Kapitel 71

Die sonderbare Anziehung

Drei Minuten später stand ich vor dem Eingang des nächsten Mietstalls. Ein gut gekleideter Kealde lächelte mir zu und kam, um mich zu begrüßen. »Guten Tag, Sir«, sagte er und gab mir die Hand. »Mein Name ist Kaerva. Darf ich fragen –«

»Ich brauche ein Pferd«, sagte ich und schüttelte ihm rasch die Hand. »Gesund, ausgeruht und gut genährt. Ein Pferd, das heute noch sechs Stunden harten Ritt verkraftet.«

»Gewiss, gewiss«, sagte Kaerva, rieb sich die Hände und nickte. »Mit dem Willen Gottes ist alles möglich. Ich würde Euch herzlich gerne …«

»Hört zu«, unterbrach ich ihn. »Ich bin in Eile, also lasst uns bitte gleich zur Sache kommen. Ich werde kein Desinteresse vortäuschen, und Ihr werdet meine Zeit nicht damit vergeuden, mir irgendwelche Klepper und Schindmähren vorzuführen. Wenn ich in zehn Minuten kein Pferd gekauft habe, gehe ich woanders eins kaufen.« Ich sah ihm in die Augen »Lhinsatva?«

Der Kealde war entgeistert. »Sir, den Kauf eines Pferdes sollte man nicht überstürzen. Kein Mensch würde sich je in zehn Minuten eine Ehefrau aussuchen, und unterwegs, auf den Straßen, ist ein Pferd wichtiger als eine Ehefrau.« Er lächelte verschämt. »Selbst Gott hat –«

Ich schnitt ihm erneut das Wort ab. »Gott kauft heute kein Pferd. Ich kaufe eins.«

Der dünne Kealde hielt inne, um seine Gedanken zu ordnen. »Also gut«, sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu mir. »Lhin, dann kommt bitte mit und schaut Euch an, was wir haben.«

Er führte mich um den Stall herum zu einem Pferch. Dort zeigte er auf ein Pferd in der Nähe des Zauns. »Diese gescheckte Stute dort ist ein so solides Tier, wie Ihr Euch nur eins erhoffen könnt. Sie trägt Euch …«

Ich beachtete ihn nicht weiter und ließ den Blick kurz über das halbe Dutzend Klepper schweifen, die in dem Pferch beieinander standen. Ich hatte zwar weder die Mittel noch einen Grund, mir ein Pferd zu halten, vermochte aber Gut von Schlecht zu unterscheiden, und keines der Pferde, die ich hier sah, entsprach auch nur im Mindesten meinen Bedürfnissen.

Bei einer fahrenden Theatertruppe steht und fällt alles mit den Pferden, die die Wagen ziehen, und meine Eltern hatten meine Ausbildung in dieser Hinsicht nicht vernachlässigt. Schon mit acht Jahren konnte ich Pferde richtig einschätzen. Die Leute versuchten oft, uns halbtote oder nur noch ein letztes Mal aufgemöbelte Tiere anzudrehen, weil sie wussten, dass wir, wenn wir unseren Irrtum bemerkten, wohl schon einige Tagesreisen entfernt sein würden. Wer seinem Nachbarn ein krankes Pferd andreht, dem steht Ärger ins Haus, aber was war schon dabei, diese schmutzigen und verrufenen Ruh übers Ohr zu hauen?

Ich wandte mich wieder dem Kealden zu und runzelte die Stirn. »Ihr habt soeben zwei Minuten meiner kostbaren Zeit vergeudet, also nehme ich an, dass Ihr immer noch nicht verstanden habt, worum es mir geht. Deshalb sage ich es Euch noch einmal ganz unmissverständlich: Ich will ein schnelles Pferd, das heute noch einen harten Ritt verkraftet. Dafür werde ich sofort bezahlen, in harter Münze und ohne mich zu beklagen.« Ich hob meinen frisch gefüllten Geldbeutel und schüttelte ihn, da ich wusste, dass er schon am Klang erkennen würde, dass sich darin gutes kealdisches Silber befand.

»Wenn Ihr mir ein Pferd verkauft, das ein Hufeisen verliert oder zu humpeln anfängt oder sich vor Schatten fürchtet, werde ich eine einmalige Gelegenheit verpassen. Eine Gelegenheit, die nicht wiederkommt. Wenn das passieren sollte, werde ich nicht wiederkommen und mein Geld zurückverlangen. Ich werde auch nicht zur Polizei gehen. Nein, ich komme dann noch heute Nacht nach Imre zurück und werde Euer Haus anzünden. Und wenn Ihr dann im Nachthemd herausgelaufen kommt, werde ich Euch töten, Euch anschließend braten und verspeisen. An Ort und Stelle, in Eurem Vorgarten, unter den Augen der gesamten Nachbarschaft.«

Ich sah ihn mit todernster Miene an. »Das ist die geschäftliche Vereinbarung, die ich Euch vorschlage, Kaerva. Wenn Euch daran etwas nicht gefällt, sagt Bescheid, dann gehe ich woanders hin. Doch wenn wir uns einig sind, dann lasst es bleiben, mir diese Viecher vorzuführen, und zeigt mir ein richtiges Pferd.«

Der kleine Kealde sah mich an, mehr verblüfft als entsetzt. Ich sah, dass er sich Mühe gab, die Situation einzuschätzen. Er musste mich entweder für einen Wahnsinnigen oder für den Sohn eines wichtigen Adligen halten. Oder für beides.

