Kapitel 88

Zwischenspiel: Suche

Das Poltern schwerer Stiefel auf dem hölzernen Absatz vor dem Eingang schreckte die Männer auf, die im Wirtshaus zum Wegstein beieinander saßen. Kvothe sprang mitten im Satz auf und war schon halb hinter dem Tresen, als die Tür aufgerissen wurde und die ersten Gäste des Fellingabends hereinkamen.

»Hier kommen hungrige Männer, Kote!«, rief Cob. Shep, Jake und Graham drängten hinter ihm in den Schankraum.

»Wir haben noch etwas in der Küche«, erwiderte Kote. »Das könnte ich euch sofort bringen, es sei denn, ihr wollt erst mal was trinken.« Mit beifälligem Gemurmel ließen sich die Männer auf den Hockern am Tresen nieder. Die Unterhaltung hörte sich altvertraut an, so reibungslos wie gut eingelaufene Schuhe.

Der Chronist starrte den rothaarigen Mann hinter dem Tresen an. Er hatte nichts mehr von Kvothe an sich. Er war nur noch ein Gastwirt: freundlich, ja dienstfertig, und so bescheiden, dass man ihn fast nicht bemerkte.

Jake trank einen tiefen Schluck Bier und wurde dann auf den Chronisten aufmerksam, der am anderen Ende des Raums saß. »Na, schau mal einer an, Kote. Ein neuer Gast. Da können wir ja froh sein, dass wir überhaupt noch einen Platz bekommen haben.«

Shep kicherte. Cob drehte sich auf seinem Hocker um und spähte zu dem Tisch hinüber, an dem der Chronist neben Bast saß, die Feder immer noch über dem Papier. »Ist er ein Schreiber oder so was?«

»Ja, genau«, sagte Kote schnell. »Er kam gestern spät abends hier an.«

Cob schielte argwöhnisch hinüber. »Was schreibt er denn da?«

Kote senkte die Stimme ein wenig und lenkte damit die allgemeine Aufmerksamkeit von dem Chronisten auf seine Seite. »Wisst ihr noch, die Reise nach Baedn, die Bast kürzlich unternommen hat?« Die vier nickten aufmerksam. »Tja, wie sich später herausstellte, hätte er sich da um ein Haar die Blattern geholt, und seitdem spürt er sein Alter ein wenig. Und da dachte er wohl, es wäre am besten, wenn er jetzt sein Testament aufsetzt, solange er noch Gelegenheit dazu hat.«

»Das ist heutzutage sehr vernünftig«, sagte Shep mit finsterer Miene. Er trank sein Bier aus und klopfte mit dem leeren Krug auf den Tresen. »Noch eins, bitte.«

»Was ich an Geld gespart habe, soll die Witwe Sage bekommen«, sagte Bast so laut, dass man es auch noch am Tresen verstand. »Das soll ihr helfen, ihre drei Töchter aufzuziehen und ihnen eine Mitgift mitzugeben, denn sie sind ja nun bald im Heiratsalter.« Er sah den Chronisten besorgt an. »Kann man ›Heiratsalter‹ sagen?«

»Die kleine Katie hat sich dieses Jahr ganz schön gemacht, nicht wahr?«, sagte Graham, in Gedanken versunken. Die anderen nickten.

»Meinem Dienstherrn hinterlasse ich mein bestes Paar Stiefel«, fuhr Bast großmütig fort. »Und die von meinen Hosen, die ihm passen.«

»Der Junge hat wirklich schöne Stiefel«, sagte Cob zu Kote. »Ist mir immer schon aufgefallen.«

»Den Rest meiner irdischen Güter soll Pater Leoden unter seiner Gemeinde aufteilen«, schloss Bast. Er zuckte die Achseln. »Das war’s. Mehr fällt mir dazu jetzt nicht ein.« Der Chronist nickte und ließ seine Papiere, Federn und Tinte schnell in seiner Ledermappe verschwinden.

»Komm rüber!«, rief Cob ihm zu. »Trink ein Gläschen mit uns.« Der Chronist erstarrte und ging dann langsam in Richtung Tresen. »Wie heißt du, mein Junge?«, fragte Cob.

»Devan«, erwiderte der Chronist, blickte dann betreten und räusperte sich. »Verzeihung. Carverson. Devan Carverson.«

Cob stellte die anderen vor und wandte sich dann wieder an den Neuling, der mittlerweile auf einem Hocker Platz genommen hatte. »Woher kommst du, Devan?«, fragte er.

»Aus der Gegend hinter Abbott’s Ford.«

»Gibt’s da irgendwelche Neuigkeiten?«

Der Chronist rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her, und Kote beobachtete ihn mit ernstem Blick von der anderen Seite des Tresens aus. »Nun ja … Die Straßen sind ziemlich schlecht …«

Das löste einen vielstimmigen Chor altbekannter Beschwerden aus, und der Chronist atmete auf. Während sie immer noch meckerten und moserten, ging die Tür auf, und der Schmiedelehrling kam herein, jungenhaft und breitschultrig, mit dem Geruch von Kohlenrauch im Haar. Er trug eine lange Eisenstange auf der Schulter und hielt Carter die Tür auf.

»Du siehst lächerlich aus, Junge«, sagte Carter und kam dann mit der steifen Vorsicht des erst kürzlich Verletzten langsam herein. »Wenn du nicht aufhörst, diese Stange mit dir rumzuschleppen, werden die Leute anfangen über dich zu reden, wie sie jetzt über den verrückten Martin reden. Dann bist du der verrückte Junge aus Rannish. Willst du dir das die nächsten fünfzig Jahre lang anhören?«

Der Schmiedelehrling hantierte verlegen an der Eisenstange herum. »Sollen sie doch reden«, murmelte er trotzig. »Seit ich da draußen war und mich um Nelly gekümmert habe, habe ich Alpträume von diesem Spinnenvieh.« Er schüttelte den Kopf. »Wundert mich, dass du nicht gleich zwei Stangen mit dir herumträgst. Das Ding hätte dich fast umgebracht.«

Carter beachtete ihn nicht. Mit starrer Miene ging er vorsichtigen Schritts zum Tresen.

»Schön, dass du wieder auf den Beinen bist, Carter«, sagte Shep und hob seinen Krug. »Ich dachte, du würdest noch ein paar Tage lang das Bett hüten.«

»So eine Kleinigkeit haut mich nicht um«, erwiderte Carter.

Bast bot dem Verletzten mit großer Geste seinen Hocker an und ließ sich dann so weit wie möglich von dem Schmiedelehrling entfernt nieder. Dann wurde Carter von der ganzen Runde mit herzlichen Worten begrüßt.

Der Wirt verschwand im Hinterzimmer und kam ein paar Minuten später mit einem Tablett, mit ofenwarmem Brot und Schalen voller dampfendem Eintopf wieder.

