Kapitel 62

Blumen

Auf den dringenden Rat von mehreren Seiten hin beschränkte ich mich in dem nun folgenden Trimester auf drei Studienfächer. Ich studierte weiterhin Höhere Sympathie bei Elxa Dal, besuchte die Mediho und setzte meine Lehre bei Manet fort. Mein Stundenplan war auf angenehme Weise ausgefüllt, aber nicht so überladen wie im Trimester zuvor.

Die größte Mühe gab ich mir im Handwerkszentrum. Nachdem ich bei meiner Suche nach einem Schirmherrn in einer Sackgasse gelandet war, war mir klar, dass mir das Handwerk die beste Chance auf finanzielle Unabhängigkeit bot. Gegenwärtig arbeitete ich für Kilvin und erledigte für einigermaßen geringen Lohn relativ banale Tätigkeiten. Doch wenn ich meine Lehre erst einmal abgeschlossen hatte, würde sich das ändern. Hinzu kam, dass ich dann auch eigene Projekte verfolgen und die Ergebnisse gewinnbringend verkaufen konnte.

Falls. Falls es mir gelang, Devi wenigstens die Zinsen zu bezahlen. Falls ich es irgendwie schaffte, das Geld für die Studiengebühren aufzubringen. Und falls ich meine Lehre bei Manet abschließen konnte, ohne dass ich bei den gefährlichen Arbeiten, die tagtäglich im Handwerkszentrum verrichtet wurden, umkam oder zum Krüppel wurde …

Vierzig oder fünfzig von uns hatten sich in der Werkstatt versammelt, um die neue Lieferung anzusehen. Einige Studenten saßen auf den steinernen Werkbänken, um besser sehen zu können, und etwa ein Dutzend war zu den Laufstegen unter dem Dach hinaufgestiegen, wo sich auch Kilvins Hängelampen befanden.

Ich erblickte dort oben Manet. Er war schwer zu übersehen: drei Mal so alt wie die übrigen Studenten, mit wilder Haarmähne und grauem Bart. Ich stieg auch die Leiter hinauf und stellte mich zu ihm. Er lächelte und klopfte mir auf die Schulter.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich. »Ich dachte, das wäre nur was für die Grünschnäbel, die etwas Derartiges noch nicht gesehen haben.«

»Ich dachte, ich spiele heute mal den pflichtbewussten Mentor«, sagte er mit einem Achselzucken. »Und außerdem ist dies heute wirklich sehenswert, und sei es auch nur wegen der Gesichter, die alle machen werden.«

Auf einer Werkbank stand ein großer, zylindrischer Behälter, etwa ein Meter zwanzig hoch und sechzig Zentimeter breit. Die Ränder waren versiegelt, allerdings ohne dicke Schweißnähte, und das Metall sah brüniert aus, was mich vermuten ließ, dass es kein einfacher Stahl war.

Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen und sah zu meinem Erstaunen Fela inmitten der anderen Studenten stehen und darauf warten, dass die Vorführung begann.

»Ich wusste gar nicht, dass Fela hier arbeitet«, sagte ich zu Manet.

Er nickte. »Klar. Seit zwei Trimestern, glaube ich.«

»Es wundert mich, dass ich sie gar nicht bemerkt habe«, sagte ich und sah zu, wie sie sich mit einer anderen Frau unterhielt.

»Das wundert mich auch«, sagte Manet und kicherte. »Aber sie ist nicht oft hier. Sie bildhauert und arbeitet mit Ziegeln und Glas. Sie kommt wegen der Werkzeuge, nicht wegen der Sygaldrie.«

Der Glockenturm schlug die Stunde, und Kilvin sah sich langsam im Raum um. Ich hatte keinen Zweifel, dass er sofort bemerkte, wer fehlte. »Den werden wir jetzt ein paar Spannen lang in der Werkstatt haben«, sagte er und wies auf den in der Nähe stehenden Metallbehälter. »Fast zehn Gallonen einer flüchtigen Chemikalie: Regim Ignaul Neratum

»Er ist der Einzige, der es so nennt«, flüsterte Manet. »Das ist Knochenteer.«

»Knochenteer?«

Er nickte. »Es ist kaustisch. Wenn du etwas davon auf den Arm bekommst, ätzt es ihn in zehn Sekunden bis auf den Knochen durch.«