»Sehr wohl«, sagte er, und der ganze schmeichlerische Charme fiel von ihm ab. »Wenn Ihr von einem harten Ritt sprecht, was meint Ihr damit?«

»Einen sehr harten Ritt«, sagte ich. »Ich muss heute noch siebzig Meilen zurücklegen. Auf unbefestigten Straßen.«

»Braucht Ihr auch Sattel- und Zaumzeug?«

Ich nickte. »Nichts Ausgefallenes. Und nichts Neues.«

Er atmete tief durch. »Gut. Und wie viel könnt Ihr ausgeben?«

Ich schüttelte den Kopf und lächelte mit zusammengepressten Lippen. »Zeigt mir das Pferd und nennt mir Euren Preis. Ein Vaulder wäre nett. Wenn er ein wenig wild ist, stört mich das nicht, solange das bedeutet, dass er überschüssige Energien hat. Vielleicht genügt auch eine gute Vaulder-Kreuzung, oder ein Khershaner.«

Kaerva nickte und führte mich wieder zurück zum Eingang des Stalls. »Ich habe einen Khershaner. Es ist sogar ein Vollblut.« Er gab einem Stallburschen einen Wink. »Los, hol unseren schwarzen Gentleman, aber schnell.« Der Bursche lief los.

Der Pferdehändler wandte sich wieder an mich. »Ein wunderschönes Tier. Ich bin mit ihm ausgeritten, bevor ich ihn gekauft habe. Ich bin eine ganze Meile galoppiert, und er ist kaum ins Schwitzen geraten. Das können Euer Lordschaft mir glauben.«

Ich nickte. Ein reinrassiger Khershaner war genau das, was ich brauchte. Die Ausdauer dieser Rasse war legendär, der Preis aber auch recht hoch. Ein geschulter Khershanerhengst war gut und gerne zwölf Talente wert. »Wie viel verlangt ihr für ihn?«

»Ich will zwei Goldmark«, sagte Kaerva ohne Umschweife.

Gütiger Tehlu, zwanzig Talente. Da musste er schon Hufeisen aus massivem Silber haben, um so viel wert zu sein. »Ich bin nicht in der Stimmung, lange zu feilschen, Kaerva«, sagte ich kurz angebunden.

»Das habt Ihr bereits zum Ausdruck gebracht, Mylord«, erwiderte er. »Das ist mein Preis. Und Ihr werdet gleich sehen, dass er gerechtfertigt ist.«

Der Junge eilte aus dem Stall und führte einen absoluten Prachthengst mit sich. Er war sehr groß, mindestens achtzehn Handbreit, hatte ein stolzes Haupt und war von vorne bis hinten pechschwarz. »Er läuft für sein Leben gern«, sagte Kaerva voller Zuneigung. Dann strich er mit der Hand über den glatten, schwarzen Hals des Tieres. »Und schaut Euch diese Farbe an. Am ganzen Leib kein einziges helles Haar. Auch darum ist er seine zwanzig Talente wert.«

»Die Farbe ist mir egal«, gab ich zurück, suchte nach Anzeichen für Verletzungen oder ein hohes Alter, konnte aber nichts entdecken. Er hatte ein glänzendes Fell und war jung und stark. »Ich muss mich nur schnell fortbewegen.«

»Das verstehe ich«, erwiderte Kaerva. »Ich aber kann diese Farbe nicht einfach übersehen. Wenn ich noch ein oder zwei Spannen warte, wird mir irgend ein junger Lord nur für das prachtvolle Aussehen diese Summe zahlen.«

Das war nicht unwahrscheinlich. »Hat er einen Namen?«, fragte ich und näherte mich ganz langsam dem schwarzen Hengst, ließ ihn an meinen Händen schnuppern und sich an mich gewöhnen. Das Feilschen lässt sich abkürzen, nicht aber das Anfreunden mit einem Pferd. Und es wäre sehr dumm, nicht darauf zu achten, welchen ersten Eindruck man auf einen feurigen jungen Kershaner macht.

»Noch keinen festen«, erwiderte Kaerva.

»Wie heißt du, mein Junge?«, fragte ich in sanftem Ton, damit er sich auch an den Klang meiner Stimme gewöhnen konnte. Er schnupperte vorsichtig an meiner Hand und passte mit seinem großen, klug blickenden Auge genau auf. Er wich nicht zurück, war aber auch nicht entspannt. Ich sprach weiter zu ihm, während ich ihm näher kam, und hoffte, dass der Klang meiner Stimme ihn beruhigen würde. »Du hast einen schönen Namen verdient. Eine schreckliche Vorstellung, dass dir irgend ein reicher Schnösel einen scheußlichen Namen wie Mitternacht oder so anheften könnte.«

Ich legte ihm eine Hand auf den Hals. Er zuckte, wich aber nicht zurück. Ich musste mich seines Temperaments ebenso versichern wie seiner Ausdauer. Ich konnte es nicht riskieren, auf ein Pferd zu steigen, das sich dann als scheu erwies. »Jemand anderes würde dir vielleicht irgendeinen unschönen Namen mit Pech oder Kohle geben. Und der Himmel möge verhüten, dass du als Blackie endest. Das wäre wirklich kein passender Name für einen Rappenprinzen wie dich.«

Mein Vater hatte immer so zu neuen Pferden gesprochen, in einer beschwichtigenden Litanei. Und während ich seinen Hals streichelte, sprach ich weiter, ohne überhaupt darauf zu achten, was ich sagte. Wörter spielen für Pferde keine Rolle, es geht einzig und allein um den Ton der Stimme. »Du bist etwas ganz Besonderes. Du solltest einen stolzen Namen tragen, damit die Leute nicht auf die Idee kommen, du wärest ein gewöhnliches Pferd. War dein voriger Besitzer ein Kealde?«, fragte ich. »Ve vanaloi. Tu keriam keta. Palan te?«

Ich spürte, dass er sich beim Klang der ihm vertrauten Sprache ein wenig entspannte. Ich ging auf seine andere Seite, inspizierte ihn dabei weiter und ließ ihn sich an mich gewöhnen. »Tu Ketha?«, fragte ich. Bist du Kohle? »Tu mahne?« Bist du ein Schatten?

