothe spielen zu hören.«

»Mit seiner Musik schlichtet er Kneipenschlägereien ebenso wie Grenzkriege.« Ben lächelte.

»Die wilden Frauen auf seinem Schoß«, begeisterte sich mein Vater, »pressen seinen Kopf zwischen ihre Brüste.«

Verblüfftes Schweigen. Dann sagte meine Mutter leicht gereizt: »Du meinst doch wohl eher: ›Wilde Tiere legen ihren Kopf in seinen Schoß.‹«

»Meine ich das, ja?«

Ben räusperte sich und fuhr fort: »Wenn er beschließt, Arkanist zu werden, wette ich, dass er mit spätestens vierundzwanzig Hofarkanist eines Königs sein wird. Und wenn er es sich in den Kopf setzen sollte, Kaufmann zu werden, wird ihm zweifellos bei seinem Ableben die halbe Welt gehören.«

Mein Vater zog die Augenbrauen zusammen. Ben lächelte und sagte: »Keine Sorge. Er ist viel zu neugierig, um Kaufmann zu werden.«

Ben hielt inne, wie um sich seine Worte sehr genau zu überlegen. »Er würde an der Universität angenommen. Natürlich erst in einigen Jahren. Siebzehn müsste er mindestens sein, aber ich habe keinen Zweifel, dass …«

Den Rest dessen, was Ben sagte, hörte ich nicht mehr. Die Universität! Das war für mich, was für die meisten Kinder das Märchenland ist: Ein mythischer Ort, von dem man nur träumen konnte. Eine Schule, so groß wie eine Kleinstadt. Zehn mal zehntausend Bücher. Menschen, die auf jede Frage, die ich stellte, eine Antwort wussten …

Als ich meine Aufmerksamkeit wieder den anderen zuwandte, war es still geworden.

Mein Vater sah meine Mutter an, die sich in seinen Arm schmiegte. »Wie ist es, Weib? Hast du vor einem Jahrdutzend etwa einmal mit einem wandernden Gott das Lager geteilt? Das könnte unser kleines Rätsel lösen.«

Sie gab ihm einen Klaps, und dann huschte ein nachdenklicher Blick über ihr Gesicht. »Wo ich jetzt daran denke … Es gab da eine Nacht vor ungefähr zwölf Jahren. Da kam ein Mann zu mir. Er fesselte mich mit Küssen und Liebesliedern. Er raubte mir die Unschuld und stahl sich mit mir fort.« Sie hielt inne. »Aber der hatte kein rotes Haar. Der kann es also nicht gewesen sein.«

Sie schenkte meinem Vater ein schelmisches Lächeln. Er schien sich ein wenig zu genieren. Dann küsste sie ihn. Und er erwiderte den Kuss.

So möchte ich die beiden in Erinnerung behalten. Ich schlich mich fort, nur noch die Universität im Kopf.

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