Kapitel 54

Ein Ort zum Brennen

Du siehst heute so anders aus«, bemerkte Simmon. Wilem brummte beifällig.

»Ich fühle mich auch anders«, gestand ich. »Gut. Aber anders.«

Wir drei waren auf der staubigen Straße nach Imre unterwegs. Es war ein warmer, sonniger Tag, und wir hatten es nicht besonders eilig.

»Du siehst irgendwie … ruhig und gelassen aus«, fuhr Simmon fort und strich sich mit der Hand durchs Haar. »Ich wäre gern so ruhig und gelassen, wie du aussiehst.«

»Und ich erst«, murmelte ich.

Simmon ließ nicht locker. »Du siehst kräftiger aus.« Er verzog das Gesicht. »Nein. Du siehst … straff aus.«

»Straff?« Meine Nervosität entlud sich in Gelächter. »Wie kann jemand denn straff aussehen?«

»Einfach straff eben.« Er zuckte die Achseln. »Wie eine gespannte Feder.«

»Das liegt an seiner Körperhaltung«, sagte Wilem und brach damit sein nachdenkliches Schweigen. »Er hält sich gerade, mit hoch erhobenem Kopf, die Schultern nach hinten.« Er führte vor, was er damit meinte. »Und wenn er geht, berührt sein ganzer Fuß den Boden. Nicht nur der Ballen, als ob er laufen würde, und nicht nur die Ferse, als zögere er. Er tritt mit dem ganzen Fuß auf und beansprucht damit dieses Stück Boden für sich.«

Mit einer gewissen Verlegenheit versuchte ich, mich selbst zu beobachten – stets ein fruchtloses Unterfangen.

Simmon sah ihn von der Seite an. »Da hat aber jemand Zeit mit Puppet verbracht, hm?«

Wilem bestätigte es mit einem Achselzucken und warf dann einen Stein in den Wald am Straßenrand.

»Wer ist denn dieser Puppet, den ihr ständig erwähnt?«, fragte ich, auch, um von mir selber abzulenken. »Ich sterbe noch vor Neugier, wenn ich das nicht endlich erfahre.«

»Wenn jemand das schaffen könnte, dann du«, sagte Wilem.

»Er ist meist den ganzen Tag in der Bibliothek«, erwiderte Sim zögernd, da er wusste, dass er damit bei mir einen wunden Punkt berührte. »Es wäre schwierig, euch miteinander bekannt zu machen, denn … na ja, du weißt ja …«

Wir kamen an die alte Steinbrücke, die den Omethi überspannte. Sie maß vom einen zum anderen Ufer über siebzig Meter und wölbte sich in der Mitte gut zwanzig Meter empor, und es gab über sie mehr Geschichten und Legenden als über jedes andere Wahrzeichen der Universität.

»Runterspucken bringt Glück«, sagte Wilem, als wir die Brücke betraten, und befolgte dann gleich seinen eigenen Rat. Simmon schloss sich an und spuckte mit kindlichem Überschwang übers Geländer.

Fast hätte ich gesagt: »Mit Glück hat das nichts zu tun.« Meister Arwyls Worte, die an der Mediho eine geflügelte Redensart waren. Sie lagen mir schon auf der Zunge, doch dann schwieg ich und spuckte auch.

Das Eolian lag im Herzen Imres, direkt am zentralen Marktplatz der Stadt. Dort standen Bänke und ein paar blühende Bäume, und ein Marmorspringbrunnen sprenkelte Wasser über die Statue eines Satyrs, der eine Gruppe knapp geschürzter Nymphen jagte, die eher pro forma vor ihm zu fliehen versuchten. Gut gekleidete Leute flanierten hier umher, und fast jeder Dritte hatte irgendein Musikinstrument dabei. Ich zählte mindestens sieben Lauten.

Wir gingen zum Eingang des Lokals, und der Türsteher griff sich an die breite Hutkrempe und begrüßte uns mit einem Nicken. Er war ein Hüne, braungebrannt und muskulös. »Das macht einen Jot, junger Herr«, sagte er lächelnd, und Wilem gab ihm eine Münze.

Mich lächelte er ebenfalls an. Als er den Lautenkasten auf meinem Rücken sah, hob er eine Augenbraue. »Schön, ein neues Gesicht zu sehen. Du kennst die Regeln?«

Ich nickte und gab ihm einen Jot.

Er zeigte in den Saal. »Siehst du den Tresen?« Der fast zwanzig Meter lange Tresen aus geschwungenem Mahagoni, der sich bis ans andere Ende des Raums erstreckte, war nicht zu übersehen. »Siehst du, wo er am Ende einen Bogen Richtung Bühne macht?« Ich nickte. »Siehst du den Mann da auf dem Hocker? Wenn du versuchen willst, dein Abzeichen zu erringen, ist er derjenige, mit dem du sprechen solltest. Er heißt Stanchion.«

Wir sahen einander an. »Danke –«, sagte ich und hielt inne, da ich seinen Namen nicht wusste.

»Deoch«, sagte er und lächelte zurück.