Ich wollte eigentlich »Abenddämmerung« sagen, aber mir fiel die Siaru-Vokabel dafür nicht ein. Doch statt innezuhalten, redete ich einfach weiter drauflos und inspizierte derweil die Hufe, um zu sehen, ob sie irgendwelche Beschädigungen aufwiesen. »Tu Keth-Selhan?« Bist du der Anfang der Nacht?

Der schwarze Hengst senkte den Kopf und berührte mich mit dem Maul. »Der gefällt dir, was?«, sagte ich mit einem leisen Lachen, da ich wusste, was wirklich geschehen war: Er hatte die getrockneten Äpfel gewittert, die ich in einer Tasche meines Umhangs bei mir trug. Doch das Entscheidende war, dass er nun ein Gefühl für mich bekommen hatte. Wenn er sich bei mir so wohl fühlte, dass er mich mit dem Maul anstupste, um mich um Futter zu bitten, dann konnten wir auch einen harten Tagesritt miteinander überstehen.

»Keth-Selhan scheint mir ein passender Name zu sein«, sagte ich und wandte mich wieder an den Pferdehändler. »Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen muss?«

Kaerva schaute beunruhigt drein. »Er scheut manchmal ein wenig auf der rechten Seite.«

»Ein wenig?«

»Nur ein wenig. Ich habe aber noch nicht erlebt, dass er deswegen durchgegangen wäre.«

»Wie wurde er ausgebildet? Klassisch oder im Stil der Edema Ruh?«

»Klassisch.«

»Gut. Euch bleibt noch eine Minute, dieses Geschäft abzuschließen. Er ist ein schönes Tier, aber ich zahle keine zwanzig Talente für ihn«, sagte ich in unerschütterlichem Ton, aber ohne Hoffnung im Herzen. Er war eine Pracht und schon seiner Farbe wegen mindestens zwanzig Talente wert. Trotzdem musste ich versuchen, den Mann auf wenigstens neunzehn herunterzuhandeln. Dann blieb mir immerhin genug Geld für Kost und Logis in Trebon.

»Also gut«, sagte Kaerva. »Sechzehn.«

Einzig meine jahrelange Bühnenerfahrung verhinderte, dass ich vor Erstaunen den Mund aufriss. »Fünfzehn«, sagte ich und gab mich gereizt. »Und zwar inklusive Sattel- und Zaumzeug und einem Sack Hafer.« Ich holte Münzen aus meinem Beutel, so als wäre das Geschäft bereits abgeschlossen.

Und kaum zu glauben, aber Kaerva nickte und schickte eine Stallburschen los, die Dinge zu holen.

Ich zählte Kaerva die Münzen in die Hand, und einer seiner Gehilfen sattelte derweil den großen schwarzen Hengst. Der Kealde wich meinem Blick aus, das fiel mir auf.

Wenn ich mich nicht so gut mit Pferden ausgekannt hätte, hätte ich geglaubt, dass ich hier hereingelegt wurde. Vielleicht war das Pferd gestohlen. Oder der Mann brauchte dringend Geld.

Was auch immer dahinter steckte, es kümmerte mich nicht. Ich hatte ein wenig Glück verdient. Und das Beste dabei war, dass ich das Pferd mit Gewinn verkaufen konnte, wenn ich erst einmal in Trebon war. Und ich musste es ohnehin so schnell wie möglich wieder verkaufen, selbst wenn ich dabei Verlust machte. Stall, Futter und Pflege kosteten mich bei einem solchen Pferd mindestens einen Penny pro Tag. Ich konnte es mir gar nicht leisten, ihn zu behalten.

Ich stopfte meinen Reisesack in eine Satteltasche, überprüfte Sattelgurt und Steigbügel und schwang mich dann auf Keth-Selhans Rücken. Er tänzelte ein wenig, wollte lospreschen. Da waren wir nun zu zweit. Ich zog an den Zügeln, und wir setzten uns in Bewegung.

Die meisten Probleme mit Pferden haben mit den Pferden selbst gar nichts zu tun, sondern rühren von der Ignoranz der Reiter her. Die Leute lassen ihre Pferde nicht richtig beschlagen, füttern sie schlecht, satteln sie nicht richtig und beklagen sich dann, man hätte ihnen einen halb lahmen, launenhaften Klepper mit eingesunkenem Rücken angedreht.

Ich kannte mich mit Pferden aus. Meine Eltern hatten mir beigebracht, auf ihnen zu reiten und sie zu pflegen. Und obwohl ich hauptsächlich Erfahrungen mit robusteren Rassen gesammelt hatte, die eher zum Zug- als zum Reitpferd taugten, wusste ich doch, wie ich eine große Strecke möglichst schnell zurücklegen konnte.

Wenn sie es eilig haben, neigen die meisten Leute dazu, ihr Reittier in kurzer Zeit zu sehr zu strapazieren. Sie rasen sofort im Galopp los und haben es dann binnen einer Stunde mit einem lahmen oder halb toten Tier zu tun. Der reine Schwachsinn. Nur ein absoluter Blödmann geht so mit einem Pferd um.

Aber ehrlich gesagt, hätte ich Keth-Selhan auch zu Tode geritten, wenn mich das zur rechten Zeit nach Trebon gebracht hätte. Es gibt Situationen, da bin auch ich bereit, mich wie ein Scheißkerl zu verhalten. Ich hätte ein Dutzend Pferde tot geritten, wenn es mir geholfen hätte, mehr über die Chandrian und darüber zu erfahren, warum sie meine Eltern umgebracht hatten.

Doch letztlich war das sinnlos. Ein totes Pferd brachte mich nicht nach Trebon. Ein lebendiges schon.

Also begann ich sachte im Schritt, um Keth-Selhan aufzuwärmen. Er wollte schneller laufen, witterte wahrscheinlich meine Ungeduld, und das wäre auch in Ordnung gewesen, wenn wir nur ein paar Meilen vor uns gehabt hätten. Ich brauchte ihn aber für die nächsten fünfzig, womöglich gar siebzig Meilen, und da hieß es Geduld wahren. Ich musste ihn ein oder zwei Mal bremsen, bis er von sich aus beim Schritt blieb.

