Kapitel 52
Brennen
Ich besaß nun eine Laute und hatte so meine Musik wieder, doch dabei wurde mir klar, dass ich seit drei Jahren aus der Übung war. Die Arbeit im Handwerkszentrum hatte meine Hände gestärkt und abgehärtet, aber leider auf die falsche Art und Weise. Ich brauchte etliche Tage, bis ich auch nur wieder eine Stunde am Stück spielen konnte.
Vielleicht hätte ich schnellere Fortschritte gemacht, wäre ich nicht mit meinen anderen Studien so beschäftigt gewesen. Ich absolvierte jeden Tag zwei Stunden in der Mediho, im Gehen und Stehen, hatte im Schnitt pro Tag zwei Stunden Mathematikunterricht und drei Stunden Lehrzeit bei Manet im Handwerkszentrum.
Und dann war da noch die höhere Sympathie bei Elxa Dal. Außerhalb des Unterrichts war Dal ein reizender Mensch, der nie laut wurde und manchmal, wenn ihn die Laune packte, sogar richtig herumalbern konnte. In seinen Seminaren jedoch gab er abwechselnd den wahnsinnigen Propheten und den Galeerensklaveneinpeitscher. Die drei Stunden bei ihm kosteten mich so viel Kraft und Nerven wie fünf Stunden bei den anderen.
Mit meiner bezahlten Arbeit in Kilvins Werkstatt blieb mir kaum genug Zeit zum Schlafen, Essen und Lernen.
Die Musik ist eine stolze und launische Geliebte. Wenn du ihr die Zeit und Aufmerksamkeit schenkst, die ihr gebührt, so ist sie dein. Wenn du sie aber vernachlässigst, so kommt der Tag, an dem sie deine Besuche nicht mehr empfängt. Also schlief ich nun weniger, um ihr die nötige Zeit widmen zu können.
Nach einer Spanne mit diesem Pensum war ich erschöpft. Nach drei Spannen half nur noch eiserne Entschlossenheit. Und in der fünften Spanne gingen meine Kräfte allmählich zur Neige.
In diese fünfte Spanne fiel eines der seltenen Male, dass ich mich mit Wilem und Simmon zum Mittagessen traf. Die beiden brachten ihr Essen aus einem nahen Wirtshaus mit. Ich konnte mir derzeit keinen Apfel und keine Fleischpastete leisten und hatte in der Mensa etwas Graubrot und ein knorpeliges Würstchen gemopst.
Wir setzten uns auf die Steinbank unter dem Fahnenmast, an dem ich ausgepeitscht worden war. Dieser Ort hatte mir seither Furcht eingeflößt, aber ich hatte mich gezwungen, wieder dorthin zu gehen, um mir zu beweisen, dass ich diese Furcht überwinden konnte. Als mir das gelungen war, saß ich oft dort, weil es mich amüsierte, wie die Studenten guckten, wenn sie mich an diesem Ort erblickten. Nun saß ich dort, weil ich mich dort wohl fühlte. Es war mein Platz.
Und weil wir viel Zeit miteinander verbracht hatten, war es auch Wilems und Simmons Platz geworden. Wenn sie es seltsam fanden, dass ich mir diese Stelle ausgesucht hatte, so sprachen sie es nicht aus.
»Man sieht dich ja kaum noch«, sagte Wilem, den Mund voll Fleischpastete. »Warst du krank?«
»Na klar«, sagte Simmon sarkastisch. »Er war einen ganzen Monat lang krank.«
Wilem funkelte ihn an und erinnerte mich einen Moment lang mit seinem Gesichtsausdruck an Kilvin.
Seine Miene brachte Simmon zum Lachen. »Wil ist höflicher als ich. Ich wette, du hast deine gesamte Freizeit damit verbracht, zwischen Imre und hier zu pendeln und als Barde einer äußerst attraktiven jungen Frau den Hof gemacht.« Er zeigte auf den Lautenkasten, der neben mir lag.
»Er sieht aber so aus, als ob er krank gewesen wäre.« Wilem beäugte mich prüfend. »Deine Freundin hat nicht gut auf dich aufgepasst.«
»Er hat Liebeskummer«, meinte Simmon. »Kriegt keinen Bissen mehr runter und kein Auge mehr zu. Denkt nur noch an sie, auch wenn er eigentlich eine Geheimschrift auswendig lernen sollte.«
Mir fiel keine Erwiderung darauf ein.
