Kapitel 68

Der ewig sich wandelnde Wind

Die nächsten Tage lief ich barfuß, ohne Umhang und in miserabler Stimmung umher. Der Reiz, den Helden zu spielen, verflog angesichts meiner Situation recht schnell. Ich besaß nur eine einzige Kleidergarnitur, und die war zerlumpt. Die Verbrennungen taten mir ständig weh. Mir fehlte das Geld, um mir Schmerzmittel oder neue Kleider zu kaufen. So kaute ich bittere Weidenrinde, und bitter waren auch die Gedanken, die ich hegte.

Meine Armut lastete schwer auf mir. Noch nie zuvor war ich mir des Unterschieds zwischen den anderen Studenten und mir deutlicher bewusst gewesen. Alle hier an der Universität verfügten über ein Sicherheitsnetz, das sie notfalls auffangen würde. Sims Eltern waren aturische Adlige. Wil stammte aus einer reichen Kaufmannsfamilie. Wenn sie in Schwierigkeiten gerieten, konnten sie auf den Namen ihrer Familie einen Kredit aufnehmen oder einen Brief nach Hause schreiben.

Ich hingegen konnte mir noch nicht einmal neue Schuhe leisten. Ich besaß nur ein Hemd. Wie konnte ich hoffen, all die Jahre an der Universität bleiben zu können, die es dauern würde, die Ausbildung zum Arkanisten abzuschließen? Wie konnte ich hoffen, akademisch aufzusteigen, wenn mir der Zugang zur Bibliothek verwehrt war?

Bis zur Mittagszeit hatte ich mich in eine so düstere Laune hineingesteigert, dass ich Sim beim Essen in der Mensa anschnauzte und wir uns anschließend stritten wie ein altes Ehepaar. Wilem hielt sich heraus und widmete seine Aufmerksamkeit ausschließlich dem Essen. Um mich ein wenig aufzuheitern, luden sie mich schließlich für den nächsten Abend ins Theater nach Imre ein. Es wurde Drei Wünsche frei gespielt. Ich ging gern mit, denn ich hatte gehört, dass Feltemis ursprüngliche Fassung aufgeführt wurde und nicht eine der zensierten Versionen. Das Stück passte bestens zu meiner Laune, war es doch von schwarzem Humor, Tragik und Verrat geprägt.

Nach dem Mittagessen erfuhr ich, dass Kilvin meine Emitter bereits verkauft hatte. Da sie für eine ganze Zeit die letzten blauen Emitter sein würden, hatte er einen ansehnlichen Preis erzielt, und mein Anteil belief sich auf über anderthalb Talente. Ich nahm an, dass Kilvin mir gegenüber mit dem Preis etwas übertrieb und für meinen Anteil etwas von seinem eigenen Geld dazugelegt hatte. Das ging mir zwar gegen den Stolz, aber einem geschenkten Gaul schaut man nun mal nicht ins Maul.

Doch auch das konnte meine Laune nicht so richtig bessern. Ich konnte mir jetzt neue Schuhe und einen neuen Umhang leisten, wenn auch bloß aus zweiter Hand. Und wenn ich das restliche Trimester wie ein Besessener schuftete, verdiente ich vielleicht genug Geld, um die Zinsen bei Devi und auch noch die Studiengebühren bezahlen zu können. Doch diese Gedanken lösten bei mir keine Freude aus, denn ich war mir mehr denn je bewusst, wie prekär meine Lage war. Meine Existenz hing buchstäblich an einem seidenen Faden.

Als meine Stimmung auf einen neuen Tiefpunkt gesunken war, ließ ich an diesem Tag das Seminar über Höhere Sympathie sausen und ging statt dessen nach Imre. Der Gedanke, dass ich vielleicht Denna treffen würde, war das Einzige, was mich jetzt wieder aufheitern konnte. Außerdem musste ich ihr ja noch erklären, warum ich nicht zu unserer Verabredung zum Mittagessen gekommen war.