Nach einer Meile ließ ich ihn ein wenig traben. Er lief sehr regelmäßig, selbst für einen Khershaner, aber im Trab wird man so oder so durchgerüttelt, und es zerrte an der frischen Naht an meiner Seite. Nach einer weiteren Meile ließ ich ihn kantern. Und erst als wir Imre schon drei oder vier Meilen hinter uns gelasssen hatten und auf einen geraden, ebenen Straßenabschnitt kamen, ging ich mit ihm in den Galopp.

Als er schließlich die Chance bekam, so schnell zu laufen, wie er wollte, schoss er nur so dahin. Die Sonne hatte gerade den letzten Morgentau vertrieben, und die Bauern, die bei der Weizen- und Gerstenernte auf den Feldern waren, blickten hoch, wenn wir vorüber donnerten. Keth-Selhan war schnell; so schnell, dass der Wind an meinem Umhang zerrte und ihn hinter mir flattern ließ wie eine Fahne. Obwohl ich eine recht dramatische Gestalt abgegeben haben muss, wurde mir das Zerren am Hals schnell zu viel, und ich löste den Umhang und stopfte ihn in eine Satteltasche.

Wenn wir durch einen Wald kamen, wechselte ich wieder in den Trab. So konnte sich der Hengst ein wenig ausruhen, und wir riskierten nicht, hinter einer Kurve mit einem umgestürzten Baum oder einem langsam fahrenden Karren zu kollidieren. Wenn wir wieder auf freies Weideland kamen und den Weg sehen konnten, der vor uns lag, ließ ich ihm seinen Willen, und wir flogen buchstäblich dahin.

Nach anderthalbstündigem Ritt schwitzte Selhan und atmete schwer, schlug sich aber besser als ich. Meine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Ich war zwar jung und kräftig, hatte aber seit Jahren nicht mehr im Sattel gesessen. Beim Reiten werden andere Muskeln beansprucht als beim Gehen, und Galopp zu reiten ist im Grunde genauso anstrengend wie zu laufen.

Ich freute mich, als wir in den nächsten Wald kamen, stieg ab und ging ein Stück weit zu Fuß, um uns beiden eine wohlverdiente Pause zu gönnen. Ich schnitt einen meiner Äpfel in der Mitte durch und gab dem Hengst die größere Hälfte. Schätzungsweise hatten wir etwa dreißig Meilen zurückgelegt, und die Sonne stand noch nicht einmal im Zenit.

»Das war der einfache Teil«, sagte ich zu Selhan und tätschelte liebevoll seinen Hals. »Du bist wirklich großartig. Und du hast noch eine Menge Puste, oder?«

Wir gingen zehn Minuten und hatten dann das Glück, an einen kleinen Bach zu kommen, über den eine Holzbrücke führte. Ich ließ den Hengst eine gute Minute lang saufen und zog ihn dann weiter, ehe er zu viel soff.

Dann stieg ich wieder auf und versetzte ihn ganz allmählich wieder in Galopp. Mir taten die Beine weh, und ich beugte mich über seine Kruppe. Das schnelle Trommeln seiner Hufe war wie ein Kontrapunkt zum langsamen Lied des Windes, das ohne Unterlass an meinen Ohren entlangrauschte.

Die erste Schwierigkeit kam gut eine Stunde später, als wir einen breiten Fluss überqueren mussten. Es war nicht gefährlich, aber ich musste absatteln und alles hinübertragen, damit es nicht nass wurde. Mit nassem Sattelzeug hätte ich Selhan nicht noch stundenlang reiten können.

Am anderen Ufer rieb ich ihn mit meiner Decke ab und sattelte ihn wieder. Das alles dauerte eine halbe Stunde, was bedeutete, dass er nun abgekühlt war und ich ihn behutsam wieder aufwärmen musste, vom Schritt zum Trab zum Kanter. Dieser Fluss warf mich insgesamt eine Stunde zurück. Ich machte mir Sorgen, dass, falls noch ein weiterer Fluss zu überqueren war, ihm die Kälte des Wassers in die Muskeln fahren könnte. Wenn das geschah, hätte nicht einmal Tehlu höchstpersönlich vermocht, ihn noch einmal in Galopp zu bringen.

Eine Stunde später kam ich durch eine kleine Ortschaft, die vor allem aus einer Kirche und einer Kneipe bestand. Ich hielt und ließ Selhan an einer Tränke ein wenig Wasser saufen. Währenddessen streckte ich meine Beine und musterte sorgenvoll den Sonnenstand.

Anschließend lichteten sich die Felder, und die Bauernhöfe lagen immer weiter auseinander. Die Wälder wurden größer und dichter. Die Straße wurde schmaler und war nun auch nicht mehr in gutem Zustand, an einigen Stellen steinig, an anderen ausgespült. Wir kamen immer langsamer voran. Aber ehrlich gesagt, hatten wir beide auch keine große Lust mehr auf Galopp.

Schließlich querte ein weiterer Fluss die Straße. Er war allerdings höchstens knietief. Von dem Wasser ging ein Gestank aus, der mir verriet, dass es flussaufwärts eine Gerberei oder Raffinerie geben musste. Hier gab es keine Brücke, und Keth-Selhan watete langsam hindurch und setzte die Hufe mit Bedacht auf dem felsigen Grund. Ich fragte mich, ob es für ihn wohl ein schönes Gefühl war, so wie wenn man nach einer langen Wanderung die Füße ins Wasser baumeln lässt.