Alle lauschten dem Chronisten. »… Wenn ich mich recht erinnere, war Kvothe in Severen, als das geschah. Er war gerade auf dem Heimweg –«

»Das war nicht in Severen«, sagte der alte Cob. »Das war an der Universität.«

»Mag sein«, räumte der Chronist ein. »Jedenfalls war er eines Abends auf dem Heimweg, als sich in einer Gasse ein paar Banditen auf ihn stürzten.«

»Das ist am hellichten Tage geschehen«, entgegnete Cob gereizt. »Und zwar mitten in der Stadt. Unter den Augen der Leute.«

Der Chronist schüttelte eigensinnig den Kopf. »Ich habe eine Gasse in Erinnerung. Jedenfalls: Die Banditen überfielen Kvothe. Sie wollten ihm das Pferd rauben.« Er hielt inne und rieb sich mit den Fingerspitzen die Stirn. »Nein, das stimmt nicht. In einer Gasse hätte er sein Pferd nicht dabei gehabt. Vielleicht war es doch in Severen.«

»Ich sagte doch, es war nicht in Severen!«, entgegnete Cob und schlug gereizt mit der Hand auf den Tisch. »Gütiger Tehlu, hör bloß auf. Du bringst nur alles durcheinander.«

Der Chronist errötete verlegen. »Ich habe die Geschichte nur einmal gehört. Und das ist schon Jahre her.«

Während Kote das Tablett mit lautem Scheppern auf den Tresen abstellte, warf er dem Chronisten einen bösen, durchdringenden Blick zu. Damit war die Geschichte fürs Erste vergessen. Der alte Cob aß so schnell auf, dass er fast keine Luft mehr bekam, und spülte dann alles mit einem großen Schluck Bier hinunter.

»Da du ja noch mit deinem Abendessen beschäftigt bist …«, sagte er nicht allzu beiläufig zu dem Chronisten und wischte sich den Mund an seinem Ärmel ab. »Würde es dich sehr stören, wenn ich die Geschichte weitererzähle? Nur damit der Junge sie hören kann.«

»Wenn du sicher bist, dass du sie kennst …«, erwiderte der Chronist zögernd.

»Natürlich kenne ich sie.« Cob rückte seinen Hocker zurecht und wandte sich zu seinem Publikum um. »Also gut. Damals, als Kvothe noch ganz jung war, ging er auf die Universität. Aber er wohnte nicht in der Universität, versteht ihr, weil er ja nur ein ganz normaler Junge war. Da gibt es nur so schicke Wohnungen, und das konnte er sich nicht leisten.«

»Wieso denn das?«, fragte der Schmiedelehrling. »Du hast doch gesagt, dass Kvothe so klug war, dass sie ihn dafür bezahlt haben, dass er dort studiert, und das, obwohl er erst zehn Jahre alt war. Sie gaben ihm einen Beutel voller Goldmünzen und einen Diamanten, so groß wie sein Daumenknöchel, und ein neues Pferd, mit nagelneuem Sattel- und Zaumzeug und frisch beschlagen und einen großen Sack Hafer und so weiter.«

Cob nickte beschwichtigend. »Ja, das stimmt auch. Aber das war ein oder zwei Jahre später. Und die meisten von den Goldmünzen hatte er armen Leuten geschenkt, deren Häuser abgebrannt waren.«

»Während einer Hochzeit«, ergänzte Graham.

Cob nickte. »Und Kvothe musste ja schließlich was essen, und er musste Miete zahlen und Hafer für sein Pferd kaufen. Daher war von den Goldmünzen da schon nichts mehr übrig. Und …«

»Und was ist mit dem Diamanten?«, beharrte der Junge.

Der alte Cob runzelte unmerklich die Stirn. »Wenn du es unbedingt wissen willst: Den Diamanten hatte er einer ganz besonderen Freundin geschenkt. Aber das ist eine ganz andere Geschichte als die, die ich hier gerade erzähle.« Er funkelte den Jungen an, der daraufhin klein beigab und weiter seinen Eintopf aß.

Cob fuhr fort: »Weil Kvothe sich keine Wohnung an der Universität leisten konnte, wohnte er in der Nachbarstadt, einem Ort namens Amary.« Er warf dem Chronisten einen spitzen Blick zu. »Kvothe hatte dort ein Zimmer in einem Wirtshaus, für das er nichts bezahlen musste, weil die Witwe, der das Wirtshaus gehörte, an ihm Gefallen gefunden hatte, und um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete er auch in dem Wirtshaus.«

»Er spielte dort auch Musik«, fügte Jake hinzu. »Er war ein sehr guter Lautenspieler.«

»Friss deinen Eintopf, und lass mich die Geschichte zu Ende erzählen«, schnauzte Cob ihn an. »Das weiß doch jeder, dass er ein sehr guter Lautenspieler war. Deshalb hatte die Witwe doch überhaupt Gefallen an ihm gefunden. Und dort jeden Abend aufzutreten gehörte ja zu seiner Arbeit.«

Cob trank schnell einen Schluck und fuhr dann fort: »Also, eines Tages war Kvothe gerade unterwegs, um ein paar Besorgungen für die Witwe zu erledigen, da kommt ein Kerl, zieht ein Messer und sagt zu Kvothe, wenn er ihm nicht das Geld der Witwe gibt, schlitzt er ihn auf und verteilt seine Eingeweide auf der Straße.« Cob richtete ein imaginäres Messer auf den Jungen und blickte ihn drohend an. »Und jetzt müsst ihr bedenken: Das war damals, als Kvothe noch klein war. Er hatte kein Schwert, und selbst wenn er eins gehabt hätte – die Adem hatten ihn noch nicht im Schwertkampf geschult.«

»Und was hat Kvothe da gemacht?«, fragte der Schmiedelehrling.

»Nun ja«, sagte Cob und lehnte sich auf seinem Hocker zurück. »Es war am hellichten Tag, und sie waren mitten auf dem Marktplatz von Amary. Kvothe wollte schon nach der Polizei rufen, aber er hielt ja immer die Augen offen, versteht ihr? Und daher fiel ihm auf, dass der Kerl makellos weiße Zähne hatte …«

Der Junge bekam große Augen. »Ein Harzsüchtiger?«

Cob nickte. »Und was noch schlimmer war: Der Kerl schwitzte wie ein durchgerittener Gaul, und seine Augen blickten ganz irr, und seine Hände …« Cob streckte mit weit aufgerissenen Augen die Hände aus und ließ sie zittern. »Und daran erkannte Kvothe, dass der Kerl dringend seine Droge brauchte, und das bedeutete, dass er für einen lumpigen Penny seine eigene Mutter abgemurkst hätte.« Cob nahm einen tiefen Schluck, um es spannend zu machen.