Einem plötzlichen Impuls folgend, streckte ich ihm meine Hand entgegen. »Deoch bedeutet trinken. Darf ich dir nachher einen ausgeben?«

Er sah mich einen Moment lang an und lachte dann. Es war ein ungezwungenes, fröhliches Lachen, das von Herzen kam. Er schüttelte mir die Hand. »Warum nicht.«

Dann ließ er meine Hand los und blickte hinter mich. »Simmon, hast du diesen jungen Mann angeschleppt?«

»Eher er mich.« Simmon schien mein kurzer Wortwechsel mit dem Türsteher verstimmt zu haben, und ich verstand nicht, wieso. »Ich glaube nicht, dass der sich irgendwo hinschleppen lässt.« Er gab Deoch einen Jot.

»Da könntest du recht haben«, erwiderte Deoch. »Er gefällt mir. Ich hoffe, er spielt heute Abend etwas für uns.«

»Das hoffe ich auch«, sagte ich. Dann gingen wir hinein.

Ich sah mich so beiläufig wie möglich im Eolian um. Hinten im Saal befand sich eine halbkreisförmige Bühne. Über etliche Wendeltreppen gelangte man auf eine Art Rang, und darüber war noch ein zweiter Rang zu sehen, der sich wie ein schmales Mezzanin rings um den Raum zog.

Der Saal stand voller Tische und Stühle. An den Wänden zogen sich Sitzbänke entlang. Sympathielampen und Kerzen spendeten Licht.

»Na, das war jetzt aber klug von dir«, sagte Simmon in schneidendem Ton. »Gütiger Tehlu. Das nächste Mal warnst du mich vor, bevor du so eine Nummer bringst, ja?«

»Was?«, fragte ich. »Das mit dem Türsteher? Was bist du denn so nervös? Er war freundlich zu mir. Und ich mag ihn. Warum sollte ich ihn nicht zu einem Bier einladen?«

»Deoch ist der Besitzer dieses Lokals«, entgegnete Simmon. »Und er kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Musiker versuchen, sich bei ihm einzuschmeicheln. Vor zwei Spannen hat er jemanden rausgeworfen, weil der ihm ein Trinkgeld geben wollte.« Er sah mich streng an. »Er hat ihn tatsächlich geworfen und er wäre fast in dem Springbrunnen gelandet.«

»Oh«, sagte ich vollkommen überrascht und sah mich zu Deoch um, der sich am Eingang mit jemandem ein neckisches Geplänkel lieferte. Als er auf etwas deutete, sah ich, wie sich seine kräftigen Armmuskeln spannten. »Hattest du den Eindruck, dass ich ihn verärgert habe?«, fragte ich.

»Nein. Und das ist wirklich kaum zu glauben.«

Wilem kam zu uns. »Wenn ihr aufhört zu zanken, gebe ich die erste Runde aus – lhin?« Wir gingen zu dem Tisch, den Wilem ausgesucht hatte. Er war nicht allzu weit von dort entfernt, wo Stanchion am Tresen saß. »Was wollt ihr trinken?«, fragte Wilem, als Simmon und ich uns setzten. Meinen Lautenkasten stellte ich auf den freien vierten Stuhl.

»Zimtmet«, sagte Simmon, ohne überhaupt darüber nachzudenken.

»Du Mädchen«, brummte Wilem und wandte sich an mich.

»Apfelwein«, sagte ich. »Oder nein: eine Apfelweinschorle.«

»Noch so ein Mädchen«, brummte Wilem und ging zum Tresen.

Ich wies mit einer Kopfbewegung auf Stanchion. »Und was ist mit ihm?«, fragte ich Simmon. »Ich dachte, er wäre der Inhaber.«

»Der Laden gehört ihnen gemeinsam. Und Stanchion ist für die Musik zuständig.«

»Gibt es irgendetwas, das ich über ihn wissen sollte?«, fragte ich. Mein Beinahe-Desaster mit Deoch hatte mich vorsichtig gemacht.

Simmon schüttelte den Kopf. »Er soll ein ganz umgänglicher Kerl sein, aber ich habe noch nie mit ihm gesprochen. Mach einfach keine Dummheiten, dann wird schon alles glatt gehen.«

»Danke«, sagte ich sarkastisch und erhob mich.

Stanchion hatte eine mittelgroße Statur und war elegant in Dunkelgrün und Schwarz gekleidet. Er hatte ein rundes, bärtiges Gesicht und einen Bauchansatz, den man wahrscheinlich nur bemerkte, wenn er saß. Er lächelte und winkte mich zu sich. In der anderen Hand hielt er einen beeindruckend großen Humpen.

»Hallo«, sagte er freundlich. »Du siehst nach einem viel versprechenden Talent aus. Bist du hier, um heute Abend etwas für uns zu spielen?« Er hob fragend eine Augenbraue. Da ich ihn nun aus der Nähe sah, bemerkte ich, dass sein Haar einen rötlichen Schimmer hatte, den man aber nur sah, wenn das Licht entsprechend darauf fiel.

»Ich hoffe es, Sir«, sagte ich. »Aber eigentlich wollte ich noch eine Weile damit warten.«

»Aber gewiss doch. Vor Sonnenuntergang lassen wir hier ohnehin niemanden sein Talent erproben.« Er trank einen Schluck, und als er den Kopf drehte, sah ich, dass an seinem Ohr eine kleine goldene Panflöte hing.