Der Fluss hielt uns nicht lange auf, aber im Laufe der nächsten halben Stunde mussten wir ihn noch dreimal überqueren, da er sich hin und her schlängelte. Und jedes Mal wurde der beißende Gestank, der von dem Wasser ausging, schlimmer. Lösungsmittel und Säuren. Wenn es keine Raffinerie war, dann wohl ein Bergwerk. Ich hielt die Zügel in der Hand, jederzeit bereit, Selhans Kopf hochzuziehen, falls er versuchen sollte, davon zu saufen, aber er war nicht so dumm.

Einen ausgedehnten Kanter später kamen wir über einen Hügel, und drunten, in einem kleinen, mit Gras bewachsenen Tal erblickte ich eine Straßenkreuzung. Unter den Wegweisern sah ich einen fahrenden Kessler mit zwei Eseln. Der eine Esel war so hoch mit Taschen und Bündeln beladen, dass es aussah, als würde er jeden Moment umkippen. Der andere Esel trug keine Last und graste am Rande der unbefestigten Straße, neben einem großen Gepäckhaufen.

Der Kessler saß auf einem kleinen Hocker am Straßenrand und sah niedergeschlagen aus. Als er mich den Hügel herabreiten sah, hellte sich seine Miene auf.

Ich las die Schilder, als ich näher kam. Richtung Norden ging es nach Trebon. Im Süden lag Temfalls. An dem Wegweiser angelangt, machte ich Halt. Keth-Selhan und ich konnten eine kleine Pause gut gebrauchen, und ich hatte es nicht so eilig, dass ich zu einem Kessler unhöflich sein wollte. Nicht einmal halb so eilig. Er konnte mir zumindest verraten, wie weit es noch nach Trebon war.

»Hallo!«, sagte er, sah zu mir hoch und schirmte sich dabei die Augen mit einer Hand ab. »Du siehst mir doch wie ein junger Mann aus, der etwas braucht.« Er war ein alter Mann mit einer Halbglatze und einem runden, freundlichen Gesicht.

Ich lachte. »Ich bräuchte viele Dinge, aber ich glaube nicht, dass Ihr welche davon habt.«

Er lächelte einnehmend. »Na na, nicht so vorschnell …« Er senkte einen Moment lang nachdenklich den Blick. Als er mich wieder ansah, war seine Miene immer noch freundlich, aber ernster. »Ich will ehrlich zu dir sein, mein Junge. Mein kleiner Esel hat sich einen Stein in den Huf gelaufen und kann seine Last nicht mehr tragen. Ich hänge hier fest, bis mir jemand hilft.«

»Unter normalen Umständen würde ich nichts lieber tun, als Euch zu helfen«, sagte ich. »Aber ich muss nach Trebon, so schnell ich kann.«

»Das ist nicht mehr weit.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Hügel im Norden. »Nur noch etwa eine halbe Meile. Wenn der Wind anders stünde, könntest du schon den Rauch riechen.«

Ich blickte in die Richtung und sah hinter dem Hügel tatsächlich Schornsteinrauch aufsteigen. Große Erleichterung überkam mich. Ich hatte es geschafft, und es war gerade erst ein Uhr mittags.

Der Kessler fuhr fort: »Ich muss zum Hafen von Evesdown.« Er nickte nach Osten. »Ich habe eine Fahrt den Fluss hinab gebucht und würde mein Schiff nur sehr ungern verpassen.« Er beäugte mein Pferd. »Aber ich brauche ein neues Lasttier, um meine ganze Ausrüstung zu transportieren …«

Es schien, als hätte ich endlich einmal Glück gehabt. Selhan war ein gutes Pferd, aber wenn ich erst einmal in Trebon war, würde er mir nur die Haare vom Kopf fressen.

Aber es ist nie klug, wenn man sich anmerken lässt, dass man etwas verkaufen will. »Er wäre als Lasttier doch viel zu schade«, sagte ich und tätschelte meinem Hengst den Hals. »Er ist ein reinrassiger Khershaner, und ich kann Euch sagen, dass ich in meinem ganzen Leben noch kein besseres Pferd gesehen habe.«

Der Kessler musterte ihn skeptisch. »Er ist völlig erschöpft«, erwiderte er. »Er kommt doch fast auf dem Zahnfleisch daher.«

Ich saß ab, und meine Beine, die sich anfühlten wie aus Gummi, hätten mich fast im Stich gelassen. »Selbst wenn. Er hat heute immerhin schon die ganze Strecke von Imre bis hierher zurückgelegt.«

Der Kessler kicherte. »Du bist kein schlechter Lügner, Junge, aber man muss auch wissen, wann Schluss ist. Wenn der Köder zu groß ist, beißt der Fisch nicht an.«

Ich war entgeistert. »Entschuldigt bitte, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe.« Ich streckte ihm meine Hand entgegen. »Ich heiße Kvothe und bin ein Edema Ruh. Nicht einmal in der allergrößten Not würde ich einen Kessler belügen.«

Der Kessler schüttelte mir die Hand. »Nun«, sagte er, etwas verblüfft, »dann bitte ich dich und deine Familie um Verzeihung. Man trifft nur so selten einen von euch alleine an.« Er beäugte das Pferd. »Die ganze Strecke von Imre bis hierher, sagst du?« Ich nickte. »Aber das sind doch über sechzig Meilen. Ein unglaublicher Ritt …« Er sah mich mit einem vielsagenden Lächeln an. »Wie geht es deinen Beinen?«

Ich grinste. »Sagen wir mal so: Ich bin froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Der Hengst schafft noch zehn Meilen, schätze ich mal. Aber von mir kann ich das nicht behaupten.«

Der Kessler betrachtete noch einmal das Pferd und seufzte dann laut. »Also, wie gesagt, ich sitze hier ein wenig in der Klemme. Wie viel willst du für ihn haben?«

»Nun ja«, sagte ich. »Keth-Selhan ist ein reinrassiger Khershaner, und seine Farbe ist wunderschön, das müsst Ihr zugeben. Er ist vollkommen schwarz. Kein einziges helles Haar –«

Der Kessler brach in Gelächter aus. »Ich nehme alles zurück«, sagte er. »Du bist ein grottenschlechter Lügner.«

»Wie bitte?«, fragte ich.