»Was um alles in der Welt hat er dann getan?«, brach es aus Bast heraus, der am anderen Ende des Tresens besorgt die Hände rang. Der Wirt warf seinem Schüler einen zornigen Blick zu.

Cob fuhr fort: »Nun, zunächst zögerte er noch. Und der Mann mit dem Messer kommt näher, Kvothe wird klar, dass der Kerl ihn nicht noch einmal fragt. Und da greift Kvothe zu einem dunklen Zauber, den er in einem geheimen Buch in der Universität entdeckt hatte. Er sagt drei schreckliche, geheime Worte und beschwört einen Dämon –«

»Einen Dämon?«, jaulte der Schmiedelehrling förmlich. »So einen wie …«

Cob schüttelte langsam den Kopf. »Oh nein, dieser Dämon hatte keine Spinnengestalt. Er war viel schlimmer. Dieser Dämon bestand nur aus Schatten, und er stürzte sich auf den Mann und biss ihn in die Brust, direkt über dem Herzen, und saugte sein Blut aus, bis nichts mehr übrig war, so wie unsereins den Saft aus einer Pflaume lutscht.«

»Verdammt noch mal, Cob«, sagte Carter vorwurfsvoll. »Davon kriegt der Junge doch noch mehr Alpträume. Wenn du ihm diesen ganzen Blödsinn eintrichterst, legt er die verdammte Eisenstange nie mehr aus der Hand.«

»Außerdem habe ich das anders gehört«, schaltete sich Graham ein. »Ich habe es so gehört, dass da eine Frau in einem brennenden Haus eingesperrt war, und Kvothe beschwor den Dämon herauf, damit der ihn vor dem Feuer beschützte. Dann lief er in das Haus und trug die Frau heraus, und sie hatte sich kein bisschen verbrannt.«

»Ihr müsstet euch mal hören«, sagte Jake angewidert. »Ihr hört euch an wie kleine Kinder an Mittwinter. ›Die Dämonen haben meine Puppe geklaut‹, ›Die Dämonen haben die Milch verschüttet‹. Kvothe hatte mit Dämonen nichts zu schaffen. Er war an der Universität, um dort alle möglichen Namen zu erlernen, klar? Als der Kerl mit dem Messer auf ihn losging, hat er Feuer und Blitz auf ihn herabbeschworen, genau wie Taborlin der Große.«

»Es war ein Dämon, Jake«, erwiderte Cob verärgert. »Sonst würde die Geschichte doch überhaupt keinen Sinn ergeben. Er beschwor einen Dämon herbei, und der saugte dem Kerl das ganze Blut aus, und alle, die es sahen, waren vollkommen entsetzt. Jemand erzählte es einem Priester, und dann gingen die Priester zur Polizei, und die Polizei zerrte ihn an diesem Abend aus dem Wirtshaus der Witwe und warf ihn in den Kerker, weil er sich mit dunklen Mächten eingelassen hatte.«

»Die Leute haben wahrscheinlich nur das Feuer gesehen und gedacht, es wäre ein Dämon gewesen«, beharrte Jake. »Du weißt doch, wie die Leute so sind.«

»Nein, das weiß ich nicht, Jacob«, entgegnete Cob barsch, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen. »Warum erzählst du mir nicht, wie die Leute so sind? Und überhaupt: Warum erzählst du diese ganze verdammte Geschichte nicht selbst, wo du doch …«

Cob hielt inne, als draußen vor der Eingangstür schwere Stiefel über den hölzernen Absatz polterten. Nach einer kurzen Stille fummelte jemand an der Klinke herum.

Alle wandten sich neugierig zum Eingang, die Stammgäste waren schließlich schon alle da. »Zwei neue Gesichter an einem Tag«, bemerkte Graham in vorsichtigem Ton, da er wusste, dass er damit einen wunden Punkt berührte. »Sieht so aus, als wäre deine Durststrecke zu Ende, Kote.«

»Dann müssen die Straßen wohl besser geworden sein«, sagte Shep, und es klang ein wenig erleichtert. »Das wurde aber auch wirklich Zeit.«

Die Klinke klickte, und die Tür öffnete sich langsam, bis sie an die Wand schlug. Draußen im Dunkeln stand ein Mann, so als überlege er noch, ob er hereinkommen sollte oder nicht.

»Willkommen im Wegstein!«, rief der Wirt hinterm Tresen. »Was können wir für Euch tun?«

Da trat der Mann ins Licht, und die Erregung der Stammgäste wurde augenblicklich erstickt, als sie den Lederpanzer und das große Schwert erblickten, an denen sie erkannten, dass es sich bei ihm um einen Söldner handelte. Ein einzelner Söldner war selbst zu den besten Zeiten kein beruhigender Anblick. Allen war klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ein arbeitsloser Söldner zum Straßenräuber wurde.

Hinzu kam, dass dieser Söldner offenbar gerade eine schwere Zeit durchmachte. Kletten hingen an seinen Hosenbeinen und an den rohledernen Schnürbändern seiner Stiefel. Sein Hemd war aus feinstem Leinen und königsblau gefärbt, aber mit Schlammspritzern übersät und von Dornen aufgerissen. Sein Haar war fettig und verfilzt. Seine dunklen Augen lagen tief, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Er kam noch ein paar Schritte weiter in den Schankraum und ließ die Tür hinter sich offenstehen.

»Sieht so aus, als wäret Ihr eine ganze Weile unterwegs gewesen«, sagte Kvothe frohgemut. »Möchtet Ihr etwas zu trinken oder zu essen?« Als der Söldner nicht darauf reagierte, fügte er hinzu: »Wir hätten auch alle Verständnis dafür, wenn Ihr erst einmal ein wenig schlafen wolltet. Ihr seht so aus, als hättet Ihr harte Tage hinter Euch.« Kvothe warf Bast einen Blick zu. Der glitt daraufhin von seinem Hocker und schloss die Eingangstür des Wirtshauses.

Nachdem er sich angesehen hatte, wer alles am Tresen saß, steuerte der Söldner mit langsamen Schritten auf die Lücke zwischen dem Chronisten und dem alten Cob zu. Kvothe lächelte sein bestes Gastwirtslächeln, und der Söldner lehnte sich schwer an den Tresen und murmelte etwas.

Auf der anderen Seite erstarrte Bast, die Hand noch an der Türklinke.

»Wie bitte?«, fragte Kvothe und beugte sich vor.

Der Söldner hob den Blick, sah Kvothe in die Augen und ließ den Blick dann hinter dem Tresen hin und her schweifen. Seine Augen bewegten sich träge, so als hätte er einen Schlag an den Kopf abbekommen. »Aethin tseh chtystoi scthaiven vei.«

Kvothe beugte sich weiter vor. »Verzeihung. Wie war das?« Als der Söldner nicht antwortete, sah er sich unter den anderen Männern am Tresen um. »Hat einer von euch das verstanden?«

Der Chronist starrte den Söldner sehr aufmerksam an – den Lederpanzer, den leeren Köcher, das königsblaue Hemd aus feinstem Leinen. Der Söldner schien seinen Blick nicht zu bemerken.