Seufzend wischte er sich mit dem Ärmel den Mund ab. »Was spielst du denn? Laute?« Ich nickte. »Und hast du schon eine Idee, womit du uns umwerben willst?«

»Das kommt darauf an, Sir. Hat hier jemand in letzter Zeit Das Lied von Sir Savien Traliard gespielt?«

Stanchion hob eine Augenbraue und räusperte sich. Seinen Bart mit einer Hand glatt streichend, sagte er: »Hm, nein. Vor ein paar Monaten hat es mal jemand versucht, aber der musste bald einsehen, dass er sich damit übernommen hatte. Er hat ein paar Mal daneben gegriffen und dann schließlich aufgegeben.« Er schüttelte den Kopf. »Also: Nein. Nicht in letzter Zeit.«

Er trank wieder aus seinem Humpen und schluckte nachdenklich, bevor er weitersprach. »Die meisten Leute finden ja, dass ein nicht ganz so schwieriges Lied besser dazu geeignet ist, sein Talent unter Beweis zu stellen«, meinte er vorsichtig.

Der unausgesprochene Ratschlag entging mir nicht, und ich war nicht gekränkt. Sir Savien war wohl das schwierigste Lied, das ich je gehört hatte. Mein Vater war in unserer Truppe der einzige gewesen, der es beherrschte, und ich habe es ihn nur vier oder fünf Mal vor Publikum spielen sehen. Es war etwa fünfzehn Minuten lang und erforderte ein so virtuoses Spiel, dass gleichzeitig zwei Stimmen aus der Laute erklangen, eine Melodie und eine Harmonie.

Das war schon knifflig, hätte einen fähigen Lautenisten aber normalerweise nicht überfordert. Sir Savien war jedoch eine Ballade, und der Gesangspart beruhte auf einer Gegenmelodie in einem anderen Takt als dem des Lautenparts. Haarig. Und wenn das Lied so aufgeführt wurde, wie es eigentlich gedacht war, und die Strophen abwechselnd von einer Männer- und einer Frauenstimme gesungen wurden, erschwerten die Gegenharmonien in den Refrains des weiblichen Parts das Lied noch zusätzlich. Trefflich aufgeführt, brach es einem das Herz. Doch leider waren nur sehr wenige Musiker einem solchen Sturm von einem Lied gewachsen.

Stanchion trank noch einen Schluck und wischte sich dann mit dem Ärmel den Bart ab. »Singst du allein?«, fragte er und wirkte trotz seiner nur angedeuteten Warnung ein wenig aufgeregt. »Oder hast du jemanden mitgebracht, der dich begleiten wird? Ist etwa einer der Jungen, mit denen du hereingekommen bist, ein Kastrat?«

Ich stellte mir Wilem als Sopran vor und hätte fast laut losgelacht. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich kenne niemanden, der das singen kann. Ich dachte, ich wiederhole den dritten Refrain, damit jemand die Gelegenheit hat, als Aloine einzuspringen.«

»Wie bei den fahrenden Sängern, hm?« Er sah mich ernst an. »Junge, es ist nicht an mir, dir das zu sagen, aber willst du dich wirklich mit jemandem, mit dem du nie geprobt hast, um dein Abzeichen bewerben?«

Es beruhigte mich, dass ihm klar war, wie schwierig es werden würde. »Wie viele Träger des Abzeichens werden denn heute Abend hier sein – so ungefähr?«

Er überlegte kurz. »Ungefähr? Acht. Oder vielleicht zwölf.«

»Dann werden also aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens drei Frauen da sein, die ihr Können schon unter Beweis gestellt haben?«

Stanchion nickte und sah mich neugierig an.

»Nun«, sagte ich. »Wenn es stimmt, was ich überall gehört habe – wenn man hier wirklich nur mit hervorragenden Leistungen so ein Abzeichen erringt, dann wird mindestens eine dieser Frauen Aloines Part beherrschen.«

Stanchion nahm einen weiteren tiefen Schluck und beäugte mich dabei über seinen Humpen hinweg. Als er ihn schließlich wieder absetzte, vergaß er, sich den Bart abzuwischen. »Du bist ein stolzer Junge, was?«, fragte er frei heraus.

Ich ließ den Blick durch den Saal schweifen. »Ist das hier nicht das Eolian? Man sagte mir, dies sei der Ort, an dem der Stolze mit Silber bezahlt, um Gold zu erspielen.«

»Gefällt mir«, sagte Stanchion, fast wie im Selbstgespräch. »Gold erspielen.« Er knallte seinen Humpen auf den Tresen, und Schaum sprudelte heraus. »Verdammt noch mal, Junge, ich hoffe, du bist wirklich so gut, wie du offenbar glaubst. Ich könnte hier gut noch jemanden gebrauchen, der über Illiens Feuer verfügt.« Er strich sich durch sein rötliches Haar, um die doppelte Bedeutung zu unterstreichen.

»Und ich hoffe, dieser Ort ist wirklich so gut wie offenbar alle glauben«, sagte ich in ernstem Ton. »Ich brauche einen Ort, an dem ich brennen kann.«

»Er hat dich nicht rausgeschmissen«, witzelte Simmon, als ich an den Tisch zurückkam. »Dann ist es also nicht so schlecht gelaufen, wie es hätte laufen können.«

»Es ist ganz gut gelaufen, glaube ich. Aber ich bin mir nicht ganz sicher.«

»Wie kannst du dir da nicht sicher sein?«, entgegnete Simmon. »Ich habe ihn lachen sehen. Das muss doch was Gutes bedeuten.«

»Nicht unbedingt«, sagte Wilem.