Der Kessler sah mich seltsam an. »Kein einziges helles Haar, was?« Er deutete an mir vorbei auf Selhans Hinterhand. »Also, wenn der ganz schwarz ist, bin ich Oren Velciter.«

Ich sah mich um und musste feststellen, dass Keth-Selhan an der linken Hinterhand eine weiße Socke hatte, die halb bis zum Sprunggelenk hinaufreichte. Völlig verblüfft, ging ich hin, bückte mich und sah es mir an. Es war kein reines Weiß, eher ein verwaschenes Grau. Es roch schwach nach dem Wasser des Flusses, den wir auf dem letzten Abschnitt unserer Reise durchquert hatten – Lösungsmittel.

»Dieser verdammte Rosstäuscher«, sagte ich fassungslos. »Er hat mir ein gefärbtes Pferd angedreht.«

»Hat dich der Name nicht stutzig gemacht?«, fragte der Kessler und kicherte. »Keth-Selhan? Mein lieber Mann, da hat dich aber einer zum Narren gehalten.«

»Der Name bedeutet Abenddämmerung«, sagte ich. Der Kessler schüttelte den Kopf. »Dein Siaru ist eingerostet. Ket-Selem wäre ›Anfang der Nacht‹. Selhan bedeutet Socke. Er heißt ›eine Socke‹.«

Ich dachte daran, wie der Pferdehändler reagiert hatte, als ich den Namen ausgesucht hatte. Kein Wunder, dass er so beunruhigt gewirkt hatte. Kein Wunder auch, dass er so schnell beim Preis nachgegeben hatte. Er hatte angenommen, ich hätte sein kleines Geheimnis entdeckt.

Der Kessler lachte, als er meinen Gesichtsausdruck sah, und klopfte mir auf die Schulter. »Mach dir nichts draus, mein Junge. Vor so etwas ist keiner gefeit.« Er drehte sich um und begann in seinen Bündeln herumzuwühlen. »Ich glaube, ich habe etwas, das dir gefallen wird. Lass mich dir einen Tausch anbieten.« Er wandte sich wieder um und hielt einen schwarzen, knorrigen Gegenstand in der Hand, der aussah wie ein Stück Treibholz.

Ich nahm es in die Hand und sah es mir an. Es war schwer und fühlte sich kalt an. »Ein Stück Eisenschlacke?«, fragte ich. »Sind Euch die Zauberbohnen ausgegangen?«

Der Kessler hielt eine Nadel in der Hand. Er hielt sie gut eine Handspanne von dem Klumpen entfernt und ließ sie dann los. Doch statt zu Boden zu fallen, flog die Nadel quer durch die Luft und blieb an dem schwarzen Eisenklumpen hängen.

»Oh«, sagte ich, »ein Lodenstein? Ich habe noch nie einen gesehen.«

»Im strengen Sinne ein Trebon-Stein«, erwiderte der Kessler. »Er war nie auch nur in der Nähe von Loden. Aber ansonsten liegst du richtig. Und für dieses schöne Stück finden sich drunten in Imre sicherlich eine Menge Interessenten …«

Ich nickte geistesabwesend und drehte den Stein in den Händen hin und her. Immer schon hatte ich einen Magnetstein sehen wollen, schon als kleiner Junge. Ich zog die Nadel fort und spürte die sonderbare Anziehung, die das glatte schwarze Metall darauf ausübte. Ich staunte: Ein Stück Sterneneisen in meiner Hand. »Wie viel ist der wert?«, fragte ich.

Der Kessler kaute ein wenig auf seinen Zähnen herum. »Na ja, ich schätze mal, hier und jetzt ist er genauso viel wert wie ein reinrassiges Khershaner-Lastpferd …«

Ich drehte den Stein hin und her, zog die Nadel ab und ließ sie wieder an den Stein schnellen. »Das Problem ist bloß, dass ich bei einer sehr gefährlichen Frau Schulden gemacht habe, um dieses Pferd kaufen zu können. Wenn ich es nicht zu einem guten Preis verkaufe, gerate ich in eine ausgesprochen missliche Lage.«

Er nickte. »Wenn du für ein Stück Himmelseisen von dieser Größe weniger als achtzehn Talente nimmst, schneidest du dir selbst ein Loch in den Geldbeutel. Jeder Juwelier wird es dir abkaufen, oder auch reiche Leute, die solche Kostbarkeiten sammeln.« Er tippte sich mit dem Finger an den Nasenflügel. »Doch wenn du damit an die Universität gehst, kannst du sogar noch mehr dafür kassieren. Die Handwerker dort sind ganz versessen auf Lodensteine, und die Alchemisten auch. Wenn du einen findest, der in der entsprechenden Stimmung ist, kannst du eine Menge Geld mit diesem Stein verdienen.«

Es war ein gutes Geschäft. Von Manet wusste ich, dass Lodensteine sehr wertvoll und selten sind. Sie sind nicht nur wegen ihrer magnetischen Wirkung so begehrt, sondern auch, weil in solchen Brocken Himmelseisen oft seltene Metalle enthalten sind. Ich gab ihm die Hand. »Also gut, abgemacht!«

Er schüttelte sie mir mit ernstem Blick. Dann, gerade als er nach den Zügeln greifen wollte, fragte ich: »Und was gebt Ihr mir für das Sattel- und Zaumzeug?«

Einen Moment lang fürchtete ich, dass mir der Kessler dieses Nachkarten verübeln würde. Doch statt dessen lächelte er verschmitzt. »Kluger Junge«, kicherte er. »Es gefällt mir, wenn sich jemand traut, eine kleine Zulage zu verlangen. Was hättest du denn gern? Ich habe hier eine sehr schöne Wolldecke. Oder lieber ein gutes Seil?« Er zog eine Seilrolle aus den Bündeln auf dem Rücken des Esels. »Es ist immer gut, ein Seil dabei zu haben. Oder wie wäre es hiermit?« Er hielt eine Flasche empor und zwinkerte mir zu. »Ein ausgezeichneter Obstwein. Ich gebe dir alles drei für das Sattel- und Zaumzeug deines Pferds.«

»Eine Decke könnte ich gut gebrauchen«, erwiderte ich. Dann fiel mir etwas ein. »Habt Ihr irgendwelche Kleider in meiner Größe? Ich habe in letzter Zeit einen ziemlichen Verschleiß an Hemden.«

Der alte Mann hielt inne, das Seil und die Weinflasche in Händen, zuckte dann die Achseln und begann erneut in seinem Gepäck herumzuwühlen.