»Das war Siaru«, sagte Cob mit Kennermiene. »Komisch. Er sieht gar nicht wie ein Kealde aus.«

Shep lachte und schüttelte den Kopf. »Nee. Der ist bloß betrunken. Mein Onkel hat auch immer so geredet, wenn er einen im Kahn hatte.« Er stupste Graham mit dem Ellbogen an. »Erinnerst du dich noch an meinen Onkel Tam? Mein Gott, das war wirklich der größte Schluckspecht, den ich je gekannt habe.«

Bast versuchte am Eingang, Kvothe mit einer verzweifelten, heimlichen Geste auf sich aufmerksam zu machen, doch der Wirt war viel zu sehr damit beschäftigt, den Blick des Söldners zu erhaschen. »Sprecht Ihr Aturisch?«, fragte er langsam. »Was wollt Ihr?«

Der Blick des Söldners blieb kurz auf dem Gesicht des Wirts ruhen. »Avoi –«, setzte er an, schloss dann die Augen und neigte den Kopf, so als lausche er auf etwas. Dann schlug er die Augen wieder auf.

»Ich … will …«, begann er mit schwerer Zunge. »Ich … suche …« Dann verstummte er wieder und sah sich mit trübem Blick ziellos im Raum um.

»Ich kenne ihn«, sagte der Chronist.

Alle sahen sich zu ihm um. »Was?«, fragte Shep.

Die Miene des Chronisten verfinsterte sich. »Dieser Kerl und vier seiner Spießgesellen haben mich vor einigen Tagen ausgeraubt. Ich habe ihn erst nicht erkannt, denn da war er glatt rasiert, aber er ist es.«

Hinter dem Rücken des Mannes machte Bast eine noch dringlichere Geste und versuchte, die Aufmerksamkeit seines Herrn auf sich zu ziehen, doch Kvothe konzentrierte sich ganz auf den benebelten Mann.

»Bist du sicher?«

Der Chronist lachte bitter. »Er trägt mein Hemd. Und er hat es auch noch ruiniert. Es hat mich ein ganzes Talent gekostet. Und ich hatte es noch kein einziges Mal angehabt.«

»War er da auch schon so?«

Der Chronist schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Für einen Straßenräuber hat er sich geradezu vornehm verhalten. Ich hatte ihn für einen desertierten Offizier gehalten.«

Bast gab das Gestikulieren auf. »Reshi!«, rief er, mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme.

»Einen Moment, Bast«, sagte Kvothe, der immer noch versuchte, sich mit dem benommenen Söldner zu verständigen. Er wedelte vor den Augen des Mannes mit der Hand und schnippte mit dem Finger. »Hallo?«

Der Blick des Mannes folgte Kvothes Handbewegungen, aber was um ihn her gesprochen wurde, schien er nicht zu bemerken. »Ich … suche …«, sagte er langsam. »Ich … suche …«

»Was?«, fragte Cob gereizt. »Was sucht Ihr?«

»Suche …«, wiederholte der Söldner noch einmal.

»Er sucht wahrscheinlich nach einer Möglichkeit, mir mein Pferd zurückzugeben«, sagte der Chronist ganz ruhig, trat einen halben Schritt näher an den Mann heran und packte den Griff seines Schwerts. Mit einem Ruck zog er es aus der Scheide, oder versuchte es vielmehr, denn es blieb auf halbem Weg stecken.

»Nicht!«, schrie Bast quer durch den Raum.

Der Söldner starrte den Chronisten mit leerem Blick an, machte aber keine Anstalten, ihn aufzuhalten. Verlegen und immer noch den Griff des Schwerts in der Hand, zog der Chronist noch einmal fester, und das Schwert löste sich aus der Scheide. Die breite Klinge war mit Blut- und Rostflecken übersät.

Der Chronist trat einen Schritt zurück, fand seine Selbstbeherrschung wieder und richtete das Schwert auf den Söldner. »Und mein Pferd ist nur der Anfang. Anschließend wird er, glaube ich, nach einer Möglichkeit suchen, mir mein Geld zurückzugeben, und dann wird er ein nettes Gespräch mit der Polizei führen.«

Der Söldner richtete den Blick auf die Schwertspitze, die vor seiner Brust hin und her wackelte. Sein Blick folgte dieser Bewegung eine ganze Weile.

»Lasst ihn in Ruhe!« Basts Stimme klang jetzt schrill. »Bitte!«

Cob nickte. »Er hat recht, Devan. Der Kerl ist nicht ganz richtig im Kopf. Hör auf, das Ding auf ihn zu richten. Nachher fällt er dir noch in die Klinge.«

Der Söldner hob geistesabwesend eine Hand. »Ich suche …«, sagte er noch einmal und schob das Schwert beiseite, als wäre es ein Zweig, der ihm im Weg war. Der Chronist zögerte kurz und riss dann das Schwert fort, als der Mann mit der Hand über die Schneide fuhr und sich dabei eine blutende Schnittwunde zufügte.

»Siehst du?«, sagte der alte Cob. »Was habe ich dir gesagt? Der Kerl ist eine Gefahr für sich selbst.«

Der Söldner legte den Kopf auf die Seite. Er hob seine Hand und betrachtete sie. Blut rann ihm am Daumen hinab, sammelte sich und tropfte auf den Boden. Er holte tief Luft durch die Nase, und plötzlich erwachten seine tief liegenden, bis dahin glasigen Augen zu neuem Leben.

Er lächelte den Chronisten an, und alle Verschwommenheit war aus seiner Miene verschwunden. »Te varaiyn aroi Seathaloi vei mela«, sagte er mit tiefer Stimme.

»Ich, äh … ich kann Euch nicht folgen«, sagte der Chronist verwirrt.

Da erstarb das Lächeln des Mannes. Seine Augen wurden hart und zornig. »Te-tauren sciyrloet? Amauen.«

»Ich verstehe nicht, was Ihr sagt«, erwiderte der Chronist. »Aber Euer Tonfall gefällt mir nicht.« Er hob erneut das Schwert und richtete es auf die Brust des Mannes.

Der Söldner blickte auf die schwere, mit Kerben übersäte Klinge und runzelte verwirrt die Stirn. Dann zeigte sich mit einem Mal Verständnis auf seinem Gesicht, und das Lächeln kehrte zurück. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte.

Sein Lachen klang nicht menschlich. Es klang animalisch, wie der Schrei eines Adlers.

Der Söldner hob die verletzte Hand und ergriff die Schwertspitze. Er bewegte sich dabei so schnell, dass die Klinge bei der Berührung dumpf klirrte. Immer noch lächelnd, packte er fester zu und beugte die Klinge. Blut lief ihm aus der Hand, die Klinge hinab, und tropfte zu Boden.