»Ich versuche mich gerade an alles zu erinnern, was ich zu ihm gesagt habe«, gestand ich. »Manchmal plappert mein Mund einfach drauflos, und mein Hirn kommt kaum hinterher.«

»Das passiert dir oft, nicht wahr?«, sagte Wilem und zeigte ein seltenes Lächeln.

Das Geplänkel nahm mir die Anspannung. »Immer öfter«, gestand ich grinsend.

Wir tranken und scherzten über Kleinigkeiten, über Gerüchte rund um die Meister und über Studentinnen, die uns aufgefallen waren. Wir sprachen darüber, wen wir an der Universität mochten, aber weit mehr sprachen wir darüber, wen wir nicht mochten, und warum, und was wir mit denjenigen anstellen würden, wenn sich eine Gelegenheit bot.

Und so verging die Zeit, und das Eolian füllte sich allmählich. Simmon wurde durch Wilems Spott weich und begann, Scutten zu trinken, einen kräftigen, dunklen Wein von den Hängen des Shalda-Gebirges.

Und die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten: Er lachte lauter, grinste breiter und rutschte aufgekratzt auf seinem Sitz hin und her. Wilem hingegen blieb so wortkarg wie eh und je. Ich holte die nächste Runde – drei Krüge Apfelwein. Auf Wilems finsteren Blick reagierte ich, indem ich ihm sagte, wenn ich an diesem Abend mein Abzeichen erringen würde, würde ich ihm so viel Scutten spendieren, dass er sich auf einer Woge davon nach Hause schwemmen lassen könnte. Wenn aber einer von ihnen schon vorher betrunken sei, würde ich denjenigen verprügeln und in den Fluss werfen. Von da an ließen sie es merklich ruhiger angehen und fingen an, sich für Tinker Tanner neue, obszöne Verse auszudenken.

Ich ließ sie machen und zog mich in meine Gedanken zurück. Ich kam zu dem Schluss, dass Stanchion mit seinem unausgesprochenen Rat vielleicht doch recht hatte. Ich überlegte, welche anderen Lieder ich spielen könnte – Lieder, die schwierig genug waren, um damit mein generelles Können unter Beweis zu stellen, aber doch auch einfach genug, um mir Raum für ein paar Kabinettstückchen zu lassen.

Simmons Stimme holte mich ins Hier und Jetzt zurück. »Komm schon, du kannst doch so gut reimen …«, drängte er mich.

Ich wiederholte im Geiste den letzten Gesprächsfetzen von ihnen, den ich halbwegs mitbekommen hatte. »Versuch’s mal mit ›unter des Tehlaners Rock‹«, schlug ich desinteressiert vor. Ich war zu nervös, um zu erzählen, dass schon mein Vater einen Hang zu schmutzigen Limericks gehabt hatte.

Die beiden kicherten vergnügt, und ich grübelte wieder über die Frage nach, welches Lied ich singen sollte. Ich war noch nicht sehr weit damit gekommen, als Wilem mich erneut ablenkte.

»Was!«, sagte ich wütend. Doch dann sah ich bei Wilem einen Blick, den er nur hatte, wenn ihm etwas gar nicht gefiel. »Was?«, fragte ich noch einmal in manierlicherem Tonfall.

»Da ist jemand, den wir alle kennen und schätzen«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung zum Eingang.

Ich sah dort niemanden, den ich kannte. Das Eolian war nun schon ziemlich voll, und allein hier unten im Saal liefen und standen mindestens hundert Leute herum. Durch die offene Eingangstür bemerkte ich, dass es draußen dunkel geworden war.

»Er steht mit dem Rücken zu uns. Er faselt in seiner üblichen schmierigen Art auf eine schöne junge Dame ein, die ihn offenbar noch nicht kennt … rechts neben dem dicken Herrn in Rot«, lenkte Wilem meinen Blick.

»Der Scheißkerl«, sagte ich, zu verblüfft für ein angemesseneres Schimpfwort.

Simmon sah sich um. »Wer ist denn da?«

»Ambrose.«

»Ach du Scheiße«, sagte Simmon und duckte sich. »Das hat ja grade noch gefehlt. Habt ihr euch denn immer noch nicht versöhnt?«

»Ich lasse ihn in Frieden«, protestierte ich. »Aber jedes Mal, wenn er mich sieht, kann er es nicht lassen, irgendwelche Sticheleien in meine Richtung abzugeben.«

»Zu so etwas gehören immer zwei«, erwiderte Simmon.

»Ach was«, entgegnete ich. »Und es ist mir vollkommen egal, wessen Sohn er ist. Ich werde ihm nicht in den Arsch kriechen. Und wenn er mir dumm kommt, wird er sein blaues Wunder erleben.« Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen, und gab mir Mühe, vernünftig zu klingen. »Irgendwann wird er schon noch lernen, mich in Ruhe zu lassen.«

»Du solltest ihn auch einfach gar nicht beachten«, sagte Simmon und klang dabei erstaunlich nüchtern. »Lass dich einfach nicht provozieren, dann wird er es bald aufgeben.«

»Nein«, sagte ich und sah Simmon mit ernstem Blick in die Augen. »Nein, das wird er nicht.« Ich mochte Simmon sehr gern, aber manchmal war er unglaublich naiv. »Sobald er glaubt, dass ich schwach bin, wird er sich mit doppelter Vehemenz auf mich stürzen. Ich kenne diesen Typ.«

»Da kommt er«, bemerkte Wilem und wandte unauffällig den Blick ab.