»Habt Ihr irgendetwas über eine Hochzeit hier in der Gegend gehört?«, fragte ich. Kessler hielten stets die Ohren offen und bekamen eine Menge mit.

»Die Hochzeit bei den Mauthens?« Er machte ein Bündel los und fing an, in einem anderen herumzuwühlen. »Die hast du leider verpasst. Sie war gestern.«

Bei der Beiläufigkeit, mit der er das sagte, krampfte sich mir der Magen zusammen. Wenn es dort zu einem Blutbad gekommen wäre, hätte der Kessler zweifellos davon erfahren. Plötzlich kam mir der entsetzliche Gedanke, dass ich mich für nichts und wieder nichts in Schulden gestürzt hatte und ganz umsonst hierher geritten war. »Wart Ihr dort? Ist dort irgendetwas Ungewöhnliches geschehen?«

»Da ist es ja!« Der Kessler drehte sich wieder um und hielt ein schlichtes graues Hemd empor. »Nicht sehr schick, aber neu. Na ja, fast neu.« Er hielt es mir vor die Brust, um zu sehen, ob es passte.

»Die Hochzeit?«, erinnerte ich ihn.

»Was? Oh, nein. Ich war nicht da. Muss aber ein ziemliches Ereignis gewesen sein. Mauthen hat seine einzige Tochter verheiratet. Und das wurde wohl in großem Stil gefeiert. Die Vorbereitungen gingen monatelang.«

»Dann habt Ihr also nicht gehört, dass dort irgendetwas Ungewöhnliches geschehen wäre?«, fragte ich, mit einem flauen Gefühl im Magen.

Er zuckte die Achseln. »Wie gesagt, ich war nicht da. Ich war in den letzten Tagen beim Eisenhüttenwerk.« Er nickte in Richtung Westen. »Hab mit den Schürfern und den anderen Leuten dort Handel getrieben.« Er griff sich an die Schläfe, so als fiele ihm gerade etwas ein. »Apropos: Ich habe oben im Gebirge einen Brassie gefunden.« Er wühlte wieder in seinen Bündeln herum und zog eine flache, dickwandige Flasche hervor. »Wenn du keinen Wein magst – vielleicht etwas Stärkeres?«

Ich wollte schon den Kopf schütteln, doch dann fiel mir ein, dass dieser selbstgebrannte Schnaps mir beim Säubern meiner Wunde nützlich sein konnte. »Ja, vielleicht«, sagte ich. »Das käme auf das Angebot an, das jetzt auf dem Tisch liegt.«

»Einem ehrlichen jungen Mann wie dir«, sagte er, »gebe ich die Decke, die beiden Flaschen und das Seil.«

»Das ist sehr großzügig von Euch. Aber statt des Seils und des Obstweins hätte ich lieber das Hemd. Alles andere wäre nur unnützer Ballast, und ich muss jetzt noch ein ganzes Stück zu Fuß gehen.«

Er guckte ein wenig säuerlich, zuckte dann aber die Achseln. »Wie du willst. Die Decke, das Hemd, der Schnaps und drei Jots.«

Wir schüttelten einander die Hand, und ich half ihm noch, Keth-Selhan zu beladen, weil ich mich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass er es als Kränkung empfand, dass ich sein vorletztes Angebot ausgeschlagen hatte. Zehn Minuten später brach er gen Osten auf, und ich ging in Richtung Norden, über den grünen Hügel, nach Trebon.

Ich war froh, dass ich die letzte halbe Meile zu Fuß gehen konnte, denn das half mir, Rücken und Beine wieder ein wenig zu lockern. Als ich über die Hügelkuppe kam, sah ich Trebon vor mir in einer Talmulde. Es war keine große Ortschaft, vielleicht hundert Gebäude an einem Dutzend gewundener, unbefestigter Straßen.

In meinen Jahren bei der Truppe hatte ich gelernt, Ortschaften einzuschätzen. Das ist so ähnlich wie das »Lesen« des Publikums, wenn man in einem Wirtshaus auftritt. Das Risiko ist natürlich größer, denn wenn man in einer Schenke das falsche Lied spielt, wird man wahrscheinlich nur ausgepfiffen, wenn man aber einen ganzen Ort falsch einschätzt, kann das sehr viel unangenehmere Konsequenzen haben.

Also schätzte ich Trebon ein. Der Ort war abgelegen, einerseits Bergbaustadt, andererseits eher landwirtschaftlich orientiert. Ein Fremder erregte hier nicht sofort Argwohn, aber der Ort war doch so klein, dass jeder auf Anhieb bemerkte, wenn man nicht von hier war.

Zu meinem Erstaunen sah ich, dass die Leute vor ihren Häusern mit Stroh gefüllte Butzemannpuppen aufgebaut hatten. Das bedeutete, dass ich hier, trotz der Nähe zu Imre und zur Universität, in der tiefsten Provinz war. Jede Ortschaft feierte im Herbst Erntedank, aber die meisten begnügten sich heutzutage damit, ein großes Feuer abzubrennen und sich zu betrinken. Dass die Leute hier in Trebon noch den alten Traditionen anhingen, bedeutete, dass sie hier wohl auch abergläubischer waren, als ich gedacht hätte.