Der ganze Raum sah fassungslos zu. Man hörte jetzt nur noch das leise Knirschen der Fingerknochen des Söldners auf der blanken Schneide des Schwerts.

Den Chronisten fest im Blick, riss der Söldner ruckartig die Hand herum, und die Klinge brach, und es klang wie eine zerschellende Glocke. Während der Chronist noch stumm auf die zerbrochene Waffe starrte, trat der Söldner einen Schritt vor und legte dem Chronisten die freie Hand leicht auf die Schulter.

Der Chronist stieß einen erstickten Schrei aus und zuckte zurück, als hätte man ihn mit einem heißen Schüreisen berührt. Er schwang das abgebrochene Schwert, stieß damit die Hand fort und rammte die Klinge dem Söldner tief in den Arm. Dem Gesicht des Mannes war weder Schmerz noch Furcht anzusehen, ja, er schien überhaupt nicht zu bemerken, dass er verletzt war.

Immer noch die abgebrochene Schwertspitze in der blutenden Hand, ging der Söldner noch einen Schritt auf den Chronisten zu.

Dann war Bast zur Stelle, rammte den Söldner mit der Schulter und traf ihn mit solcher Wucht, dass unter dem Leib des Mannes ein Hocker zerbrach, ehe er an dem Mahagonitresen auftraf. Bast packte den Kopf des Mannes mit beiden Händen und knallte ihn mit voller Wucht auf die Tresenkante – einmal, zweimal …

Dann, als hätte Bast sie alle geweckt, brach im Schankraum Chaos aus. Der alte Cob stieß sich vom Tresen ab, und dabei fiel sein Hocker um. Graham brüllte irgendetwas von wegen Polizei. Jake wollte den Ausgang erreichen, stolperte aber über Cobs umgestoßenen Hocker und schlug der Länge nach hin. Der Schmiedelehrling griff nach seiner Eisenstange, sie fiel ihm aber versehentlich zu Boden und kullerte schließlich in einem großen Bogen unter einen Tisch.

Bast jaulte verblüfft auf, als er quer durch den Raum geschleudert wurde und auf einem der schweren Holztische landete. Der Tisch brach unter ihm zusammen, und nun lag er reglos in den Trümmern. Der Söldner richtete sich auf, Blut lief ihm die linke Gesichtshälfte hinab. Ihn schien das alles völlig gleichgültig zu lassen, als er sich wieder zu dem Chronisten umwandte, immer noch die abgebrochene Schwertspitze in der blutenden Hand.

Hinter ihm schnappte sich Shep ein Messer, das neben einem halbrunden Stück Käse gelegen hatte. Es war nur ein Küchenmesser, die Klinge etwa eine Handspanne lang. Mit grimmigem Blick rammte er sie dem Söldner bis zum Heft zwischen Schulter und Hals.

Doch statt zusammenzubrechen, wirbelte der Söldner herum und schlug Shep mit der schartigen Schwertschneide ins Gesicht. Blut spritzte, und Shep hob die Hände vors Gesicht. Dann riss der Söldner, so schnell, dass es kaum mehr als eine Zuckung war, das Metallstück herum und rammte es Shep in die Brust. Der strauchelte rückwärts an den Tresen und ging zu Boden, die abgebrochene Schwertspitze zwischen den Rippen.

Der Söldner griff sich an den Nacken und betastete neugierig den Griff des Messers, das dort steckte. Er blickte eher verblüfft als verärgert und zog daran. Als sich das Messer nicht ohne weiteres herausziehen ließ, lachte er wieder dieses wilde, raubvogelartige Lachen.

Shep lag keuchend und blutend am Boden, und der Söldner beachtete ihn gar nicht mehr, so als hätte er schon vergessen, was er gerade getan hatte. Er ließ den Blick langsam durch den Raum schweifen, vorbei an den zerbrochenen Tischen, dem schwarzen Kamin, den großen Eichenfässern. Schließlich richtete sich der Blick des Söldners auf den rothaarigen Mann hinter dem Tresen. Kvothe wurde nicht bleich und wich auch nicht zurück, als ihn der Söldner in den Blick nahm. Sie sahen einander in die Augen.

Der auf Kvothe gerichtete Blick des Söldners nahm an Schärfe zu. Dann setzte er wieder sein breites, humorloses Lächeln auf, und durch das Blut, das ihm am Gesicht hinunterlief, wirkte es noch makaberer. »Te aithiyn Seathaloi?«, fragte er in herrischem Ton. »Te Rhintae?«

Mit einer beinahe beiläufigen Bewegung griff Kvothe sich eine dunkle Flasche vom Büfett und schwang sie über den Tresen. Sie traf den Söldner am Mund und zerplatzte. Holunderbeergeruch erfüllte die Luft, und der Beerenbrand ergoss sich auf das immer noch grinsende Gesicht des Mannes und auf seine Schultern.

Kvothe tunkte einen Finger in die Schnapslache auf dem Tresen, murmelte etwas und zog vor Konzentration die Stirn in Falten. Dann starrte er den blutenden Mann an, der auf der anderen Seite des Tresens stand.

Nichts geschah.

Der Söldner griff über den Tresen und suchte Kvothe am Ärmel zu packen. Der Wirt stand einfach nur da, und in diesem Moment war auf seinem Gesicht weder Furcht noch Wut noch Erstaunen zu erkennen. Er wirkte nur noch erschöpft und benommen.

Doch ehe der Söldner Kvothes Arm zu fassen bekam, strauchelte er, denn Bast rammte ihn von hinten. Er legte ihm einen Arm um den Hals und grub ihm die andere Hand ins Gesicht. Der Söldner ließ Kvothe los und packte mit beiden Händen den Arm, der seinen Hals würgte. Als die Hände des Söldners ihn berührten, verwandelte sich Basts Gesicht in eine Maske des Schmerzes. Die Zähne gebleckt, krallte er mit der freien Hand nach den Augen des Söldners.

Am anderen Ende des Raums zog der Schmiedelehrling endlich die Eisenstange unter dem Tisch hervor und richtete sich zu voller Größe auf. Dann stürmte er über die umgestürzten Hocker und riss brüllend die Eisenstange hoch empor.

Basts Augen weiteten sich vor Panik, als er den Schmiedelehrling kommen sah. Er ließ von dem Söldner ab, wich zurück und blieb mit den Füßen in den Trümmern eines Hockers hängen. Er kroch, so schnell er konnte, fort von den beiden.

Der Söldner drehte sich um und sah den großen Jungen, der auf ihn zustürmte. Er lächelte und streckte mit einer lässigen, fast anmutigen Bewegung seine blutende Hand aus.