Ambrose sah mich, noch bevor er auf unserer Seite des Saals angelangt war. Unsere Blicke trafen sich, und es war offensichtlich, dass er nicht erwartet hatte, mich hier zu sehen. Er sagte etwas zu einem seiner stets präsenten Stiefellecker, und sie zogen in eine andere Richtung los, um sich einen Tisch zu sichern. Dann sah Ambrose von mir zu Wilem und Simmon und zu meiner Laute hinüber und nahm dann wieder mich in den Blick. Schließlich wandte er sich ab und ging zu dem Tisch, den seine Freunde besetzt hatten. Und bevor er dort Platz nahm, sah er noch einmal zu mir herüber.

Es machte mich nervös, dass er nicht lächelte. Sonst hatte er mich stets höhnisch angelächelt.

Dann sah ich etwas, das mich noch weit mehr enervierte. Er trug einen rechteckigen Kasten. »Ambrose spielt Leier?«, fragte ich.

Wilem zuckte die Achseln. Simmon schaute beklommen drein. »Ich dachte, das wüsstest du«, sagte er.

»Habt ihr ihn hier schon mal gesehen?«, fragte ich. Sim nickte. »Hat er da gespielt?«

»Eher rezitiert. Gedichte. Und hat dazu ein bisschen auf der Leier rumgezupft.« Simmon guckte wie ein aufgeschrecktes Kaninchen.

»Hat er das Abzeichen verliehen bekommen?«, fragte ich. Wenn Ambrose Mitglied in diesem Verein war, wollte ich damit nichts zu tun haben.

»Nein«, sagte Simmon. »Er hat es versucht, aber …«

Wilem legte mir eine Hand auf den Arm und machte eine beschwichtigende Geste. Ich atmete tief durch, schloss die Augen und versuchte mich zu beruhigen.

Und dann wurde mir klar, dass das alles keine Rolle spielte. Es führte allenfalls dazu, dass ich an diesem Abend ein größeres Risiko einging. Ambrose würde nicht in der Lage sein, mich beim Spielen zu stören. Er würde gezwungen sein, mir zuzuhören. Er würde zuhören, wie ich Das Lied von Sir Savien Traliard sang und spielte, denn jetzt war es keine Frage mehr, was ich an diesem Abend zu Gehör bringen würde.

Das Programm des Abends begann mit einem ausgezeichneten Musiker aus dem Publikum. Er hatte eine Laute dabei und bewies, dass er darauf ebenso gut spielen konnte wie ein Edema Ruh. Sein zweites Lied, das ich noch nie gehört hatte, war sogar noch schöner.

Es folgte eine etwa zehnminütige Pause, und dann wurde ein weiterer ausgezeichneter Musiker auf die Bühne gerufen. Er hatte eine Panflöte bei sich und spielte so gut darauf, wie ich es noch nie gehört hatte. Anschließend sang er ein betörend schönes Trauerlied. Keine Begleitung, nur seine hohe, klare Stimme, die er ebenso virtuos beherrschte wie die Panflöte zuvor.

Ich war froh, dass die Musiker tatsächlich so hervorragend waren wie behauptet. Doch gleichzeitig wuchs auch meine Sorge. Das Gute ist des Guten einziger Gefährte. Hätte ich nicht schon aus anderen Gründen beschlossen gehabt, Das Lied von Sir Savien Traliard vorzutragen, so hätten mich diese Auftritte dazu gebracht.

Es folgte wieder eine Pause von fünf oder zehn Minuten. Mir wurde klar, dass Stanchion seinem Publikum mit diesen Pausen Gelegenheit gab, sich zu bewegen und Lärm zu machen. Der Mann verstand etwas von seinem Geschäft. Ich fragte mich, ob er früher wohl einmal ein Kollege meines Vaters gewesen war.

Dann folgte die erste Prüfung des Abends. Ein bärtiger Mann von etwa dreißig Jahren wurde von Stanchion auf die Bühne geleitet und dem Publikum vorgestellt. Er spielte Flöte, und zwar sehr gut. Er spielte zwei kürzere Stücke, die ich kannte, und ein längeres, das mir unbekannt war. Er spielte insgesamt etwa zwanzig Minuten, und ich bemerkte nur einen einzigen kleinen Fehler.

Als der Beifall verebbt war, blieb der Flötenspieler auf der Bühne, und Stanchion ging im Publikum umher und holte Meinungen ein. Ein Kellner brachte dem Flötisten ein Glas Wasser.

Schließlich kam Stanchion wieder auf die Bühne. Im Saal war es still, als er dem Musiker mit ernster Miene die Hand schüttelte. Dem Mann entgleiste der Gesichtsausdruck, aber dann rang er sich doch noch ein mattes Lächeln ab und nickte dem Publikum zu. Stanchion führte ihn von der Bühne und lud ihn anschließend zu einem Krug ein.

Die Nächste, die ihr Talent auf die Probe stellte, war eine prächtig gekleidete junge Frau mit goldblondem Haar. Nachdem Stanchion sie vorgestellt hatte, sang sie eine Arie, mit einer Stimme, die so klar und rein war, dass ich alle Sorgen für eine Weile vergaß und mich von ihrem Gesang gefangen nehmen ließ.