Auf dem Weg zum Eolian kaufte ich mir ein Paar Wanderstiefel, die warm genug waren für den nahenden Winter. Danach war mein Geldbeutel wieder so gut wie leer. Nachdem ich den Schusterladen verlassen hatte, zählte ich, was mir noch geblieben war: drei Jots und ein Deut. Als Straßenkind in Tarbean hatte ich mehr Geld gehabt …

»Heute kommst du zur rechten Zeit«, sagte Deoch, als ich zum Eolian kam. »Es wartet jemand auf dich.«

Ein Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit, und ich klopfte ihm auf die Schulter und ging hinein.

Doch statt Denna sah ich Fela allein an einem Tisch sitzen. Stanchion stand dabei und plauderte mit ihr. Als er mich sah, winkte er mich herbei und zog sich dann, nachdem er mir im Vorbeigehen noch auf die Schulter geklopft hatte, auf seinen Stammplatz am Tresen zurück.

Als sie mich erkannte, sprang Fela auf und lief auf mich zu. Einen Moment lang glaubte ich, sie würde mir direkt in die Arme laufen, so als wären wir ein wieder vereintes Liebespaar in einer billigen aturischen Tragödie. Doch dann bremste sie sich im letzten Augenblick, und ihr dunkles Haar fiel nach vorn. Sie war so hübsch wie eh und je und hatte jetzt bloß noch einen großen blauen Fleck auf der Wange.

»Oh nein«, sagte ich und hob vor Mitgefühl eine Hand vors Gesicht. »War ich das, als ich dich fallen ließ? Das tut mir wirklich sehr Leid.«

Sie sah mich ungläubig an und lachte. »Du entschuldigst dich dafür, dass du mich aus einer Flammenhölle gerettet hast?«

»Nur dafür, dass ich ohnmächtig geworden bin und dich fallen ließ. Das war wirklich dumm von mir: Ich hatte vergessen, die Luft anzuhalten, und habe irgendwelche Dämpfe eingeatmet. Hast du noch weitere Verletzungen davongetragen?«

»Nur an Stellen, die ich dir in der Öffentlichkeit nicht zeigen kann«, sagte sie, verzog ein wenig das Gesicht und bewegte die Hüften auf eine Weise, die ich sehr verwirrend fand.

»Nichts allzu Schlimmes, hoffe ich.«

»Nun ja. Beim mein nächsten Mal erwarte ich, dass du das besser machst. Wenn ein Mädchen gerettet wird, möchte es insgesamt sanfter behandelt werden.«

»Na gut. Dann betrachten wir das als Übung.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen uns, und Felas Lächeln schwand ein wenig. Sie hob eine Hand in meine Richtung, zögerte und ließ sie wieder sinken. »Aber mal im Ernst, Kvothe. Ich … Das war der schlimmste Augenblick in meinem ganzen Leben. Überall war Feuer …«

Sie senkte den Blick. »Ich war mir sicher, dass ich sterben würde. Ich war mir absolut sicher. Und dann stand ich da so starr wie … wie ein verängstigtes Kaninchen.« Sie hob den Blick wieder, blinzelte Tränen fort, und dann war ihr Lächeln wieder da, strahlend wie eh und je. »Und dann kamst du und liefst durch das Feuer. Das war das Unglaublichste, was ich je gesehen habe. Das war wie … Hast du mal Daeonica gesehen?«

Ich nickte und lächelte.

