Kapitel 15

Ablenkungen und Abschiede

Der Ort hieß Hallowfell. Wir blieben ein paar Tage, weil es dort einen fähigen Stellmacher gab und fast alle unsere Wagen eine Reparatur brauchten. Und während wir warteten, bekam Ben ein Angebot, das er nicht ausschlagen konnte.

Sie war Witwe, recht wohlhabend, recht jung und meinem unerfahrenen Blick nach recht attraktiv. Offiziell hieß es, sie bräuchte einen Privatlehrer für ihren kleinen Sohn. Doch wer Ben und sie zusammen sah, kannte die wahre Geschichte.

Sie war die Gattin des örtlichen Braumeisters gewesen, der zwei Jahre zuvor ertrunken war. Sie führte die Brauerei weiter, so gut sie nur konnte, schlug sich dabei mit ihren mangelnden Kenntnissen aber mehr schlecht als recht …

Wie Ihr seht, hätte man Ben keine bessere Falle stellen können, auch wenn man sehr viel Phantasie darauf verwendet hätte.

Die Pläne änderten sich, und die Truppe blieb noch ein paar Tage länger in Hallowfell. Mein zwölfter Geburtstag nahte, und die Feier wurde vorgezogen und mit Bens Abschiedsfest zusammengelegt.

Um das zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass es nichts Tolleres gibt, als wenn eine Truppe für sich selber spielt. Gute Unterhaltungskünstler bemühen sich, jeden Auftritt als etwas ganz Besonderes erscheinen zu lassen, auch wenn sie mit eben dieser Darbietung schon Hunderte Male vor anderem Publikum aufgetreten sind. Selbst Truppen, die wirklich mit Leib und Seele bei der Sache sind, legen auch schon mal eine fade Vorstellung hin, zumal wenn sie wissen, dass sie damit durchkommen werden.

Kleine Ortschaften, Dorfschenken – kein Mensch konnte dort gute Unterhaltung von schlechter unterscheiden. Der Kollege aber konnte das.

Und außerdem: Wie unterhält man Leute, die die Vorstellung schon tausendmal gesehen haben? Man entstaubt die alten Tricks. Man probiert ein paar neue aus. Man hofft das Beste. Und die großen Fehlschläge sind dabei natürlich ebenso unterhaltsam wie die großen Erfolge.

Mir ist dieser Abend als wunderbarer Wirbel aus herzlichen Empfindungen mit einem bitteren Beigeschmack in Erinnerung geblieben. Fiedeln, Lauten und Trommeln – alle spielten, tanzten und sangen, nach Herzenslust.

Ich bekam auch Geschenke. Trip schenkte mir ein Gürtelmesser mit Ledergriff, weil er fand, jeder Junge sollte etwas haben, womit er sich wehtun könnte. Von Shandi bekam ich einen schönen, selbstgeschneiderten Umhang mit vielen kleinen Taschen für die Schätze eines Knaben. Meine Eltern schenkten mir eine Laute, ein wunderschönes Instrument aus dunklem Holz. Ich musste natürlich ein Lied darauf spielen, und Ben sang dazu. Ein paar Mal griff ich auf den Saiten des noch ungewohnten Instruments daneben, und Ben fand ein, zwei Mal nicht den Ton, aber es war dennoch schön.

Ben machte ein Fässchen Met auf, das er »für genau so einen Anlass« aufgehoben hatte. Ich weiß noch, der Honigwein schmeckte, wie ich mich fühlte: bittersüß.

Einige Leute hatten sich zusammengetan, um Die Ballade von Ben, dem Besten aller Brauer zu schreiben, und mein Vater trug sie so ernst und feierlich vor, als wäre es der königliche Stammbaum derer von Modegan, und begleitete sich selbst dazu auf einer kleinen Harfe. Alle lachten, bis es wehtat, und Ben lachte am meisten.

Irgendwann an diesem Abend packte mich meine Mutter und tanzte im Kreis mit mir. Ihr Lachen klang wie verwehte Musik. Ihr Haar und ihr Rock umwirbelten mich. Sie roch tröstlich, wie nur Mütter riechen können. Dieser Geruch und der hingelachte Kuss, den sie mir gab, trug mehr dazu bei, den Abschiedsschmerz von Ben zu lindern, als all die Belustigungen zusammengenommen.

Shandi bot Ben an, ihm einen ganz besonderen Tanz vorzuführen, aber nur, wenn er in ihr Zelt mitkäme. Ich hatte Ben noch nie erröten sehen, aber er schlug sich wacker. Erst zögerte er, und als er dann schließlich ablehnte, war ihm anzusehen, dass es ihm so schwer fiel, als müsste er sich die Seele aus dem Leib reißen. Shandi protestierte und schmollte sehr hübsch, behauptete, den Tanz lange einstudiert zu haben. Als sie Ben schließlich in ihr Zelt zerrte, wurde das von der ganzen Truppe mit Beifall bedacht.