Doch allzu schnell war es vorbei und ließ mich mit Wehmut im Herzen und den Tränen nah zurück. Simmon schniefte ein wenig und rieb sich verlegen das Gesicht.

Dann sang sie ein zweites Lied und begleitete sich selbst auf einer kleinen Harfe. Ich sah ihr aufmerksam zu, und das nicht nur ihrer musikalischen Fähigkeiten wegen. Ihr Haar war wie reifer Weizen. Von meinem Platz aus, gut zehn Meter entfernt, konnte ich das klare Blau ihrer Augen sehen. Sie hatte geschmeidige Arme und kleine, feingliedrige Hände, mit denen sie über die Saiten huschte. Und die Art und Weise, wie sie die Harfe zwischen den Beinen hielt, ließ mich … nun ja, an die Dinge denken, an die jeder fünfzehnjährige Junge nun einmal ununterbrochen denkt.

Sie sang wieder so schön wie zuvor, doch leider spielte sie nicht gleich gut Harfe. Mitten im zweiten Lied vergriff sie sich und kam ins Stocken, ehe sie dann wieder hineinfand und ihren Vortrag beendete.

Als Stanchion diesmal im Publikum umherging, dauerte es länger. Er zog durch alle drei Etagen und sprach mit jedermann, mit Jung und Alt, mit Musikern und Laien.

Und während ich zusah, erhaschte Ambrose den Blick der Frau auf der Bühne und warf ihr ein typisches Ambrose-Lächeln zu, das auf mich immer so schmierig wirkte, die Frauen aber zu bezaubern schien. Dann wanderte sein Blick zu unserem Tisch hinüber, und wir sahen einander in die Augen. Sein Lächeln schwand, und eine ganze Zeitlang sahen wir einander einfach nur mit ausdrucksloser Miene an. Keiner von uns lächelte höhnisch oder stieß leise Beleidigungen aus. Trotzdem flammte in diesen Minuten unsere Feindschaft wieder auf. Wer von uns als Erster den Blick abwandte, weiß ich nicht mehr.

Nachdem er fast eine Viertelstunde lang Meinungen eingeholt hatte, betrat Stanchion wieder die Bühne. Wie bei dem Musiker zuvor ergriff er die Hand der goldblonden Frau. Und auch ihr war die Enttäuschung anzusehen. Stanchion geleitete sie von der Bühne und spendierte ihr das, was offenbar der Trost-Krug war.

Auf diesen Fehlversuch folgte ein weiterer ausgezeichneter Musiker, der Geige spielte. Er war ebenso gut wie seine beiden Vorgänger. Dann führte Stanchion einen älteren Herrn auf die Bühne, so als wollte dieser sein Talent erproben, doch der Beifall, der ihn empfing, schien darauf hinzudeuten, dass er hier so beliebt war wie die ausgezeichneten Musiker, die vor ihm aufgetreten waren.

Ich stieß Simmon an. »Wer ist das?«, fragte ich, während der graubärtige Mann seine Leier stimmte.

»Threpe«, flüsterte Simmon. »Also eigentlich Graf Threpe. Er spielt hier oft. Schon seit Jahren. Ein großer Förderer der schönen Künste. Er hat es schon vor Jahren aufgegeben, sich um das Abzeichen zu bewerben. Nun spielt er einfach nur. Alle mögen ihn.«

Threpe begann, und ich erkannte sofort, warum er nie ein Abzeichen errungen hatte. Seine Stimme bebte und versagte auch ein paar Mal, während er seine Leier zupfte. Der Rhythmus seines Vortrags änderte sich mitunter sprunghaft, und ob er sich verspielte oder nicht, war gar nicht einmal so einfach zu erkennen. Das Lied hatte er offenbar selbst geschrieben. Es enthielt die recht freimütige Enthüllung der privaten Gewohnheiten eines örtlichen Edelmannes. Doch obwohl ihm jedes Können im klassischen Sinne abging, lachte ich über seine Moritat ebenso schallend wie das übrige Publikum.

Er erntete einen Beifallssturm, einige Leute klopften sogar auf die Tische und trampelten mit den Füßen. Stanchion eilte sofort auf die Bühne und schüttelte dem Grafen die Hand, aber Threpe schien darüber nicht im Mindesten enttäuscht. Stanchion klopfte ihm begeistert auf den Rücken und geleitete ihn von der Bühne und an den Tresen.

Es war Zeit. Ich erhob mich und nahm meine Laute.

Wilem tätschelte mir den Arm, und Simmon gab mir ein aufmunterndes Lächeln mit, das kaschieren sollte, wie besorgt er war. Ich nickte den beiden zu und ging zu Stanchions Platz am Tresenende.

In meiner Tasche betastete ich das Silbertalent. Es fühlte sich dick und schwer an. Ein irrationaler Teil meiner selbst wollte es festhalten, für später aufheben. Ich wusste jedoch, dass mir in ein paar Tagen ein einziges Silbertalent nicht mehr viel nützen würde. Wenn ich aber das Abzeichen des Eolian besaß, konnte ich für meinen Lebensunterhalt sorgen, indem ich in den örtlichen Wirtshäusern auftrat. Und falls ich das Glück hatte, die Aufmerksamkeit eines Gönners zu erregen, hatte ich womöglich bald genug Geld, um meine Schulden bei Devi zu begleichen und auch noch meine Studiengebühren zu bezahlen. Es war ein Wagnis, das ich einfach eingehen musste.