»Du sahst aus wie Tarsus, als er aus der Hölle ausbricht. Als du durch das Feuer kamst, wusste ich, jetzt wird alles gut.« Sie trat einen kleinen Schritt auf mich zu und legte mir eine Hand auf den Arm. Ich spürte ihre Wärme durch mein Hemd hindurch. »Sonst wäre ich dort umgekommen –«. Sie verstummte verlegen. »Ich wiederhole mich.«

Ich schüttelte den Kopf. »Aber so war das gar nicht. Ich habe dich gesehen. Du hast nach einem Ausweg gesucht.«

»Nein. Ich stand einfach nur da. Wie eins von diesen dummen Mädchen aus den Geschichten, die mir meine Mutter früher immer vorgelesen hat. Ich habe sie immer gehasst, diese Mädchen. Ich habe immer gefragt: ›Warum schubst sie denn die böse Hexe nicht aus dem Fenster? Warum mischt sie denn dem Oger kein Gift ins Essen?‹« Jetzt blickte Fela zu Boden, und ihr herabfallendes Haar verbarg ihr Gesicht. Ihre Stimme wurde leiser und leiser, bis es nur noch ein Flüstern war. »›Warum sitzt sie nur da und wartet darauf, gerettet zu werden? Warum rettet sie sich nicht selbst?‹«

Mit einer Geste, die beschwichtigend gemeint war, nahm ich ihre Hand, und da fiel mir etwas auf. Ihre Hand war nicht das zarte, zerbrechliche Ding, das ich erwartet hatte. Vielmehr war sie kräftig und schwielig, die Hand einer Bildhauerin, die stundenlang mit Hammer und Meißel arbeiten konnte.

»Das ist nicht die Hand einer hilflosen Jungfer«, sagte ich.

Sie sah mich mit Tränen in den Augen an und stieß ein erstauntes Lachen aus, das halb wie ein Schluchzen klang. »Ich … Wie bitte?«

Mir wurde bewusst, was ich da gesagt hatte, und ich wurde rot, fuhr aber fort. »Das ist nicht die Hand irgendeiner verhuschten Prinzessin, die einfach nur dasitzt und Spitze klöppelt und darauf wartet, dass irgendein Prinz sie rettet. Das ist die Hand einer Frau, die an einem Seil, das sie aus ihrem eigenen Haar geflochten hat, in die Freiheit klettern würde, oder die einen Oger, der sie gefangen hält, nachts im Schlaf erschlägt.« Ich sah ihr in die Augen. »Und das ist auch die Hand einer Frau, die es allein aus dem Feuer heraus geschafft hätte, wenn ich nicht da gewesen wäre. Sie hätte sich vielleicht verbrannt, aber sie hätte es geschafft.«

Ich hob ihre Hand an meine Lippen und küsste sie. Es schien mir in diesem Moment eine passende Geste zu sein. »Aber dennoch bin ich froh, dass ich zur Stelle war und helfen konnte«, sagte ich und lächelte. »Also … wie Tarsus?«

Ihr Lächeln blendete mich. »Wie Tarsus, Oren Velciter und ein Märchenprinz in einer Person«, sagte sie und lachte. Dann nahm sie meine Hand. »Komm. Ich habe etwas für dich.«

Fela führte mich an den Tisch, an dem sie gesessen hatte, und überreichte mir ein zusammengelegtes Kleidungsstück. »Ich habe Wil und Sim gefragt, was ich dir schenken könnte, und das erschien mir passend …« Sie hielt inne, mit einem Mal scheu.

Es war ein Umhang. Er war dunkelgrün, aus bestem Stoff und schön geschnitten. Und er war nicht aus zweiter Hand. Es war ein Kleidungsstück, wie es für mich immer unerschwinglich gewesen war.

»Ich habe den Schneider viele kleine Taschen hineinnähen lassen«, sagte sie nervös. »Wil und Sim meinten, das wäre wichtig.«

»Er ist wunderschön«, sagte ich.

Da strahlte sie wieder. »Die Maße musste ich schätzen«, sagte sie. »Komm, wir schauen mal, ob er passt.« Sie nahm den Umhang, legte ihn mir um die Schultern und umfasste mich dabei in einer Geste, die wie eine Umarmung wirkte.