»Siehst du?«, sagte Simmon zu Wil. »Sie hat ihm nicht nur das Herz geraubt, sondern auch die Zunge. Er hat nur noch Worte für sie. Für uns hat er keine mehr übrig.«
»Er hat auch keine Zeit mehr für uns«, erwiderte Wilem. Seine Fleischpastete war schon fast verschwunden.
Sie hatten natürlich recht: Ich hatte meine Freunde noch mehr vernachlässigt als mich selbst. Ich bekam große Gewissensbisse. Ich konnte ihnen nicht die ganze Wahrheit sagen – dass ich aus diesem Trimester so viel herausholen musste wie nur möglich, da es sehr wahrscheinlich mein letztes war, weil ich vollkommen pleite war.
Wenn ihr nicht versteht, warum ich es nicht über mich brachte, ihnen das alles zu erzählen, so seid ihr wahrscheinlich nie wirklich arm gewesen. Ich bezweifle, dass ihr nachempfinden könnt, wie beschämend es ist, nur zwei Hemden zu besitzen oder sich die Haare selbst schneiden zu müssen, weil man sich keinen Barbierbesuch leisten kann. Als ich einen Knopf verlor, konnte ich kein Scherflein entbehren, um einen neuen zu kaufen. Als ich mir die Hose am Knie aufriss, musste ich sie mit einem Faden in der falschen Farbe flicken. Für das Essen konnte ich mir kein Salz leisten, und an den seltenen Abenden, an denen ich mit meinen Freunden ausging, keine Getränke.
Das Geld, das ich in Kilvins Werkstatt verdiente, ging für das Allernötigste drauf: Tinte, Seife, Lautensaiten … Das Einzige, was ich mir leisten konnte, war Stolz. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass meine beiden besten Freunde erfuhren, wie verzweifelt meine Lage war.
Wenn ich sehr großes Glück hatte, war ich vielleicht in der Lage, die zwei Talente aufzubringen, um Devi die Kreditzinsen zu bezahlen. Aber es würde schon ein großes Wunder erfordern, dass ich genug Geld zusammenbekäme, um zusätzlich auch noch die Studiengebühren berappen zu können. Und was sollte ich anfangen, wenn ich dann die Universität gezwungenermaßen verlassen und Devi alles zurückgezahlt hatte? Ich hatte keine Ahnung. Vielleicht würde ich nach Anilin reisen, um nach Denna zu suchen.
Ich sah die beiden an und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Wil, Simmon, es tut mir Leid. Ich hatte in letzter Zeit schrecklich viel um die Ohren.«
Simmon wurde ein wenig ernster, und ich sah, dass er wegen meiner unentschuldigten Abwesenheit ernsthaft gekränkt war. »Wir haben auch viel zu tun, weißt du. Ich studiere Rhetorik und Chemie, und ich lerne Siaru.« Er wandte sich an Wilem und blickte ihn finster an. »Und so allmählich beginne ich eure Sprache zu hassen.«
»Tu kralim«, entgegnete der Kealde freundlich.
Wieder an mich gewandt, sagte Simmon: »Es ist nur, dass wir dich gerne öfter sehen würden, als nur alle paar Tage mal, wie du vom Hauptgebäude zum Handwerkszentrum hastest. Mädchen sind etwas Wunderbares, das werde ich nicht bestreiten, aber wenn eine mir einen Freund wegnimmt, werde ich ein wenig eifersüchtig.«
Ich hatte einen riesigen Kloß im Hals. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mich das letzte Mal jemand vermisst hatte. Ich hatte sehr lange niemanden mehr gehabt, der mich vermisst hätte, und ich spürte, dass mir die Tränen kamen. »Es steckt kein Mädchen dahinter. Wirklich nicht.« Ich schluckte und gab mir Mühe, die Fassung zu wahren.
»Sim, ich glaube, wir haben etwas übersehen«, sagte Wilem und sah mich mit einem seltsamen Blick an. »Schau ihn dir mal genau an.«
Simmon musterte mich ebenfalls prüfend. Nun gingen mir die Blicke der beiden auf die Nerven, und die Tränen waren mit einem Mal weg.