Der Schmiedelehrling schlug den Arm beiseite. Als die Eisenstange ihn traf, schwand das Lächeln des Söldners. Er hielt sich den Arm und fauchte wie eine wütende Katze.

Der Junge schlug erneut mit der Eisenstange zu und traf den Söldner diesmal in den Brustkasten. Die Wucht des Schlags riss ihn vom Tresen fort, und er landete auf allen Vieren, schreiend wie ein Lamm auf der Schlachtbank.

Nun packte der Schmiedelehrling die Eisenstange mit beiden Händen und hieb damit auf den Rücken des Söldners ein, als würde er mit einer Axt Holz hacken. Man hörte Knochen knacken. Die Eisenstange klirrte leise, wie ferner, nebelgedämpfter Glockenschlag.

Mit gebrochener Wirbelsäule versuchte der blutüberströmte Mann immer noch, zum Ausgang zu kriechen. Sein Gesicht war jetzt ausdruckslos, und aus seinem Mund drang ein tiefes Heulen, wie der Wind im winterlichen Wald. Der Schmiedelehrling schlug wieder und wieder zu, schwang die schwere Eisenstange mit einer Leichtigkeit, als wäre es eine Weidengerte. Er hieb eine tiefe Kerbe in den Dielenboden und brach dem Mann ein Bein, einen Arm, weitere Rippen. Doch immer noch versuchte der Söldner in Richtung Ausgang zu kriechen. Er ächzte und stieß schrille Schreie aus und dabei hörte er sich eher wie ein Tier als wie ein menschliches Wesen an.

Schließlich landete der Junge einen Schlag an den Kopf, und da erstarrte der Söldner und blieb reglos liegen. Einen Moment lang war es vollkommen still, und dann erbrach der Mann eine stinkende Flüssigkeit, zäh wie Pech und schwarz wie Tinte.

Es dauerte noch eine Weile, bis der Schmiedelehrling aufhörte, auf den reglosen Leib einzuprügeln, und selbst als er aufgehört hatte, hielt er die Eisenstange immer noch hoch erhoben, keuchte völlig erschöpft und blickte sich wild um. Als er wieder zu Atem kam, hörte man vom anderen Ende des Raums her, wo der alte Cob vor dem schwarzen Kamin kauerte, leises Beten.

Einige Minuten später verstummten auch diese Gebete, und im Wirtshaus zum Wegstein kehrte wieder Stille ein.

In den folgenden Stunden stand das Wirtshaus im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Der Schankraum war voller Leute und erfüllt von Geflüster, gemurmelten Fragen, gedämpften Schluchzern. Wer nicht ganz so neugierig war oder mehr Anstand besaß, blieb draußen, spähte durch die Fenster hinein und beriet sich über das, was man gehört hatte.

Es gab noch keine zusammenhängende Geschichte, nur jede Menge Gerüchte. Der Tote war ein Straßenräuber, der das Wirtshaus überfallen wollte. Er war gekommen, um sich an dem Chronisten zu rächen, der in Abbott’s Ford seine Schwester entjungfert hatte. Er war ein Waldarbeiter, der tollwütig geworden war. Er war ein alter Bekannter des Wirts, der Schulden eintreiben wollte. Er war ein ehemaliger Soldat, der bei den Kämpfen gegen die Rebellen in Resavek wahnsinnig geworden war.

Jake und Carter wiesen immer wieder auf das Lächeln des Mannes hin. Dennersucht war zwar eher ein großstädtisches Phänomen, die Leute hier hatten aber durchaus schon von Harzsüchtigen gehört. Dreifinger-Tom kannte sich mit diesen Dingen aus, denn er hatte vor fast dreißig Jahren im Heer des alten Königs gedient. Er erklärte, wenn man vier Gran Dennerharz einnehme, könne man sich den Fuß amputieren lassen, ohne dabei Schmerzen zu empfinden. Mit acht Gran intus würde man sich bereitwillig selber den Knochen durchsägen. Mit zwölf Gran würde man anschließend, lachend und ein fröhliches Liedchen singend, zu einem Dauerlauf aufbrechen.

Sheps Leichnam wurde zugedeckt, und der Priester betete bei ihm. Anschließend schaute der Wachtmeister ihn sich an, doch er war damit vollkommen überfordert und schaute sich die Leiche eher aus Pflichtgefühl an, als dass er gewusst hätte, worauf er denn nun achten sollte.

Nach einer Stunde hatte sich die Menge schon gelichtet. Sheps Brüder kamen mit einem Karren und brachten den Leichnam fort. Ihre grimmigen Blicke aus rot unterlaufenen Augen vertrieben die meisten der verbliebenen Schaulustigen.

Es gab viel zu tun. Der Wachtmeister versuchte sich anhand von Zeugenaussagen ein Bild vom Ablauf der Ereignisse zu machen. Nach stundenlangen Spekulationen einigte man sich schließlich darauf, was geschehen war: Der Mann war ein Deserteur und Dennersüchtiger gewesen, und just als er in ihre kleine Ortschaft gekommen war, war er verrückt geworden.

Alle waren sich einig, dass der Schmiedelehrling das Richtige getan hatte, ja, dass es eine Heldentat gewesen war. Dennoch verlangte das Eiserne Gesetz ein Gerichtsverfahren, das nächsten Monat stattfinden sollte, wenn der Gerichtshof auf seiner Rundreise durch diese Gegend kam.

Der Wachtmeister ging heim zu seiner Frau und seinen Kindern. Der Priester ließ die sterblichen Überreste des Söldners zur Kirche bringen. Bast räumte die zertrümmerten Möbelstücke fort und warf sie in der Nähe der Küchentür auf einen Haufen, um sie später als Brennholz zu verwenden. Der Wirt wischte den Dielenboden des Schankraums sieben Mal, bis sich das Wasser in seinem Eimer nicht mehr rötlich färbte. Schließlich verschwanden auch die hartnäckigsten Schaulustigen, und es blieben nur die Fellingabend-Stammgäste zurück – bis auf einen.

Jake, Cob und die anderen plauderten stockend über alles Mögliche, bloß nicht über das, was an diesem Abend geschehen war. Sie klammerten sich an den Trost, den die Gesellschaft der anderen spendete.

Einen nach dem anderen trieb die Erschöpfung nach Hause. Schließlich blieb nur noch der Schmiedelehrling zurück. Er saß da und starrte in seine hohlen Hände. Die Eisenstange lag neben seinem Ellenbogen auf dem Tresen.

Fast eine halbe Stunde verstrich, ohne dass jemand etwas sagte. Der Chronist saß ein Stück entfernt an einem Tisch und tat, als würde er seinen Eintopf aufessen. Kvothe und Bast liefen hin und her und gaben sich geschäftig. Eine vage Spannung baute sich im Raum auf, während sie einander Blicke zuwarfen und darauf warteten, dass der Junge endlich aufbrach.