Ich stand, um Felas Formulierung zu gebrauchen, so starr da wie ein verängstigtes Kaninchen. Sie war mir so nah, dass ich ihre Wärme spüren konnte, und als sie sich vorbeugte, um mir den Umhang über die Schulter zu ziehen, strich sie mit einer Brust sacht über meinen Arm. Ich stand vollkommen reglos. Und über Felas Schulter hinweg sah ich Deoch am Eingang grinsen.

Fela trat einen Schritt zurück, beäugte mich kritisch, trat dann wieder näher und zog mir den Umhang über der Brust ein wenig zusammen. »Passt«, sagte sie. »Und die Farbe bringt deine Augen gut zur Geltung. Nicht dass sie das nötig hätten. Sie sind das Grünste, was ich heute gesehen habe. Grün wie der Frühling.«

Als Fela wieder von mir wegtrat, sah ich eine mir wohl bekannte Gestalt zum Ausgang hinaushuschen. Denna. Ich sah sie nur ganz kurz im Profil, erkannte sie aber so sicher, wie ich meine eigenen Hände erkennen würde. Was sie gesehen und welche Schlüsse sie daraus gezogen hatte, konnte ich nur vermuten.

Im ersten Moment wollte ich ihr nachlaufen. Ihr erklären, warum ich zwei Tage zuvor nicht zu unserer Verabredung erschienen war. Mich bei ihr entschuldigen. Ihr klar machen, dass das Mädchen, das da gerade ihre Arme um mich gelegt hatte, mir nur ein Geschenk gemacht hatte, weiter nichts.

Fela strich den Umhang über meinen Schultern glatt und sah mich mit Augen an, in denen noch kurz zuvor Tränen geglänzt hatten.

»Er passt wie angegossen«, sagte ich, betastete prüfend den Stoff und schwang den Umhang hin und her. »So etwas Schönes habe ich gar nicht verdient, und das wäre wirklich nicht nötig gewesen – ich danke dir.«

»Ich wollte dir zeigen, wie dankbar ich dir dafür bin, was du getan hast.« Sie legte mir wieder eine Hand auf den Arm. »Und das ist doch gar nichts. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, irgendwann einmal … Du kannst immer zu mir kommen.« Sie hielt inne und sah mich fragend an. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Ich schaute an ihr vorbei zum Ausgang. Denna konnte mittlerweile wer weiß wo sein. Ich hätte sie nicht mehr eingeholt.

»Ja«, log ich. »Alles bestens.«

Fela brachte mir etwas zu trinken, und wir plauderten eine Weile über Kleinigkeiten. Ich war überrascht, als ich erfuhr, dass sie in den letzten Monaten mit Elodin zusammengearbeitet hatte. Sie war für ihn als Bildhauerin tätig gewesen, und im Gegenzug hatte er sie gelegentlich unterrichtet. Sie verdrehte beim Erzählen die Augen. Er hatte die Angewohnheit, sie mitten in der Nacht aus dem Bett zu scheuchen und zu einem stillgelegten Steinbruch nördlich der Stadt mitzunehmen. Er schmierte ihr sogar feuchten Ton in die Schuhe und zwang sie, den ganzen Tag darin herumzulaufen. Er hatte es gewagt … Sie wurde rot, schüttelte den Kopf und erzählte die Geschichte nicht zu Ende. Ich war zwar neugierig, wollte sie aber nicht in Verlegenheit bringen. Also fragte ich nicht weiter nach, und wir einigten uns darauf, dass er mehr als nur ein bisschen wahnsinnig sei.

Und die ganze Zeit saß ich mit dem Blick zum Eingang und hoffte vergeblich, dass Denna wiederkommen würde und ich ihr alles erklären konnte.

Schließlich musste Fela zurück zur Universität. Sie hatte ein Mathematikseminar. Ich blieb im Eolian, hielt mich an meinem Glas fest und überlegte, wie ich die Dinge zwischen Denna und mir wieder zum Guten wenden konnte. Ich hätte mich gern aus Selbstmitleid so richtig betrunken, aber dazu fehlten mir die Mittel, und so humpelte ich, als die Sonne unterging, langsam heim.