»Also«, sagte Wilem, als würde er einen Vortrag halten. »Seit wie vielen Trimestern ist unser junger E’lir hier an der Universität?«
Sim ging sichtlich ein Licht auf. »Oh.«
»Würde mir mal jemand sagen, worum es hier geht?«, fragte ich bockig.
Wilem überhörte mich. »Und welche Fächer studierst du?«
»Alle«, sagte ich, froh über einen Vorwand, mich zu beklagen. »Geometrie, Medizin, höhere Sympathie bei Elxa Dal, und im Handwerkszentrum gehe ich bei Manet in die Lehre.«
Simmon blickte leicht entsetzt. »Dann ist es ja kein Wunder, dass du aussiehst, als ob du seit einer Spanne nicht mehr geschlafen hättest«, sagte er.
Wilem nickte. »Und außerdem arbeitest du ja auch noch in Kilvins Werkstatt, nicht wahr?«
»Jeden Abend ein paar Stunden.«
Simmon war entgeistert. »Und dann lernst du auch noch gleichzeitig ein Instrument? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?«
»Die Musik ist das einzige, was mir Halt gibt«, sagte ich und berührte meine Laute. »Und ich lerne nicht. Ich übe nur.«
Wilem sah zu Simmon hinüber. »Was meinst du, wie lange hat er noch?«
Simmon musterte mich. »Allerhöchstens anderthalb Spannen.«
»Was meint ihr damit?«
Wilem beugte sich vor. »Wir alle halsen uns früher oder später mal zu viel auf. Aber manche Studenten merken es erst, wenn es schon zu spät ist. Sie machen sich kaputt. Und dann brechen sie notgedrungen ihr Studium ab oder rasseln bei den Prüfungen durch. Manche holen sich auch noch einen Knacks.« Er tippte sich an die Stirn. »Das passiert meist im ersten Studienjahr.« Er sah mich viel sagend an.
»Aber ich habe mir nicht zu viel aufgehalst«, sagte ich.
»Guck doch mal in den Spiegel«, entgegnete Wilem.
Ich wollte den beiden eben versichern, dass mit mir alles in Ordnung sei, doch da hörte ich, dass die Stunde geschlagen wurde, und so blieb mir nur noch Zeit, mich flugs zu verabschieden, denn ich musste mich sputen, damit ich nicht zu spät zu meinem Seminar über höhere Sympathie kam.
Elxa Dal stand zwischen zwei mittelgroßen Kohlenbecken. Mit seinem sorgfältig gestutzten Bart und dem dunklen Talar entsprach er dem Klischeebild des bösen Zauberers, wie er in so vielen schlechten aturischen Theaterstücken vorkommt. »Ihr müsst immer daran denken, dass der Sympathetiker der Flamme verbunden ist«, sagte er. »Wir sind ihr Herr, aber auch ihr Diener.«
Er schob die Hände in die weiten, langen Ärmel und begann auf und ab zu gehen. »Wir sind die Herren des Feuers, denn es untersteht unserer Gewalt.« Er schlug mit der flachen Hand an eines der Kohlenbecken, und Flammen züngelten darin empor. »Die Energie in allen Dingen steht dem Arkanisten zu Gebote. Wir befehlen dem Feuer, und das Feuer gehorcht.« Er ging langsam in die andere Ecke des Raums. In dem Kohlenbecken hinter ihm wurden die Flammen nun wieder kleiner, und in dem, auf das er zuging, loderten sie in die Höhe. Ich wusste sein Talent für effektvolle Darbietungen durchaus zu schätzen.
Dal blieb stehen und wandte sich zum Auditorium. »Aber wir sind auch Diener des Feuers. Denn das Feuer ist die gängigste Form von Energie, und ohne Energie ist unser ganzes Können als Arkanisten nicht allzu nützlich.« Er wandte dem Auditorium den Rücken zu und begann die Schiefertafel abzuwischen. »Packt eure Sachen zusammen, und dann wollen wir mal sehen, wer heute gegen E’lir Kvothe antritt.« Er schrieb eine Namensliste der Studenten an die Tafel. Mein Name stand an erster Stelle.