Stanchion kam zurück an seinen Platz am Tresen.

»Wenn es Euch recht ist, würde ich gerne als Nächster auftreten, Sir«, sagte ich. Ich hoffte, dass man mir meine Nervosität nicht ansah. Meine Handflächen waren so feucht, dass mir der Lautenkasten immer wieder fast entglitt.

Er lächelte und nickte. »Du hast ein gutes Auge fürs Publikum. Die sind hier jetzt reif für ein trauriges Lied. Soll es immer noch der Savien sein?«

Ich nickte.

Er setzte sich und trank einen Schluck. »Also gut, aber lass sie noch ein paar Minuten quatschen und lärmen.«

Ich war einverstanden und lehnte mich an den Tresen. Die Zeit bis zu meinem Auftritt nutzte ich unsinnigerweise dazu, mich über Dinge zu ärgern, auf die ich keinen Einfluss hatte. An meiner Laute war ein Wirbel lose, und ich hatte nicht das Geld, ihn reparieren zu lassen. Es waren bisher keine ausgezeichneten Frauen aufgetreten. Ich verspürte ein ängstliches Unbehagen bei dem Gedanken, dass dies womöglich einer der ganz seltenen Abende war, an denen im Eolian keine Musikerinnen mit Auszeichnung auftraten, oder nur solche, die Aloines Part nicht beherrschten.

Stanchion stieg von seinem Hocker und blickte mich fragend mit erhobener Augenbraue an. Ich nickte und nahm meinen Lautenkasten, der mir mit einem Mal fürchterlich schäbig vorkam. Gemeinsam gingen wir die Treppe zur Bühne hinauf.

In dem Moment, als ich die Bühne betrat, verstummten die Gespräche im Saal. Gleichzeitig verschwand meine Nervosität. So war es immer bei mir. Vor dem Auftritt hatte ich fürchterliches Lampenfieber. Doch wenn ich erst einmal auf der Bühne stand, war ich so ruhig wie eine windstille Winternacht.

Stanchion stellte mich als Anwärter auf das Abzeichen vor. Seine Worte hatten die beruhigende Wirkung eines Rituals. Als er auf mich zeigte, folgte kein Beifall, sondern nur erwartungsvolles Schweigen. Für einen Augenblick sah ich mich, wie das Publikum mich sehen musste: Nicht gut gekleidet, wie die anderen, sondern beinahe in Lumpen. Und jung, fast noch ein Kind. Ich spürte ihre Neugier und ließ mir Zeit, während ich meinen ramponierten, gebraucht gekauften Lautenkasten öffnete und meine ramponierte, gebraucht erstandene Laute herausnahm. Ich spürte, wie bei diesem vertrauten Anblick die Aufmerksamkeit des Publikums wuchs. Ich spielte leise ein paar Akkorde, griff dann nach den Wirbeln und stimmte die Laute ein klein wenig nach. Dann spielte ich wieder ein paar Akkorde, lauschte und nickte schließlich.

Das Licht, das die Bühne erhellte, ließ den restlichen Saal von dort gesehen schummrig erscheinen. Als ich in den Zuschauerraum blickte, schienen mich tausend Augen anzusehen. Simmon und Wilem. Stanchion am Tresen. Deoch am Eingang. Ich verspürte ein leichtes Flattern in der Magengegend, als ich sah, dass Ambrose mich mit vor Hass glühenden Augen ansah.

Ich wandte den Blick von ihm ab und sah einen bärtigen Mann in Rot, Graf Threpe, ein älteres Paar, das Händchen hielt, ein schönes, dunkeläugiges Mädchen …

Mein Publikum. Ich lächelte ihnen zu. Und dann sang ich.

Schweigt still! Denn so ihr auch bekämt

Der Lieder viel zu hören, ihr vernähmt

wie dies kein zweites, von Illien selbst verfasst

Vor Zeiten. Eines Meisterlebens Meistersang

Von Savien und Aloine, die er zur Frau errang.

Ein Raunen ging durch den Saal. Die das Lied kannten, murmelten erstaunt, und die es nicht kannten, fragten ihre Nachbarn, was der Aufruhr zu bedeuten habe.

Ich legte die Hände auf die Saiten und bannte so erneut ihre Aufmerksamkeit. Im Saal wurde es still, und ich begann zu spielen.

Die Musik strömte aus mir heraus, und meine Laute war wie eine zweite, dann auch wie eine dritte Stimme. Ich sang in dem stolzen und kraftvollen Tonfall Savien Traliards, dem Größten der Amyr. Das Publikum wogte unter der Musik wie ein Kornfeld unter dem Wind. Ich sang als Sir Savien, und ich spürte, dass sie anfingen, mich zu lieben und zu fürchten.

Ich war es so gewöhnt, das Lied allein zu üben, dass ich fast vergessen hätte, den dritten Refrain noch einmal zu wiederholen. Es fiel mir im letzten Moment noch ein, und kalter Schweiß brach mir aus. Und während ich sang, schaute ich ins Publikum und hoffte, dass eine Frauenstimme mir antworten würde.