Erst als ich mich bereit machte, wieder einmal auf das Dach des Hauptgebäudes zu steigen, wurde mir die Bedeutung von etwas bewusst, das Kilvin mir gesagt hatte. Wenn der Knochenteer größtenteils in die Gullys abgelaufen war …

Auri! Sie lebte in den Tunneln unter der Universität! Ich lief so schnell zur Mediho, wie meine Erschöpfung und meine Schmerzen es mir gestatteten. Auf halber Strecke entdeckte ich Mola, die gerade einen Hof überquerte. Ich rief nach ihr und winkte ihr zu.

Mola betrachtete mich argwöhnisch, als ich näher kam. »Du willst mir doch nicht etwa ein Ständchen bringen, oder?«

Ich nahm meinen Lautenkasten ab und schüttelte den Kopf. »Du musst mir einen Gefallen tun«, sagte ich. »Eine Freundin von mir ist vielleicht verletzt.«

Sie seufzte. »Dann solltest du …«

»Ich kann mit ihr nicht in die Mediho gehen. Bitte, Mola«, sagte ich eindringlich. »Es dauert höchstens eine halbe Stunde, versprochen, aber wir müssen sofort los. Ich mache mir Sorgen, dass es vielleicht schon zu spät sein könnte.«

Etwas an meinem Tonfall überzeugte sie. »Was hat deine Freundin denn?«

»Vielleicht Verbrennungen, vielleicht Verätzungen, vielleicht eine Rauchvergiftung. Wie die Leute, die gestern bei dem Brand im Handwerkszentrum waren. Und vielleicht auch schlimmer.«

Mola ging los. »Ich hole meine Tasche aus meinem Zimmer.«

»Ich warte hier«, sagte ich und setzte mich auf eine Bank. »Ich würde dich nur aufhalten.«

Ich saß dort und versuchte meine vielfältigen Verletzungen und Verbrennungen zu ignorieren, und als Mola zurückkam, führte ich sie zur Südwestseite des Hauptgebäudes, wo drei mächtige Schornsteine in den Himmel ragten. »Hier können wir aufs Dach steigen.«

Sie sah mich verwundert an, stellte aber keine Fragen.

Ich stieg langsam zum Dach hinauf, wobei ich vorragende Feldsteine als Halt für Hände und Füße nutzte. Es war eine der einfacheren Methoden, auf das Dach des Hauptgebäudes zu gelangen. Ich hatte sie gewählt, weil ich nicht wusste, wie gut Mola klettern konnte, aber auch, weil ich mich mit meinen Verletzungen nicht besonders beweglich fühlte.

Mola folgte mir aufs Dach. Sie trug immer noch ihre dunkle Dienstkleidung aus der Mediho und hatte sich in ihrem Zimmer noch einen grauen Umhang übergeworfen. Die Nacht war wolkenlos, und die Sichel des Mondes leuchtete uns den Weg.

»Wenn ich es nicht besser wüsste«, sagte Mola, als wir gerade um einen Ziegelsteinschlot herumgingen, »würde ich glauben, dass du mich irgendwo hinlockst, um unanständige Dinge mit mir zu tun.«

»Und wieso glaubst du das nicht?«, fragte ich leichthin.

»Weil du nicht der Typ für so was bist«, sagte sie. »Und außerdem kannst du ja kaum noch gehen. Wenn du mir an die Wäsche gehen würdest, würde ich dich einfach vom Dach schubsen.«

»Nimm bloß keine Rücksicht auf meine Gefühle«, sagte ich und kicherte. Dann stolperte ich über einen First, den ich übersehen hatte, und wäre fast gestürzt, denn mein geschwächter Körper reagierte zu langsam. Ich setzte mich auf eine leicht erhöhte Stelle des Daches und wartete, bis das Schwindelgefühl wieder verflogen war.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mola.

»Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte ich und erhob mich mit Mühe wieder. »Es ist gleich hinter diesem Dach. Du bleibst am besten erst mal zurück und bist ganz still. Nur für alle Fälle.«

Ich ging bis an die Dachkante und sah zu der Hecke und dem Apfelbaum hinunter. Die Fenster waren dunkel.

»Auri?«, rief ich leise. »Bist du da?« Ich wartete und machte mir mit jeder Sekunde, die verging, größere Sorgen. »Auri, bist du verletzt?«

Keine Antwort. Ich fluchte leise vor mich hin.

Mola verschränkte die Arme. »Also. Ich habe hier schon eine ganze Menge Geduld bewiesen, finde ich. Würdest du mir jetzt bitte mal erklären, was hier vor sich geht?«

»Folge mir, dann erkläre ich es dir.« Ich ging zu dem Apfelbaum und kletterte vorsichtig hinunter. Dann ging ich um die Hecke herum zu dem Entwässerungsgitter. Der von dem Knochenteer ausgehende Ammoniakgestank drang heraus; schwach, aber deutlich wahrnehmbar. Ich zog an dem Gitter, und es ließ sich ein Stück weit öffnen, aber dann klemmte es. »Ich habe hier vor ein paar Monaten ein Mädchen kennengelernt«, sagte ich. »Sie lebt da unten. Ich mache mir Sorgen, dass sie vielleicht verletzt ist. Von dem Mittel im Handwerkszentrum ist viel in die Kanalisation geflossen.«

Mola schwieg für einen Moment. »Ist das dein Ernst?« Ich tastete im Dunkeln unter dem Gitter herum und versuchte herauszubekommen, wie Auri verhindert hatte, dass es sich ganz öffnen ließ. »Was für ein Mensch würde denn da unten leben?«

»Ein verängstigter Mensch«, erwiderte ich. »Ein Mensch, der Angst hat vor Lärm und Menschen und dem offenen Himmel. Ich habe fast einen Monat gebraucht, bis ich sie da aus den Tunneln herauslocken konnte, und noch länger, bis sie das erste Mal mit mir gesprochen hat.«

Mola seufzte. »Wenn du nichts dagegen hast, setze ich mich hin.« Sie ging zu der Bank. »Ich bin schon den ganzen Tag auf den Beinen.«

Ich tastete weiter unter dem Gitter umher, konnte aber keinen Haken entdecken. Schließlich packte ich das Gitter mit beiden Händen und zog mehrmals mit aller Kraft daran. Ein widerhallendes metallisches Geräusch erklang, aber das Gitter ließ sich nicht anheben.

»Kvothe?« Ich blickte zur Dachkante hinauf und sah Auri dort oben stehen, als Silhouette vor dem Nachthimmel, und ihr feines Haar bildete eine kleine Wolke um ihren Kopf.

»Auri!« Die Anspannung ließ nach, und ich merkte mit einem Schlag wieder, wie erschöpft ich eigentlich war. »Wo warst du denn?«

»Da waren Wolken«, sagte sie und ging um das Dach herum zu dem Apfelbaum. »Da habe ich dich ganz oben gesucht. Aber jetzt ist der Mond rausgekommen, und deshalb komme ich zurück.«

Auri stieg den Baum hinab und blieb abrupt stehen, als sie Mola in dem grauen Umhang auf der Bank sitzen sah.

»Ich habe eine Freundin mitgebracht, Auri«, sagte ich in meinem allersanftesten Tonfall. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«

Es entstand eine lange Pause. »Ist sie nett?«

»Ja, sie ist sehr nett.«

Auri beruhigte sich und kam ein paar Schritte näher. »Ich habe dir eine Feder mitgebracht, noch mit dem Frühlingswind drin, aber weil du so spät kommst …«, sagte sie und sah mich streng an, »kriegst du statt dessen eine Münze.« Sie streckte sie mir auf Armeslänge entgegen, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Die schützt dich nachts.« Sie war geformt wie eine aturische Bußmünze, schimmerte im Mondschein aber silbern. So ein Geldstück hatte ich noch nie gesehen.