Schließlich ging der Wirt an den Tresen und trocknete sich die Hände mit einem frischen Leinentuch ab. »Also, Junge …«

»Aaron«, unterbrach ihn der Schmiedelehrling, ohne von seinem Krug aufzublicken. »Ich heiße Aaron.«

Kvothe nickte ernst. »Aaron. Das hast du dir verdient.«

»Ich glaube nicht, dass es Denner war«, sagte Aaron unvermittelt.

Kvothe hielt inne. »Wie bitte?«

»Ich glaube nicht, dass der Kerl ein Harzsüchtiger war.«

»Dann siehst du es wie Cob?«, fragte Kvothe. »Er war tollwütig?«

»Ich glaube, es steckte ein Dämon in ihm«, sagte der Junge wie nach reiflicher Überlegung. »Ich habe vorhin nichts gesagt, weil ich nicht will, dass die Leute glauben, ich wäre durchgedreht wie der verrückte Martin.« Er blickte von seinem Krug auf. »Aber ich glaube, dass ein Dämon in ihm steckte.«

Kvothe lächelte freundlich und wies auf Bast und den Chronisten. »Und fürchtest du nicht, dass wir das gleiche denken könnten?«

Aaron schüttelte ernst den Kopf. »Ihr seid nicht von hier. Ihr kennt die Welt. Und ihr wisst, was es da draußen alles gibt.« Er sah Kvothe an. »Und ich glaube, du weißt auch, dass es ein Dämon war.«

Bast, der gerade in der Nähe des Kamins den Boden kehrte, hielt inne. Kvothe legte den Kopf neugierig auf die Seite, ohne den Blick abzuwenden. »Wieso sagst du das?«

»Ich weiß, dass du da einen schweren Eichenprügel für schwierige Kundschaft unter dem Tresen liegen hast. Und … na ja …« Er hob den Blick zu dem Schwert, das bedrohlich über dem Tresen hing. »Mir fällt nur ein Grund ein, warum du stattdessen zu einer Flasche gegriffen hast. Du wolltest dem Kerl nicht die Zähne einschlagen. Du wolltest ihn in Brand setzen. Bloß dass du keine Streichhölzer zur Hand hattest und in der Nähe auch keine Kerze stand. – Meine Mama hat mir früher immer aus dem Buch des Weges vorgelesen«, fuhr er fort. »Und da kommen jede Menge Dämonen vor. Manche verstecken sich im Körper eines Menschen, so wie wir uns ein Schaffell überziehen. Ich glaube, er war nur ein ganz normaler Bursche, in dem aber ein Dämon steckte. Darum hat er keine Schmerzen gespürt. Das ist dann so, als würde man einem Löcher ins Hemd bohren. Und darum hat er auch so komisch geredet. Das war Dämonensprache.«

Aaron blickte wieder auf den Krug, den er in der Hand hielt, und nickte. »Je länger ich darüber nachdenke, desto plausibler erscheint es mir. Eisen und Feuer. Das fürchten Dämonen.«

»Diese Harzsüchtigen sind stärker, als man denkt«, sagte Bast am anderen Ende des Raums. »Ich habe mal gesehen, wie einer –«

»Du hast recht«, sagte Kvothe. »Es war ein Dämon.«

Aaron hob den Blick, sah Kvothe in die Augen, nickte und schaute wieder in seinen Krug. »Und du hast nichts gesagt, weil du neu in der Stadt bist und die Geschäfte schon schlecht genug laufen.«

Kvothe nickte.

»Und es würde mir nichts bringen, wenn ich den Leuten davon erzählen würde, nicht wahr?«

Kvothe atmete tief durch. »Wahrscheinlich nicht.«

Aaron trank sein Bier aus und schob den leeren Krug von sich fort. »Gut. Ich wollte das bloß hören. Ich wollte sicher sein, dass ich nicht verrückt geworden bin.« Dann erhob er sich, nahm die schwere Eisenstange, legte sie sich auf die Schultern und wandte sich zum Ausgang. Niemand sagte etwas, als er durch den Schankraum ging und schließlich die Eingangstür hinter sich schloss. Man hörte seine schweren Stiefel noch draußen auf dem hölzernen Absatz, und dann herrschte wieder Stille.

»In dem steckt mehr, als ich gedacht hätte«, sagte Kvothe schließlich.

»Das liegt daran, dass er so groß ist«, erwiderte Bast sachlich-nüchtern und gab es auf, so zu tun, als kehrte er den Boden. »Ihr Menschen lasst euch viel zu leicht von Äußerlichkeiten ablenken. Ich habe ihn schon eine ganze Weile im Blick. Er ist klüger als die Leute glauben. Schaut sich alles ganz genau an und stellt die richtigen Fragen.« Er kam mit dem Besen zurück an den Tresen. »Er macht mich nervös.«

Kvothe blickte belustigt. »Nervös? Dich?«

»Der Junge riecht nach Eisen. Den ganzen Tag lang hantiert er damit und atmet Eisendampf ein. Und dann kommt er hierher mit seinen klugen Augen.« Bast schaute missbilligend drein. »Das ist nicht normal.«

»Normal?«, meldete sich der Chronist endlich zu Wort. In seinem Ton schwang leichte Hysterie mit. »Was wisst Ihr denn schon von normal? Ich habe gerade einen Dämon einen Menschen töten sehen. War das etwa normal?« Er wandte sich an Kvothe. »Was zum Teufel wollte er denn überhaupt hier?«

»Suchen«, erwiderte Kvothe. »Mehr habe ich nicht verstanden. Wie steht’s mit dir, Bast? Hast du irgendwas von dem verstanden, was er gesagt hat?«

Bast schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe nur den Klang erkannt, Reshi. Die Ausdrucksweise war ausgesprochen archaisch. Aber schlau draus geworden bin ich nicht.«

»Also gut. Er war auf der Suche«, sagte der Chronist. »Aber auf der Suche wonach?«

»Nach mir wahrscheinlich«, sagte Kvothe düster.

»Reshi«, tadelte Bast. »Jetzt werd bitte nicht rührselig. Es war nicht deine Schuld.«

Kvothe warf seinem Schüler einen erschöpften Blick zu. »Das weißt du doch besser, Bast. Es ist alles meine Schuld. Die Skrael, der Krieg. Alles meine Schuld.«

Bast sah aus, als wollte er widersprechen, als fehlten ihm aber die richtigen Worte. Nach einem Moment gab er es auf und wandte den Blick ab.

Kvothe stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tresen und seufzte. »Was glaubst du denn, was es war?«

Bast schüttelte den Kopf. »Er kam mir wie ein Mahael-uret vor, Reshi. Ein Hauttänzer.« Er runzelte die Stirn und klang nicht gerade, als ob er sich da sicher wäre.