Trotzdem sah ich diese Butzemänner gern, denn ich habe ein Faible für traditionelle Erntedankfeste, inklusive der abergläubischen Bräuche. Im Grunde ist das Ganze ja auch nur eine Art Theater.

Die Tehlanerkirche war das schönste Gebäude der Stadt, drei Geschosse hoch und aus Steinquadern errichtet. Das war nicht weiter ungewöhnlich, aber über dem Eingangsportal hing eines der größten Eisenräder, das ich je gesehen hatte. Und es war tatsächlich aus Eisen und nicht aus lackiertem Holz. Es hatte einen Durchmesser von über drei Metern und musste wohl eine Tonne wiegen. Normalerweise hätte mich so etwas nervös gemacht, aber da Trebon eine Bergbaustadt war, hielt ich es eher für einen Ausdruck von Bürgerstolz als von fanatischer Frömmigkeit.

Die anderen Gebäude waren größtenteils eingeschossige Holzhäuser mit Schindeldächern. Das zweigeschossige Wirtshaus machte einen soliden Eindruck, mit verputzten Wänden und roten Tonziegeln auf dem Dach. Dort gab es bestimmt jemanden, der mehr über die Hochzeit wusste.

Im Schankraum hielten sich kaum eine Handvoll Leute auf, was mich nicht weiter verwunderte, denn es war mitten in der Erntezeit und noch fünf, sechs Stunden bis Sonnenuntergang. Ich machte ein besorgtes Gesicht und ging an den Tresen, wo der Wirt stand.

»Entschuldigt bitte«, sagte ich. »Ich störe wirklich nur ungern, aber ich suche jemanden.«

Der Wirt war ein finster dreinblickender Mann mit dunklem Haar. »Und wen?«

»Meine Kusine war zu einer Hochzeit hier«, sagte ich. »Und ich habe gehört, da soll irgendwas vorgefallen sein.«

Bei dem Wort Hochzeit versteinerte sich die Miene des Wirts. Ich bemerkte, dass die beiden Männer am anderen Ende des Tresens ganz bewusst nicht in unsere Richtung blickten. Dann stimmte es also. Irgendetwas Schreckliches war geschehen.

Der Wirt streckte eine Hand aus und drückte die Fingerspitzen auf den Tresen. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass er den eisernen Kopf eines ins Holz getriebenen Nagels berührte. »Schlimme Sache«, sagte er kurz angebunden. »Nichts, worüber ich reden möchte.«

»Bitte«, sagte ich und klang jetzt sehr besorgt. »Ich habe Verwandte in Temfalls besucht, als das Gerücht aufkam, dass hier etwas geschehen sei. Alle sind vollauf mit der Weizenernte beschäftigt, und deshalb habe ich versprochen, hier heraufzukommen und zu sehen, was los ist.«

Der Wirt musterte mich von Kopf bis Fuß. Einen Schaulustigen hätte er fortschicken können, aber er konnte mir nicht das Recht verwehren zu erfahren, was mit einer nahen Verwandten passiert war. »Oben ist ein Mädchen«, sagte er. »Die ist nicht von hier. Vielleicht ist sie deine Kusine.«

Eine Zeugin! Ich setzte schon an, die nächste Frage zu stellen, aber er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts darüber«, sagte er mit Bestimmtheit. »Und ich will auch nichts wissen.« Er wandte sich ab und machte sich an den Zapfhähnen seiner Bierfässer zu schaffen. »Erster Stock, am Ende des Flurs, die linke Tür.«

Ich ging durch den Schankraum und stieg die Treppe hinauf. Jetzt versuchten alle, mich möglichst zu ignorieren, das spürte ich. Das Schweigen und der Tonfall des Wirts ließen darauf schließen, dass diejenige, die dort oben war, nicht nur zur Hochzeitsgesellschaft gehört hatte, sondern womöglich auch die einzige Überlebende war.

Ich gelangte zum Ende des Flurs und klopfte an die Tür, erst leise, dann etwas lauter. Dann öffnete ich die Tür vorsichtig, um niemanden zu erschrecken.

Es war ein schmales Zimmer mit einem schmalen Bett, auf dem eine Frau lag, voll bekleidet, einen Arm bandagiert. Sie hatte das Gesicht zum Fenster gewandt, und so sah ich sie nur im Profil.

Trotzdem erkannte ich sie auf Anhieb. Es war Denna!

Sie sah sich zu mir um und bekam große Augen, und dieses eine Mal fehlten ihr die Worte.

»Ich hab gehört, dass du in Schwierigkeiten steckst«, sagte ich wie beiläufig. »Und da dachte ich, schau ich mal vorbei und helfe, wenn ich kann.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Du lügst«, sagte sie und verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln.

»Das stimmt«, gestand ich, »aber es ist eine lässliche Lüge.« Ich betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter mir. »Ich wäre gekommen, wenn ich es gewusst hätte.«

»Wenn er es gewusst hätte, hätte jeder kommen können«, sagte sie abschätzig. »Aber hierher zu kommen, ohne davon zu wissen –, das erfordert schon einen ganz besonderen Mann.« Sie setzte sich auf und schwang die Beine vom Bett.

Jetzt sah ich, dass sie neben dem verbundenen Arm auch einen Bluterguss an der Schläfe hatte. Ich ging noch einen Schritt auf sie zu. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Nein«, erwiderte sie freimütig. »Aber es könnte mir auch sehr viel schlechter gehen.« Dann stand sie langsam auf, so als wäre sie sich nicht ganz sicher, ob ihre Füße sie tragen würden. Sie ging vorsichtig zwei Schritte und schien mehr oder weniger zufrieden. »Gut. Ich kann gehen. Wir müssen so schnell wie möglich fort von hier.«

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