Ich kniete mich hin, öffnete meinen Lautenkasten und holte ein kleines Päckchen hervor. »Hier sind ein paar Tomaten und Bohnen und etwas ganz Besonderes.« Ich hielt ihr den kleinen Beutel hin, für den ich zwei Tage zuvor, bevor der ganze Ärger angefangen hatte, so viel Geld ausgegeben hatte. »Meersalz.«

Auri nahm den Beutel und spähte hinein. »Das ist aber lieb, Kvothe. Was ist denn in dem Salz?«

Spurenelemente, dachte ich. Chrom, Bassal, Malium, Jod … Alles, was dein Körper braucht, aber wahrscheinlich nicht kriegt, wenn ich dich nicht finde und du dich wahrscheinlich nur von Äpfeln und Brotresten ernährst und was du dir sonst noch so beschaffen kannst.

»Die Träume der Fische«, sagte ich. »Und viele Seemannslieder.«

Auri nickte zufrieden, setzte sich, breitete das Tuch aus, in das ich die Lebensmittel eingeschlagen hatte, und legte sich ihr Essen so sorgfältig zurecht, wie sie das immer tat. Ich sah ihr zu, wie sie zu essen begann, erst eine grüne Bohne in das Salz tunkte und dann davon abbiss. Sie schien keine Verletzungen zu haben, doch in dem schummrigen Mondschein konnte man das nicht so genau erkennen. Ich musste es genau wissen. »Geht es dir gut, Auri?«

Sie neigte den Kopf und sah mich neugierig an.

»Da war ein großes Feuer. Und viel davon ist in die Kanalisation gelangt. Hast du es gesehen?«

»O Gott, ja«, sagte sie und bekam große Augen. »Das war überall. Und die Mäuse und Waschbären sind davor weggelaufen und wollten alle raus.«

»Hast du etwas davon abbekommen?«, fragte ich. »Hast du dich verbrannt?«

Sie schüttelte den Kopf und grinste verschmitzt, wie ein kleines Mädchen. »O nein. Mich hat es nicht gekriegt.«

»Bist du dem Feuer nahe gekommen?«, fragte ich. »Hast du etwas von dem Rauch eingeatmet?«

»Warum sollte ich Rauch einatmen?« Auri sah mich an, als wäre ich ein sehr dummer Mensch. »Aber das ganze Unterding stinkt jetzt nach Katzenpisse.« Sie verzog die Nase. »Bis auf den Tiefgang und Schwaden.«

Ich atmete auf, sah aber, dass Mola auf der Bank unruhig wurde. »Auri, darf meine Freundin zu uns kommen?«

Auri erstarrte, eine Bohne in der Hand, auf halber Strecke zum Mund. Dann beruhigte sie sich wieder und nickte.

Ich winkte Mola zu, und sie kam langsam zu uns. Ich war ein wenig besorgt angesichts dieses Treffens. Ich hatte über einen Monat gebraucht, bis ich Auri aus den Tunneln unter der Universität hervorgelockt hatte. Es machte mir Sorgen, dass sie auf eine falsche Reaktion von Mola hin wieder dorthin fliehen würde, wo ich sie nicht finden könnte.

Ich zeigte auf Mola, die immer noch stand. »Das ist meine Freundin Mola.«

»Hallo, Mola.« Auri sah zu ihr hoch und lächelte. »Du hast Sonnenhaar, so wie ich. Möchtest du einen Apfel?«

Mola blickte professionell neutral. »Ja, gerne, Auri. Vielen Dank.«

Auri sprang auf, flitzte zu dem Apfelbaum, flitzte wieder zurück und überreichte Mola einen Apfel. »Dieser hier enthält einen Wunsch«, sagte sie. »Bevor du hineinbeißt, solltest du dir genau überlegen, was du dir wünschen willst.« Dann setzte sie sich wieder, nahm noch eine Bohne und kaute sehr sorgfältig.