Unter den Augen aller Anwesenden zog sich Kilvin einen dicken Lederhandschuh an und füllte etwa eine Unze der dunklen Flüssigkeit in eine Phiole. »Die Phiole muss vor dem Befüllen gekühlt werden, denn das Mittel beginnt schon bei Zimmertemperatur zu kochen.«

Er verschloss die Phiole und hielt sie empor, so dass alle sie sehen konnten. »Der Druckverschluss ist ebenfalls unerlässlich, denn die Flüssigkeit ist äußerst flüchtig. Als Gas verfügt es über eine Oberflächenspannung und Viskosität – wie Quecksilber. Es ist schwerer als Luft und löst sich nicht auf. Es hält zusammen.«

Ohne Vorwarnung schleuderte Kilvin die Phiole in eine nahe Feuergrube. Das Glas zerplatzte. Wie ich sehen konnte, war die Feuergrube für diesen Anlass leergeräumt worden.

»Wirklich schade, dass er nicht mehr Showtalent hat«, flüsterte Manet. »Elxa Dal hätte das spektakulärer hinbekommen.«

Ein lautes Knistern und Zischen zeigte an, dass sich die dunkle Flüssigkeit an den Steinen der Feuergrube erwärmte und zu kochen begann. Ich sah, wie ein dicker, öliger Rauch langsam den Grund der Grube bedeckte. Er reagierte aber nicht wie Rauch oder Nebel. Er löste sich an den Rändern nicht auf. Vielmehr sammelte er sich dort und hing wie eine kleine dunkle Wolke zusammen.

Manet tippte mir auf die Schulter, und ich sah mich gerade rechtzeitig zu ihm um, um nicht von dem ersten Flammenstoß geblendet zu werden, als die Wolke Feuer fing. Die meisten anderen hatten nicht weggesehen und stießen erschrockene Schreie aus. Manet grinste mich an.

»Danke«, sagte ich und sah weiter zu. Natriumrote Flammen flackerten über die Oberfläche der Wolke. Die zusätzliche Hitze ließ den Nebel noch schneller kochen, und er schwoll an, bis die Flammen den hüfthohen Rand der Grube erreichten. Selbst dort oben auf dem Laufsteg spürte ich die Wärme auf meinem Gesicht.

»Wie zum Teufel nennt man so was?«, fragte ich Manet leise. »Feuernebel?«

»Könnte man so nennen«, erwiderte er. »Kilvin würde es wahrscheinlich als atmosphärisch ausgelösten Brennvorgang bezeichnen.«

Die Flammen flackerten noch einmal auf und erloschen dann. Sie ließen im Raum den beißenden Geruch von heißem Stein zurück.

»Das Mittel ist nicht nur stark ätzend«, erklärte Kilvin, »sondern in gasförmigem Zustand auch leicht entflammbar. Wenn es hinreichend erwärmt wird, brennt es, sobald es mit Luft in Kontakt kommt. Und die dabei frei werdende Wärme kann eine exotherme Kettenreaktion auslösen.« Kilvin zeigte auf den Behälter und sagte: »Dieser Behälter dient dazu, das Mittel kühl und unter Druck zu halten. Seid bitte vorsichtig, solange er hier in der Werkstatt steht. Keine übermäßige Wärme in seiner Umgebung.« Damit machte Kilvin kehrt und ging zurück in sein Büro.

»Das war’s?«, fragte ich.

Manet zuckte die Achseln. »Was bliebe da noch zu sagen? Kilvin lässt nur Leute hier arbeiten, die vorsichtig sind, und jetzt wissen alle, warum sie vorsichtig sein sollten.«

»Was soll das Zeug denn überhaupt hier?«, fragte ich. »Wozu dient es?«

»Es jagt den Studienanfängern eine Heidenangst ein.« Manet grinste.

»Hat es auch irgendwelche praktischen Anwendungsmöglichkeiten?«

»Angst ist immer sehr praktisch«, erwiderte er. »Aber man kann damit eine andere Art von Emitter für Sympathielampen herstellen. Der erzeugt dann statt des üblichen rötlichen ein eher bläuliches Licht, das ein wenig augenfreundlicher ist. Und diese Lampen kann man dann für Unsummen verkaufen.«

Ich sah in die Werkstatt hinunter, konnte Fela aber nirgends entdecken. So wandte ich mich wieder an Manet. »Willst du weiterhin den pflichtbewussten Mentor spielen und mir zeigen, wie es funktioniert?«

Er fuhr sich mit den Händen durch die Mähne und zuckte die Achseln. »Klar, warum nicht.«

Als ich an diesem Abend im Anker’s auftrat, fiel mir ein schönes Mädchen auf, das hinten an einem voll besetzten Tisch saß. Sie sah Denna erstaunlich ähnlich, aber mir war klar, dass ich mir das nur einbildete. Ich hoffte so sehr, ihr zu begegnen, dass ich schon seit Tagen glaubte, sie irgendwo aus den Augenwinkeln zu sehen.