Trip und Teren führten einen Schwertkampf auf, der zum einen aus atemberaubenden Fechtszenen bestand, zum anderen aus einem dramatischen Monolog (von Teren vorgetragen) und schließlich auch aus Possenszenen, die Trip offenkundig improvisierte. Im Laufe des Kampfes, der sich durchs ganze Lager zog, gelang es Trip, seine Schwertklinge abzubrechen, sich unter dem Rock einer Dame zu verstecken, mit einer Wurst zu fechten und derart phantastische akrobatische Kunststücke zu vollführen, dass es ein Wunder war, dass er sich keine schweren Verletzungen zuzog. Ihm platzte lediglich der Hosenboden.

Dax setzte sich in Brand, als er eine besonders spektakuläre Feuerspeinummer bringen wollte, und musste mit Wasser übergossen werden. Er trug aber nur einen angesengten Bart davon und einen leicht geknickten Stolz. Dank Bens liebevoller Pflege, eines Bechers Met und der Erinnerung daran, dass nicht jeder dazu geschaffen ist, Augenbrauen zu besitzen, erholte er sich schnell wieder.

Meine Eltern sangen Das Lied von Sir Savien Traliard. Wie die meisten großartigen Lieder stammte es von Illien, und dieses Stück galt allgemein als Krönung seines Werks.

Es ist ein wunderschönes Lied, und noch schöner wurde es dadurch, dass ich es meinen Vater bis dahin nur etwa ein halbes Dutzend Mal hatte singen hören. Es ist höllisch kompliziert, und mein Vater war wahrscheinlich der einzige in der Truppe, der ihm gerecht werden konnte. Er ließ es sich zwar nicht anmerken, aber ich spürte, dass es selbst für ihn strapaziös war. Meine Mutter sang die zweite Stimme. Wenn die beiden einatmeten, schien selbst das Feuer innezuhalten. Es griff mir ans Herz, ließ es höher schlagen und bluten. Und ich weinte – wegen der Herrlichkeit der beiden Stimmen, die so vollkommen harmonierten, und auch, weil das Lied so tragisch war.

Ja, als das Lied zu Ende war, weinte ich. Ich weinte damals, und ich habe seither jedes Mal geweint. Selbst wenn die Geschichte vorgelesen wird, kommen mir die Tränen. Ich finde, wer sich davon nicht rühren lässt, hat keine menschlichen Gefühle.

Nachdem sie geendet hatten, herrschte kurz Schweigen, alle wischten sich die Augen und schnäuzten sich. Dann, nachdem etwas Zeit war, sich zu erholen, rief jemand: »Lanre! Lanre!«

Etliche weitere schlossen sich an und riefen: »Ja, Lanre!«

Mein Vater lächelte schmerzlich und schüttelte den Kopf. Er sang niemals auch nur Teile eines Lieds, das noch nicht fertig war.

»Komm schon, Arl!«, rief Shandi. »Du hast uns wirklich lange genug schmoren lassen.«

Er schüttelte noch einmal den Kopf, immer noch lächelnd. »Es ist noch nicht fertig.« Er bückte sich und legte seine Laute vorsichtig in ihren Kasten.

»Nur eine kleine Kostprobe, Arliden.« Das kam von Teren.

»Ja, Ben zuliebe. Es wäre doch wirklich nicht fair, wenn er mitbekommen hat, wie du die ganze Zeit daran herumgebosselt hast, und dann gar nicht mehr erfährt …«

»… fragen uns sowieso, was du die ganze Zeit mit deiner Frau im Wagen anstellst, wenn du nicht …«

»Sing es!«

»Lanre!«

Trip dirigierte die Truppe, formte sie flugs zu einer im Chor rufenden Masse, der mein Vater fast eine Minute lang widerstand, bis er schließlich nachgab und die Laute wieder aus dem Kasten nahm. Allgemeiner Jubel.

Die Menge wurde ganz still, als er sich wieder setzte. Er stimmte ein, zwei Saiten nach, obwohl er die Laute eben erst weggelegt hatte. Er spannte die Finger, spielte ein paar leise, improvisierte Töne und ging dann so unmerklich zu dem Lied über, dass ich es erst bemerkte, als es schon begonnen hatte. Und dann erhob sich die Stimme meines Vaters über dem Klang seiner Laute:

Setzt euch und lauscht, denn singen will ich

euch eine Mär, erzählt und vergessen

vor alter Zeit. Die Mär eines Mannes.

Des stolzen Lanre, stark wie der Frühling,

den Stahl seines Schwerts stets zu zücken bereit.

Hört, wie er kämpfte, fiel und erstand

und abermals fiel und ins Schattenreich kam.

Er fiel durch die Liebe, die Liebe zur Heimat

Und seiner Frau Lyra, auf deren Ruf hin er, heißt’s,

durch die Pforte des Todes ward wiedergeboren

und als ersten Hauch ihren Namen sprach.