Vor drei Spannen hatte Dal begonnen, uns gegeneinander antreten zu lassen. Er bezeichnete das als »Duelle«. Es war zwar eine willkommene Abwechslung zur Eintönigkeit der Vorlesungen, hatte aber durchaus auch eine dunkle Seite.
Gut hundert Studenten gingen alljährlich aus dem Arkanum hinaus in die Welt, etwa ein Viertel davon mit einem Gildenabzeichen. Das bedeutete, dass es jedes Jahr hundert Menschen mehr auf der Welt gab, die in der Anwendung der Sympathie geschult waren, Menschen, gegen die man später im Leben aus dem einen oder anderen Grunde möglicherweise seinen Willen durchsetzen musste. Dal sprach das nie aus, aber uns war klar, dass er uns mehr als nur Konzentration und Können lehrte. Er lehrte uns kämpfen.
Elxa Dal führte genau Buch über die Ergebnisse. Und von den achtunddreißig Studenten war ich der einzige, der bisher ungeschlagen war. Mittlerweile mussten selbst die dümmsten und missgünstigsten Kommilitonen einräumen, dass meine schnelle Aufnahme in das Arkanum mit Dusel wohl eher nichts zu tun hatte.
Diese Duelle konnten auch ganz einträglich sein, denn es wurde heimlich dabei gewettet. Wenn wir auf uns selber setzen wollten, erledigten Sovoy und ich das für einander. Auch wenn ich in der Regel nicht viel Geld dafür übrig hatte.
So war es auch kein Zufall, dass Sovoy und ich zusammenstießen, als wir unsere Sachen packten. Ich steckte ihm unter dem Tisch zwei Jots zu.
Er steckte sie ein, ohne mich anzusehen. »Meine Güte«, sagte er leise. »Da ist aber heute jemand siegessicher.«
Ich zuckte beiläufig die Achseln, war in Wirklichkeit aber ein wenig nervös. Ich hatte das Trimester vollkommen ohne Geld in der Tasche begonnen und mich seither mit Ach und Krach über Wasser gehalten. Am Tag zuvor hatte Kilvin mir zwei Jots gezahlt, für eine Spanne Arbeit in seiner Werkstatt. Und das war das gesamte Geld, das ich besaß.
Sovoy wühlte in einer Schublade herum und holte Sympathiewachs, Bindfäden und ein paar Metallstücke daraus hervor. »Aber ich weiß nicht, was ich für dich herausholen kann. Die Quoten werden immer mieser. Ich schätze mal, mehr als drei zu eins ist heute nicht drin. Wärst du trotzdem noch mit dabei?«
Ich seufzte. Diese schlechten Wettquoten waren der große Nachteil davon, dass mich bisher niemand besiegt hatte. Am Vortag hatte die Quote sogar nur zwei zu eins betragen, was bedeutete, dass ich zwei Pennys einsetzen musste, um die Chance zu haben, einen Penny zu gewinnen. »Ich habe da einen kleinen Plan«, sagte ich. »Setz erst, wenn wir die Bedingungen abgemacht haben. Dann solltest du mindestens drei zu eins gegen mich rausholen können.«
»Gegen dich?«, murmelte er. »Nur wenn du gegen Dal antrittst.« Ich wandte das Gesicht ab, damit er nicht sah, dass ich bei diesem Kompliment ein wenig rot wurde.
Dal klatschte in die Hände, und alle eilten auf ihre Plätze. Ich sollte gegen Fenton antreten, einen jungen Mann aus Vintas. Er stand auf Platz zwei unserer Rangliste. Ich respektierte ihn als einen der wenigen in diesem Seminar, die mir durchaus gefährlich werden konnten.
»Also gut«, sagte Elxa Dal und rieb sich die Hände. »Fenton, als Rangniederer hast du die Wahl der Waffen.«
»Kerzen.«
»Und welche Verbindung?«, fragte Dal, das Ritual befolgend. Bei Kerzen war es entweder das Wachs oder der Docht.
»Docht.« Fenton hielt ein Stück Docht empor, so dass alle es sehen konnten.