Kvothe hob eine Augenbraue. »Er war keiner von den deinen?«

Basts sonst so freundliche Miene verfinsterte sich. »Nein, er war keiner von ›den meinen‹«, erwiderte er entrüstet. »Mit den Mael haben wir nicht einmal eine gemeinsame Grenze. Wir sind so weit auseinander, wie man das in unserem Reich nur sein kann.«

Kvothe nickte beschwichtigend. »Ich bin bloß davon ausgegangen, dass du wusstest, was es für einer war. Du hast nicht gezögert, ihn anzugreifen.«

»Giftschlangen beißen, Reshi. Um zu wissen, dass sie gefährlich sind, muss ich ihre Namen nicht kennen. Ich hatte in ihm einen der Mael erkannt. Und das genügte mir.«

»Also wahrscheinlich ein Hauttänzer, ja?«, sagte Kvothe nachdenklich. »Hast du mir nicht erzählt, die wären schon vor ewigen Zeiten ausgestorben?«

Bast nickte. »Und er kam mir auch irgendwie … dumm vor. Und er hat nicht versucht, in einen anderen Körper auszuweichen.« Bast zuckte die Achseln. »Und außerdem sind wir drei noch am Leben. Das deutet darauf hin, dass er doch etwas anderes war.«

Der Chronist folgte dem Gespräch mit ungläubiger Miene. »Soll das heißen, dass ihr beide nicht wisst, was das war?« Er sah zu Kvothe hinüber. »Ihr habt dem Jungen gesagt, es sei ein Dämon gewesen!«

»Für den Jungen war es ein Dämon«, erwiderte Kvothe. »Das ist für ihn noch am einfachsten zu verstehen, und außerdem kommt es der Wahrheit schon recht nah.« Er begann, langsam den Tresen zu polieren. »Für alle anderen in der Stadt war es ein Harzsüchtiger, denn so können sie heute Nacht ruhig schlafen.«

»Dann war es für mich auch ein Dämon«, sagte der Chronist scharf. »Da, wo er mich berührt hat, fühlt sich meine Schulter an, als wäre sie aus Eis.«

Bast eilte hinüber. »Ich hatte ganz vergessen, dass er Hand an Euch gelegt hat. Lasst mich mal sehen.«

Kvothe schloss die Fensterläden, und der Chronist zog sein Hemd aus. An den Armen hatte er noch die Verbände von den Verletzungen durch die Skrael drei Nächte zuvor.

Bast sah sich seine Schulter ganz genau an. »Könnt Ihr sie bewegen?«

Der Chronist nickte und drehte die Schulter hin und her. »Es hat höllisch weh getan, als er mich berührt hat, so als wäre irgendwas in mir gerissen.« Er schüttelte den Kopf, irritiert über seine eigene Beschreibung. »Jetzt fühlt es sich nur noch seltsam an. Benommen. So als wäre die Schulter eingeschlafen.«

Bast tastete die Schulter mit einem Finger ab und beäugte sie skeptisch.

Der Chronist sah sich zu Kvothe um. »Der Junge hatte recht mit dem Feuer, nicht wahr? Bis er das erwähnt hat, hatte ich gar nicht daaaaaaahhhh!«, schrie er und wich vor Bast zurück. »Was in drei Teufels Namen war das?«

»Euer Brachialplexus, nehme ich mal an«, erwiderte Kvothe trocken.

»Ich musste feststellen, wie tief die Verletzung reicht«, erläuterte Bast ungerührt. »Reshi? Würdest du mir bitte etwas Gänseschmalz bringen und Knoblauch und Senf … Und haben wir noch welche von diesen grünen Dingern, die wie Zwiebeln riechen?«

Kvothe nickte. »Keveral? Ja, da müssten noch ein paar übrig sein.«

»Bring sie mir bitte. Und auch Verbandszeug. Ich muss das hier mit einer Salbe einreiben.«

Kvothe nickte und ging durch die Tür hinter dem Tresen hinaus. Sobald er außer Sicht war, beugte sich Bast zum Ohr des Chronisten hinab. »Fragt ihn nicht danach!«, zischte er eindringlich. »Erwähnt es nicht einmal.«

Der Chronist blickte verwirrt. »Wovon redet Ihr?«

»Von der Sache mit der Flasche. Dass er versucht hat, Sympathie einzusetzen.«

»Dann wollte er das Ding also tatsächlich in Brand setzen? Warum hat es nicht funktioniert? Was –«

Bast griff fester zu, und sein Daumen grub sich in die Mulde über dem Schlüsselbein des Chronisten, der erneut aufschrie. »Sprecht nicht darüber«, zischte Bast ihm ins Ohr. »Und stellt keine Fragen.« Er packte den Chronisten bei beiden Schultern und rüttelte ihn, wie ein verärgerter Vater ein störrisches Kleinkind.

»Gütiger Gott, Bast, ich höre ihn ja bis hier schreien!«, rief Kvothe aus der Küche. Bast richtete sich auf und setzte auch den Chronisten aufrecht hin, als der Wirt wieder in der Küchentür erschien. »Bei Tehlu, er ist ja weiß wie eine Wand. Ist es sehr schlimm?«

»Nur etwa wie eine Erfrierung«, sagte Bast abschätzig. »Es ist nicht meine Schuld, wenn er schreit wie ein kleines Mädchen.«

»Sei behutsam mit ihm«, sagte Kvothe, stellte einen Tiegel Schmalz auf den Tisch und legte eine Handvoll Knoblauchzehen daneben. »Er braucht den Arm noch ein paar Tage.«

Kvothe schälte die Knoblauchzehen und presste sie aus. Bast rührte die Salbe an, schmierte dem Chronisten das stinkende Gemisch auf die Schulter und wickelte schließlich einen Verband darum. Der Chronist saß die ganze Zeit vollkommen still da.

»Fühlt Ihr Euch heute dem Schreiben noch gewachsen?«, fragte Kvothe, als der Chronist sein Hemd wieder angezogen hatte. »Von einem richtigen Ende sind wir noch einige Tage entfernt, aber ich könnte noch ein paar Einzelheiten klären, bevor wir für heute Feierabend machen.«

»Ich halte noch stundenlang durch.« Der Chronist packte schnell seine Mappe aus, ohne auch nur in Basts Richtung zu sehen.

»Ich auch.« Bast wandte sich mit strahlender, eifriger Miene zu Kvothe um. »Ich will wissen, was du da unter der Universität gefunden hast.«

Die Andeutung eines Lächelns huschte um Kvothes Lippen. »Das glaube ich gern, dass du das wissen willst, Bast.« Er kam an den Tisch und nahm Platz. »Unter der Universität fand ich das, was ich am dringendsten wollte, aber nicht das, was ich erwartet hatte.« Er forderte den Chronisten mit einer Geste auf, zur Feder zu greifen. »Wie es ja oft geschieht, wenn einem ein Herzenswunsch erfüllt wird.«

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