Mein Vater atmete ein und hielt inne, den Mund geöffnet, so als würde er gleich weitersingen. Dann jedoch zeigte sich ein schalkhaftes Grinsen auf seinem Gesicht, und er beugte sich hinab und legte die Laute zurück in den Kasten. Ein Sturm der Entrüstung brach los, aber eigentlich wussten sie alle, dass sie froh sein konnten, überhaupt so viel gehört zu haben. Jemand anderes stimmte ein Tanzlied an, und die Proteste verstummten.

Meine Eltern tanzten miteinander, und der Kopf meiner Mutter ruhte an der Brust meines Vaters. Sie hatten die Augen geschlossen und wirkten vollkommen zufrieden. Wenn man so jemanden findet, jemanden, den man in den Armen halten und mit dem man gemeinsam die Augen vor der Welt schließen kann, dann hat man Glück gehabt. Selbst wenn es nur einen Tag oder auch nur eine Minute währt. Dieses Bild der beiden, wie sie sich zur Musik wiegen, sehe ich nach all den Jahren immer noch, vor mir, wenn ich an sie denke.

Anschließend tanzte Ben mit meiner Mutter, mit sicheren, würdevollen Schritten. Ich war ganz hingerissen von dem schönen Anblick, den sie boten. Ben – alt, grau und beleibt, mit seinem zerfurchten Gesicht und den angesengten Augenbrauen. Meine Mutter – schlank, frisch und munter, mit ihrem hellen, faltenlosen Gesicht im Feuerschein. Sie ergänzten einander durch ihre Gegensätze. Es tat mir in der Seele weh zu wissen, dass ich sie womöglich nie wieder zusammen sehen würde.

Da dämmerte im Osten schon der Morgen. Alle fanden sich ein, um sich ein letztes Mal zu verabschieden.

Ich weiß nicht mehr, was meine letzten Worte an Ben waren. Ich weiß nur noch, dass sie mir auf jämmerliche Weise unzulänglich erschienen, aber ich wusste auch, dass er dafür Verständnis hatte. Ich musste ihm versprechen, mich mit den Dingen, die er mir beigebracht hatte, nicht in Schwierigkeiten zu bringen.

Er bückte sich ein wenig, schloss mich in die Arme und zauste mir dann das Haar. Ich störte mich nicht daran. Als kleine Revanche versuchte ich, seine Augenbrauen glatt zu streichen, was ich schon immer hatte tun wollen.

Sein verblüffter Blick war wunderbar. Er schloss mich noch einmal fest in die Arme. Dann ging er zurück.

Meine Eltern versprachen, die Truppe wieder in diese Stadt zu lotsen, wenn wir das nächste Mal in der Gegend waren. Sämtliche Mitglieder der Truppe bekundeten, dass man sie dazu nicht groß würde lotsen müssen. Doch so jung ich auch war, kannte ich doch die Wahrheit. Es würde sehr viel Zeit vergehen, ehe ich ihn wiedersah. Jahre.

Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie wir an diesem Morgen aufbrachen. Ich weiß nur noch, wie ich versuchte einzuschlafen und mich dabei sehr einsam fühlte und einen dumpfen, bittersüßen Schmerz empfand.

Als ich an diesem Nachmittag erwachte, sah ich, dass neben mir ein Päckchen lag. Es war in Sackleinen gehüllt und mit Bindfaden verschnürt, und oben drauf flatterte ein Zettelchen mit meinem Namen wie ein Fähnchen im Wind.

Ich wickelte es aus und erkannte das Buch schon am Einband. Es war Rhetorik und Logik, das Buch, mit dessen Hilfe Ben mir das Argumentieren beigebracht hatte. Aus seiner kleinen, aus einem Dutzend Bände bestehenden Handbibliothek war es das einzige, das ich nicht von vorne bis hinten durchgelesen hatte. Ich konnte es nicht leiden.

Ich schlug es auf und entdeckte auf dem Vorsatz eine Inschrift. Sie lautete:

Lieber Kvothe,

schlage dich wacker an der Universität. Ich möchte stolz auf dich sein. Und denke immer an das Lied deines Vaters. Hüte dich vor Torheiten.

Dein Freund

Abenthy

Ich hatte mit Ben nie darüber gesprochen, dass ich die Universität besuchen würde. Natürlich träumte ich davon, eines Tages dorthin zu gehen. Ich zögerte jedoch, mit meinen Eltern über diese Träume zu sprechen. Die Universität zu besuchen würde bedeuten, meine Eltern und meine Truppe und alles, was ich je gekannt hatte, zu verlassen.

Das war offen gestanden ein beängstigender Gedanke. Wie es wohl wäre, sich an einem Ort niederzulassen – nicht nur für einen Abend oder eine Spanne, sondern für Monate? Jahre gar? Keine Auftritte mehr? Kein Herumtollen mehr mit Trip und nie mehr den flegelhaften jungen Edelmann in Drei Wünsche frei spielen? Keine Wagen mehr? Niemand mehr, mit dem man singen konnte?

Ich hatte nie etwas dazu gesagt, aber Ben hatte es sich gedacht. Ich las noch einmal die Inschrift, weinte ein wenig und versprach ihm, dass ich mein Bestes geben würde.

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