Dal wandte sich an mich. »Welche Verbindung?«
Mit schwungvoller Gebärde zog ich etwas aus der Tasche. »Strohhalm.« Ein Raunen ging durch die Runde. Das war eine lächerliche Verbindung. Ich konnte bestenfalls auf einen Wirkungsgrad von drei bis fünf Prozent hoffen. Fentons Docht war zehnmal wirksamer.
»Strohhalm?«
»Strohhalm«, sagte ich mit etwas mehr Selbstsicherheit als ich empfand. Wenn das die Quote nicht in die Höhe trieb, wusste ich auch nicht weiter.
»Also dann Strohhalm«, sagte Dal leichthin. »E’lir Fenton, da Kvothe ungeschlagen ist, hast du die Wahl der Quelle.« Leises Gelächter in der Runde.
Mir sank das Herz in die Hose. Damit hatte ich nicht gerechnet. Normalerweise wählte der die Quelle, der nicht die Waffe gewählt hatte. Ich hatte vorgehabt, das Kohlenbecken zu wählen, da ich wusste, dass die große Hitze mein selbst auferlegtes Handicap wettmachen würde.
Fenton grinste. »Keine Quelle.«
Ich verzog das Gesicht. Nun konnten wir nur aus unserer eigenen Körperwärme schöpfen. Das war ungeheuer schwierig und auch nicht ungefährlich.
Ich hatte keine Chance. Und ich würde dabei nicht nur den Status des Unbesiegten einbüßen, sondern hatte auch keine Möglichkeit, Sovoy zu signalisieren, dass er meine letzten beiden Jots nicht auf mich setzen sollte. Ich versuchte seinen Blick zu erhaschen, aber er stand bereits mit einer Hand voll Studenten in leisen, intensiven Verhandlungen und achtete nicht mehr auf mich.
Fenton und ich gingen wortlos zu einem großen Arbeitstisch und setzten uns einander gegenüber. Elxa Dal stellte jeweils eine dicke Kerze vor uns hin. Das Ziel bestand darin, die Kerze des Gegners zu entzünden und zu verhindern, dass dem Gegner dies gelang. Dazu musste man seinen Geist in zwei Hälften aufspalten. Die eine Hälfte glaubte mit dem Alar, dass der eigene Docht (oder der Strohhalm, wenn man so dumm war) eins mit dem Docht der Kerze war, die man entzünden wollte. Dann zog man aus der Quelle die nötige Energie, um das geschehen zu lassen.
Währenddessen war die andere Geisteshälfte damit befasst, den Glauben aufrecht zu erhalten, dass der Docht des Gegners nicht eins war mit dem Docht der eigenen Kerze.
Wenn sich das schwierig anhört, so könnt ihr mir glauben, dass dies erst der Anfang der Schwierigkeiten ist.
Noch weiter erschwert wurde das Ganze durch den Umstand, dass wir beide keine Quelle hatten, aus der wir schöpfen konnten. Man muss sehr vorsichtig sein, wenn man sich selbst als Quelle nutzt. Der menschliche Körper hat schließlich nicht ohne Grund eine bestimmte Wärme. Und er reagiert unberechenbar, wenn man diese Körperwärme anzapft.
Auf einen Wink von Elxa Dal hin ging es los. Ich richtete sofort meine gesamte Geisteskraft auf die Verteidigung meiner Kerze und begann hektisch nachzudenken. Es war aussichtslos, ich konnte nicht gewinnen. Da konnte man ein noch so guter Fechter sein: Wenn der Gegner über eine Klinge aus Ramston-Stahl gebietet und man selber mit einer Weidenrute angetreten ist, hat man keine noch so geringe Chance.
Ich versenkte mich in das Steinerne Herz. Dann, während ich immer noch einen Großteil meiner Geisteskräfte auf den Schutz meiner Kerze richtete, verband ich seine Kerze mit ein paar gemurmelten Worten mit meiner. Ich kippte meine Kerze um und zwang Fenton so, nach seiner Kerze zu greifen, ehe sie ebenfalls umgefallen wäre.
Ich versuchte diese Ablenkung auszunutzen und seine Kerze zu entzünden. Ich legte meine ganze Kraft darein und spürte, wie von meiner rechten Hand, in der ich den Strohhalm hielt, eine Kälte meinen Arm emporkroch. Doch nichts geschah. Seine Kerze ließ sich nicht entflammen.
