Kapitel 24

Dunkle Schemen

Während meiner ganzen Zeit in Tarbean lernte ich immer weiter hinzu, und die meisten dieser Lektionen waren unangenehm oder schmerzhaft.

Ich lernte zu betteln. Das war eine äußerst praktische Anwendung der Schauspielkunst vor einem äußerst schwierigen Publikum. Ich schlug mich gut, doch in Waterside war das Geld stets knapp, und eine leere Bettelschale bedeutete eine Nacht in der Kälte, mit leerem Magen.

In einem sehr riskanten Selbststudium brachte ich mir die Kunst des Taschendiebstahls bei. Und auch hier schlug ich mich durchaus wacker. Schlösser aller Art gaben mir schnell ihr Geheimnis preis. Meine flinken Finger kamen auf eine Art und Weise zum Einsatz, von der meine Eltern oder Abenthy nie etwas geahnt hatten.

Ich lernte, vor jedem wegzulaufen, der unnatürlich weiße Zähne hatte. Denner-Harz bleicht das Gebiss, und wenn ein Harz-Süchtiger so lange überlebt, dass er vollkommen weiße Zähne bekommt, hat er höchstwahrscheinlich schon seine gesamte Habe für diese Droge dreingegeben. Es wimmelte in Tarbean von gefährlichen Menschen, aber die Harz-Süchtigen waren die gefährlichsten. Die brachten einen für ein paar Pennys um die Ecke.

Ich lernte, aus Lumpen notdürftig Schuhe zusammenzubinden. Von richtigen Schuhen konnte ich nur noch träumen. In den ersten beiden Jahren hatte ich daher stets kalte Füße – oder wunde – oder beides. Im dritten Jahr hatte ich dann Fußsohlen wie aus altem Leder bekommen und konnte stundenlang barfuß über das raue Pflaster der Stadt laufen, ohne es auch nur zu spüren.

Ich lernte, von niemandem Hilfe zu erwarten. In den schlechten Gegenden von Tarbean lockte ein Hilferuf räuberische Gestalten an, so als läge Blutgeruch in der Luft.

Einmal erwachte ich in meinem geheimen Dachversteck von rauem Gelächter und Fußgetrappel in der Gasse unter mir.

Die Schritte hielten an, und auf das Geräusch reißender Kleider folgte weiteres Gelächter. Ich schlich mich an den Rand des Dachs und sah hinab. Fünf oder sechs große Jungen, fast schon junge Männer, waren zu sehen. Sie waren wie ich in dreckige Lumpen gekleidet. Wie dunkle Schemen huschten sie im Dämmerlicht umher. Ihr schweres Atmen nach dem Lauf hallte zu mir herauf.

Ihre Jagdbeute stand mitten auf der Gasse: ein kleiner Junge, höchstens acht Jahre alt. Einer der Älteren hielt ihn fest. Die nackte Haut des Kleinen schimmerte im Mondschein. Dann hörte ich wieder Kleider reißen, und der Junge gab einen leisen Schrei von sich, gefolgt von einem erstickten Schluchzer.

Die anderen sahen zu und sprachen leise und eindringlich miteinander, ein gieriges Grinsen auf dem Gesicht.

Ich war auch schon ein paar Mal nachts gejagt worden. Und einige Monate zuvor hatten sie mich auch einmal gekriegt. Ich sah weiter hinab, und zu meinem Erstaunen hatte ich mit einem Mal einen schweren Dachziegel in der Hand, bereit zum Wurf.

Doch dann hielt ich inne und sah mich zu meinem Versteck um. Ich hatte dort eine Decke und ein halbes Brot. Mein Notgroschen war dort versteckt, acht Eisenpenny. Und das Wertvollste, was ich besaß: Bens Buch. Ich war dort in Sicherheit. Selbst wenn ich einen der Jungen mit dem Ziegel getroffen hätte, wären die anderen zwei Minuten später bei mir auf dem Dach gewesen. Und selbst wenn ich ihnen entkommen wäre, hätte ich anschließend keine Zuflucht mehr gehabt.

Ich legte den Ziegel wieder hin und kroch zurück in das, was meine Heimstatt geworden war. Ich klammerte mich an meine Decke, biss die Zähne zusammen und mühte mich, das Stimmengemurmel von unten, das ab und an von derbem Gelächter und verzweifelten Schluchzern unterbrochen wurde, nicht mehr in mein Bewusstsein dringen zu lassen.

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