Mola betrachtete den Apfel eine ganze Weile, bevor sie hineinbiss.

Auri beendete ihr Mahl und band den Salzbeutel wieder zu. »Und jetzt spiel!«, forderte sie aufgeregt. »Spiel!«

Lächelnd holte ich die Laute hervor und strich mit den Fingern über die Saiten. Glücklicherweise war mein verletzter Daumen der der Griffhand, so dass er mich nicht allzu sehr behinderte.

Ich sah zu Mola hinüber und stimmte die Saiten. »Du kannst gehen, wenn du magst«, sagte ich. »Ich möchte dir nicht versehentlich ein Ständchen bringen.«

»Oh, du darfst nicht gehen«, wandte sich Auri an Mola, mit todernstem Blick. »Seine Stimme ist wie ein Gewitter, und seine Finger kennen jedes Geheimnis, das tief unter der kalten, dunklen Erde verborgen liegt.«

Mola rang sich ein Lächeln ab. »Also das muss ich hören.«

Und so spielte ich für die beiden, während die Sterne droben am Firmament weiter ihre Bahnen zogen.

»Warum hast du niemandem davon erzählt?«, fragte mich Mola, als wir über die Dächer zurück kletterten.

»Weil ich finde, dass das niemanden etwas angeht«, sagte ich. »Wenn sie wollte, dass die Leute wissen, dass sie dort unten lebt, würde sie es ihnen, glaube ich, selber sagen.«

»Du weißt ganz genau, was ich meine«, erwiderte Mola gereizt.

»Ja, ich weiß, was du meinst.« Ich seufzte. »Aber was sollte dabei Gutes herauskommen? Sie ist glücklich da, wo sie ist.«

»Glücklich?«, erwiderte Mola ungläubig. »Sie ist abgerissen und halb verhungert. Sie braucht Hilfe. Essen und Kleidung.«

»Ich bringe ihr Essen«, sagte ich. »Und ich werde ihr auch Kleider bringen, sobald …« Ich zögerte, weil ich nicht gestehen wollte, wie arm ich war. »Sobald ich das hinbekomme.«

»Wozu warten? Wenn du doch nur jemandem davon erzählt hättest …«

»Ja, klar«, sagte ich sarkastisch. »Jamison würde natürlich sofort mit einer Schachtel Pralinen und einem Federbett hier anrücken, wenn er erfahren würde, dass eine halb verrückte Studentin in den Tunneln unter seiner Universität lebt. Sie würden sie in die Irrenanstalt stecken, das weißt du doch ganz genau.«

»Nicht unbedingt …« Sie sprach nicht weiter, denn sie wusste, dass ich recht hatte.

»Mola, wenn die Leute nach ihr suchen würden, würde sie sich in den Tunneln verstecken. Sie würden sie verjagen, und dann hätte ich keine Möglichkeit mehr, ihr zu helfen.«

Mola sah mich an, die Arme vor der Brust verschränkt. »Also gut. Aber du musst mich wieder mit hier raufnehmen. Ich werde ihr ein paar Kleider von mir mitbringen. Sie werden ihr zu groß sein, aber besser als das, was sie jetzt trägt.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das würde nicht funktionieren. Ich habe ihr vor ein paar Spannen schon mal ein Kleid aus zweiter Hand mitgebracht. Sie hat sich geweigert, es anzuziehen. Sie sagt, es sei widerlich, die abgelegten Kleider anderer Leute zu tragen.«

Mola guckte verwirrt. »Sie sah mir gar nicht kealdisch aus. Nicht mal ein bisschen.«

»Vielleicht wurde sie aber so erzogen.«

»Geht es dir besser?«

»Ja«, log ich.

»Du zitterst. Hier, stütz dich auf mich.«

Meinen neuen Umhang fest um mich geschlungen, nahm ich ihren Arm und ging langsam zum Anker’s zurück.

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