Ich legte die linke Hand um den Docht meiner Kerze und verbarg sie so vor Fentons Blick. Das war ein billiger Trick, der bei einem fähigen Sympathetiker nicht gefruchtet hätte, aber meine einzige Hoffnung bestand darin, dass es mir irgendwie gelang, ihn durcheinander zu bringen.
»He, Fen«, sagte ich. »Kennst du schon den Witz mit dem Kessler, dem Tehlaner, der Bauerstochter und dem Butterfass?«
Fenton antwortete nicht. Sein blasses Gesicht wirkte aufs Äußerste konzentriert.
Ich gab den Versuch auf, ihn abzulenken. Fenton war zu klug, um sich auf diese Weise aus dem Konzept bringen zu lassen. Und außerdem fiel es mir sehr schwer, dabei die zum Schutz meiner Kerze nötige Konzentration zu wahren. Ich versenkte mich noch tiefer in das Steinerne Herz und vergaß die ganze Welt – außer den beiden Kerzen, einem Stück Docht und einem Strohhalm.
Nach einer Minute war ich in kalten Schweiß gebadet und zitterte. Fenton sah das, und auf seinen bleichen Lippen zeigte sich ein Lächeln. Ich verdoppelte meine Anstrengungen, aber es gelang mir einfach nicht, seine Kerze zu entzünden.
Fünf Minuten vergingen, das ganze Seminar war mucksmäuschenstill. Die meisten Duelle dauerten nur ein oder zwei Minuten, und einer der Duellanten erwies sich schnell als klüger oder willensstärker. Mittlerweile waren meine beiden Arme kalt. Ich sah bei Fenton einen Halsmuskel spastisch zucken, wie bei einem Pferd, das eine Bremse von seiner Flanke zu schütteln versucht. Er versteifte sich und kämpfte gegen das Zittern an. Vom Docht meiner Kerze stieg ein Rauchfähnchen auf.
Ich legte mich noch mehr ins Zeug. Ich merkte, dass ich zischend atmete, mit zusammengebissenen Zähnen und zurückgezogenen Lippen. Fenton schien das nicht zu bemerken. Sein Blick war glasig. Ich schlotterte so heftig, dass ich das Zittern seiner Hand fast übersehen hätte. Und dann sank Fentons Kopf ganz langsam in Richtung Tischplatte. Seine Augenlider wurden schwer. Ich biss die Zähne zusammen und wurde damit belohnt, dass von Fentons Kerze ein kleines Rauchfähnchen aufstieg.
Mit ausdrucksloser Miene sah er hin, doch statt seine Verteidigung zu verstärken, machte er eine bleierne, müde Geste und legte den Kopf in seine Armbeuge.
Er hob den Blick auch nicht, als die Kerze neben seinem Ellenbogen aufflackerte. Es gab Beifall und ungläubige Ausrufe.
Jemand klopfte mir auf den Rücken. »Unglaublich, was? Er hat sich völlig erschöpft.«
»Nein«, sagte ich mit schwerer Zunge und langte über den Tisch. Mit steifen Fingern bog ich die Hand auf, die den Docht hielt, und sah, dass sie blutig war. »Meister Dal«, sagte ich so schnell ich konnte. »Er hat Schüttelfrost.« Erst als ich das aussprach, merkte ich, wie kalt meine eigenen Lippen waren.
Doch Dal war schon zur Stelle und legte Fenton eine Decke um die Schultern. »Du!« Er deutete aufs Geratewohl auf einen Studenten. »Hol jemanden aus der Mediho! Schnell!« Der Student lief hinaus. »So eine Unvernunft«, murmelte Meister Dal und musterte nun mich. »Du solltest ein bisschen auf und ab gehen. Du siehst auch nicht viel besser aus.«
An diesem Tag fanden keine weiteren Duelle mehr statt. Die Studenten sahen zu, wie Fentons Lebensgeister unter Elxa Dals Fürsorge allmählich zurückkehrten, und als ein älterer El’the aus der Mediho eintraf, war Fenton schon wieder so weit aufgewärmt, dass er heftig zu schlottern begann. Nach einer weiteren Viertelstunde unter warmen Decken und dem behutsamen Einsatz der Sympathie war Fenton in der Lage, etwas Warmes zu trinken, aber seine Hände zitterten immer noch.