Ich erreichte das Ende des Refrains, und als Nächstes folgte nun Aloines erste Strophe. Ich schlug den ersten Akkord hart an und ließ den Ton verhallen, ohne dass er eine Stimme aus dem Publikum angelockt hatte. Ich schaute ganz ruhig in den Saal und wartete. Eine große Erwartung rang in mir mit einer noch größeren Enttäuschung.

Dann schwebte eine Stimme sacht wie eine Feder zur Bühne empor und sang …

Savien, woher wusstest du,

Dass die Zeit mich aufzusuchen war?

Savien, du erinnerst dich

Der Tage süß und wunderbar?

Wie gut hast du behalten, was

In Herz mir und Gemüt lag immerdar?

Sie sang die Aloine, ich den Savien. Bei den Refrains verbanden, vermengten, umschlangen sich unsere Stimmen. Aus einem Impuls heraus suchte ich im Publikum nach dem Gesicht der Frau mit der mondscheinkühlen Stimme, doch bei diesem Versuch versagten mir kurz die Finger. Abgelenkt, griff ich daneben und verursachte einen Missklang.

Ein kleiner Fehler. Ich biss die Zähne zusammen und konzentrierte mich auf mein Spiel. Meine Neugier schob ich beiseite.

Und wir sangen! Ihre Stimme war wie brennendes Silber und meine Stimme die Antwort darauf. Savien sang kraftvolle Verse, wie die Äste einer uralten Eiche, und Aloines Gesang glich einer Nachtigall, die diese stolzen Äste graziös umflattert.

Ich war mir des Publikums jetzt nur noch vage bewusst und spürte kaum den Schweiß auf meiner Haut. So sehr war ich in meine Musik versunken, dass ich nicht hätte sagen können, wo sie endete und ich begann.

Doch das Ende kam – in der vorletzten Strophe. Als ich den ersten Akkord spielte, hörte ich ein durchdringendes Geräusch, das mich aus der Musik herausriss wie eine Angelschnur einen Fisch aus dem Wasser.

Eine Saite war gerissen. Von der Bruchstelle oben am Hals peitschte sie mir über den Handrücken und hinterließ einen blutigen Striemen.

Ich starrte die Saite an. Sie hätte nicht reißen dürfen. Keine meiner Saiten war so abgenutzt, dass die Gefahr bestand, dass sie riss. Aber dennoch war es geschehen, und während die letzten Töne des Lieds verhallten, spürte ich, wie sich das Publikum regte. Es begann aus dem Wachtraum, in den ich es mit meinem Lied versetzt hatte, zu erwachen.

In dieser Stille fiel für mich alles auseinander: Das Publikum erwachte, obwohl der Traum noch nicht zu Ende war, und mein ganzes Werk war zunichte gemacht. Und die ganze Zeit brannte in mir das Lied, das Lied, das Lied!

Ohne zu wissen, was ich da tat, legte ich die Finger wieder auf die Saiten und versenkte mich tief in mich selbst. Ich tauchte in die Jahre hinab, als meine Hände noch steinharte Schwielen gehabt hatten und mir das Musikmachen so leicht gefallen war wie das Atmen. Ich tauchte hinab in die Zeit, als ich auf einer Laute mit nur sechs Saiten nachgespielt hatte, wie der Wind ein Blatt trudeln ließ.

Und ich begann wieder zu spielen. Erst langsam, dann, als meine Finger sich erinnerten, immer schneller. Ich sammelte die einzelnen Fäden des Liedes ein und verwob sie wieder zu dem, was sie kurz zuvor noch gewesen waren.

Es war nicht perfekt. Ein so hochkomplexes Lied wie Sir Savien lässt sich nun mal auf sechs Saiten nicht so perfekt spielen wie auf sieben. Aber es war wieder ganz, und als ich spielte, seufzte das Publikum und ließ sich langsam wieder in den Bann ziehen.

Ich wusste kaum, dass sie da waren, und nach einer Minute hatte ich sie vollkommen vergessen. Meine Finger tanzten, liefen, wirbelten über die Saiten, während ich darum rang, dass die beiden Stimmen der Laute weiterhin meine Stimme begleiteten. Dann vergaß ich auch die Saiten und vergaß überhaupt alles, außer, das Lied zu Ende zu spielen.

Es folgte der Refrain, und Aloine sang wieder. Für mich war sie kein menschliches Wesen und auch keine Stimme mehr, sondern nur noch ein Bestandteil des Lieds, das aus mir herausloderte.

Und dann war es geschafft. Als ich den Kopf hob, um in den Saal zu blicken, war es, als käme ich an die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Ich war wieder ich selbst und merkte, dass meine Hand blutete und ich am ganzen Leib schweißgebadet war. Und dann traf mich das Ende des Lieds wie ein Fausthieb vor die Brust, wie es mir damit immer ergangen ist, ganz gleich, wo und wann ich es gehört habe.

Ich vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Nicht wegen der gerissenen Saite oder des möglichen Scheiterns bei dieser Prüfung. Nicht wegen der verletzten Hand oder des vergossenen Bluts. Ich weinte nicht einmal wegen des Jungen, der damals im Wald gelernt hatte, auf einer sechssaitigen Laute zu spielen. Nein, ich weinte um Sir Savien und Aloine, um eine verlorene und wieder gefundene und wieder verlorene Liebe. Ich beweinte die Grausamkeit des Schicksals und die Torheit der Menschen.

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