Als der ganze Aufruhr schließlich vorüber war, war es schon fast drei Uhr. Meister Dal schaffte es, dass sich die Studenten noch einmal still hinsetzten, damit er ein paar Worte sagen konnte.
»Was wir heute hier gesehen haben, war ein klassischer Fall von Binderfrost. Der menschliche Körper ist ein empfindlich Ding, und wenn die Körperwärme plötzlich um ein paar Grad sinkt, kann das negative Auswirkungen auf den gesamten Organismus haben. In schweren Fällen kann es einen Schock auslösen oder zu Hypothermie führen.« Dal sah sich um. »Kann mir jemand sagen, was Fenton falsch gemacht hat?« Kurz herrschte Schweigen. Dann hob jemand eine Hand. »Ja, Brae?«
»Er hat Blut verwendet. Wenn die Wärme aus dem Blut entweicht, kühlt sich der Körper als Ganzes ab. Das ist nicht unbedingt von Vorteil, denn die Eingeweide vertragen keine so starke Abkühlung wie die Extremitäten.«
»Warum sollte man dann überhaupt auf den Gedanken kommen, Blut einzusetzen?«
»Weil es schneller Wärme spendet als Fleisch.«
»Wie viel Wärme hätte er ohne Gefahr entziehen können?«, fragte Dal und sah sich im Saal um.
»Zwei Grad?«, mutmaßte jemand.
»Anderthalb«, berichtigte Dal und schrieb ein paar Formeln an die Tafel, die zeigen sollten, wie viel Wärme das ergab. »Und wie viel hat er angesichts seiner Symptome vermutlich entzogen?«
Langes Schweigen. Dann meldete sich Sovoy. »Acht bis neun Grad.«
»Ausgezeichnet«, sagte Dal widerwillig. »Es ist schön, dass wenigstens einer von euch gelegentlich einen Blick in die Lehrbücher wirft.« Sein Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. »Sympathie ist nichts für schwache Geister, aber sie ist auch nichts für Leute mit übersteigertem Selbstvertrauen. Wenn wir nicht dagewesen wären und uns um Fenton gekümmert hätten, wäre er in aller Stille eingeschlafen und gestorben.« Er hielt inne, um seine Worte wirken zu lassen. »Es ist besser, seine Grenzen zu kennen, als sich zu überschätzen und damit Leben und Gesundheit zu riskieren.«
Es schlug drei Uhr, und die Studenten erhoben sich, um zu gehen. Meister Dal sagte mit lauter Stimme: »E’lir Kvothe, bleibst du bitte noch einen Moment?«
Ich verzog das Gesicht. Sovoy klopfte mir von hinten auf die Schulter und murmelte: »Glück.« Ich konnte nicht erkennen, ob er damit meinen Sieg meinte oder mir viel Glück wünschte.
Als die anderen fort waren, wandte sich Meister Dal um und legte den Lappen weg, mit dem er die Tafel abgewischt hatte. »Na«, sagte er im Plauderton. »Wie war die Quote?«
Ich war nicht überrascht, dass er von den Wetten wusste. »Elf zu eins«, sagte ich. Ich hatte zweiundzwanzig Jots gewonnen, also über zwei Talente. Das Geld in meiner Tasche wärmte mir das Herz.
Er sah mich prüfend an. »Wie geht es dir? Du warst zum Schluss auch ganz schön blass.«
»Nur ein leichtes Zittern«, log ich.
In Wahrheit war ich in dem Durcheinander, das auf Fentons Zusammenbruch folgte, aus dem Saal geschlichen und hatte ein paar bange Minuten in einem abseits gelegenen Korridor verbracht. Ich hatte so schweren Schüttelfrost, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Glücklicherweise hatte mich niemand gesehen, wie ich dort schlotternd stand, die Zähne so fest zusammengebissen, dass ich fürchtete, sie könnten zerbrechen.
Aber niemand hatte mich gesehen. Mein Ruf hatte nicht gelitten.
Dal sah mich mit einem Blick an, der mir verriet, dass er ahnte, wie es wirklich gewesen war. »Komm her«, sagte er und wies auf eins der immer noch brennenden Kohlenbecken. »Ein bisschen Wärme kann dir nicht schaden.«
Ich widersprach nicht. Als ich die Hände über das Feuer hielt, merkte ich mit einem Mal, wie erschöpft ich war. Vor Schlafmangel brannten mir die Augen. Mein ganzer Körper fühlte sich so schwer an, als hätte ich Knochen aus Blei.
Mit einem Seufzer zog ich die Hände weg und schlug die Augen wieder auf. Elxa Dal betrachtete mein Gesicht. »Ich muss jetzt los«, sagte ich mit einem gewissen Bedauern. »Danke, dass ich Euer Feuer nutzen durfte.«
»Wir sind beide Sympathetiker«, sagte Dal und winkte mir freundlich nach, als ich meine Sachen schnappte und zum Ausgang ging. »Gern jederzeit wieder.«
An diesem Abend öffnete mir Wilem auf mein Klopfen hin die Tür zu seinem Zimmer in Mews. »Unglaublich«, sagte er. »Zweimal an einem Tag. Womit habe ich diese Ehre verdient?«
»Das weißt du ganz genau«, grummelte ich und schob mich an ihm vorbei in den kleinen zellenartigen Raum. Ich stellte meinen Lautenkasten an eine Wand und setzte mich auf einen Stuhl. »Kilvin hat mir Arbeitsverbot in seiner Werkstatt erteilt.«
Wilem ließ sich auf seiner Bettkante nieder. »Warum das?«
Ich sah ihn an. »Vermutlich, weil ihr beide ihm das eingeredet habt.«
Er sah mich an, zuckte dann die Achseln. »Du hast es schneller durchschaut, als wir erwartet haben.« Er rieb sich das Gesicht. »Aber sonderlich sauer scheinst du ja nicht zu sein.«
Ich war fuchsteufelswild gewesen. Eben als sich mein Geschick zu wenden schien, verlor ich durch die gut gemeinte Intervention meiner Freunde meine einzige bezahlte Arbeitsstelle. Doch statt hinüber zu stürmen und sie zur Rede zu stellen, war ich aufs Dach des Hauptgebäudes gestiegen und hatte ein wenig auf meiner Laute gespielt, um wieder einen kühlen Kopf zu bekommen.
Wie stets besänftigte mich meine Musik. Und während ich so spielte, dachte ich über alles Mögliche nach. Meine Lehre bei Manet lief gut, aber es gab da einfach zu viel zu lernen: Wie man die Brenn- und Trockenöfen richtig anfeuerte, wie man Draht von der genau richtigen Beschaffenheit zog, welche Legierungen in welchen Verhältnissen welche Wirkungen zeitigten. Ich konnte nicht hoffen, mir das alles im Handumdrehen anzueignen, so wie es mir bei den Runen gelungen war. Und ich verdiente in Kilvins Werkstatt nicht genug, um bis zum Ende des Monats meine Schulden bei Devi begleichen zu können – von den Studiengebühren ganz zu schweigen.
»Ich wäre wahrscheinlich sauer. Aber Kilvin hat mich in einen Spiegel gucken lassen«, sagte ich und sah ihn mit einem müden Lächeln an. »Ich sehe ja wirklich schlimm aus.«
»Schlimm ist noch geprahlt«, erwiderte Wilem sachlich und schwieg dann einen Moment beklommen. »Ich bin froh, dass du uns nicht böse bist.«
Es klopfte, und Simmon kam herein. Als er mich dort sitzen sah, guckte er erst erstaunt, dann schuldbewusst. »Musst du jetzt nicht, äh, im Handwerkszentrum sein?«, fragte er nicht sonderlich überzeugend.
Ich lachte, und Simmons Erleichterung war förmlich mit Händen zu greifen. Wilem räumte einen Stapel Papiere von einem anderen Stuhl, und Simmon ließ sich darauf nieder.
»Es sei euch verziehen«, sagte ich großmütig. »Aber nur, wenn ihr mir erzählt, was ihr über das Eolian wisst.«