Ein zweiter Blick verriet mir die Wahrheit.

Es war Denna. Sie sang mit den anderen Gästen im Anker’s bei Hirtentöchter mit. Als sie bemerkte, dass ich in ihre Richtung blickte, winkte sie mir zu.

Ihr Auftauchen überraschte mich so sehr, dass ich ganz vergaß, wie meine Finger liefen, und das Lied verpatzte. Es gab großes Gelächter, und ich verneigte mich, um die Peinlichkeit der Situation zu überspielen. Das Publikum applaudierte und buhte zu gleichen Teilen, weidete sich an meinem Versagen mehr, als es sich an dem Lied ergötzt hatte. So sind die Menschen nun mal.

Ich wartete ab, bis ich nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, und ging dann unauffällig zu Denna hinüber.

Sie erhob sich, um mich zu begrüßen. »Ich hatte gehört, dass du auf dieser Seite des Flusses auftrittst«, sagte sie. »Aber ich glaube nicht, dass du das Engagement lange behalten wirst, wenn du jedes Mal so aus dem Takt kommst, wenn dir ein Mädchen zuwinkt.«

Ich spürte, dass ich ein wenig rot wurde. »So oft kommt das nicht vor.«

»Dass dir ein Mädchen zuwinkt, oder dass du ins Stocken kommst?«

Mir fiel keine Antwort ein, und ich spürte, wie ich immer röter wurde. Sie lachte. »Wie lange spielst du denn heute Abend noch?«, fragte sie.

»Nicht mehr lange«, log ich. Dabei schuldete ich Anker noch mindestens eine Stunde.

»Prima. Ich brauche jemanden, der mich nach Hause geleitet.«

Ich konnte mein Glück kaum fassen und verbeugte mich. »Stets zu Diensten. Ich bin gleich so weit.« Ich ging zum Tresen, wo Anker und zwei Kellnerinnen damit beschäftigt waren, Getränke einzuschenken.

Da ich Ankers Blick nicht erhaschen konnte, zog ich an seiner Schürze, als er an mir vorbei eilte. Er blieb abrupt stehen und hätte beinahe ein mit vollen Gläsern beladenes Tablett auf einen voll besetzten Tisch geschleudert. »Verdammt noch mal, Junge, was ist denn mit dir los?«

»Anker, ich muss weg. Ich kann heute Abend nicht bis zur Sperrstunde spielen.«

Er sah mich mit säuerlichem Blick an. »Die vielen Leute sind nicht hier, weil ich sie darum gebeten habe. Und wenn es keine musikalische Unterhaltung mehr gibt, bleiben sie auch nicht mehr lange.«

»Ich spiele noch ein Lied. Ein langes. Aber danach muss ich weg.« Ich sah ihn mit verzweifelter Miene an. »Ich schwöre dir, ich hole es nach.«

Er musterte mich. »Steckst du in Schwierigkeiten?« Ich schüttelte den Kopf. »Dann ist es wegen eines Mädchens.« Hinter ihm wurde lautstark nach Getränken gerufen, er sah sich um und scheuchte mich dann mit einer Handbewegung fort. »Also gut. Aber denk dran: Ein schönes, langes Lied. Und dafür bist du mir was schuldig.«

Ich ging zurück in den Schankraum und klatschte in die Hände, um die allgemeine Aufmerksamkeit zu erlangen. Als es im Raum einigermaßen still geworden war, begann ich zu spielen. Und beim dritten Akkord wussten alle, welches Lied es war: Tinker Tanner. Das älteste Lied der Welt. Ich ließ die Laute los und begann in die Hände zu klatschen. Bald schlugen alle im gleichen Takt den Rhythmus, klopften mit den Krügen auf die Tischplatten oder trampelten mit den Füßen.

Der Lärm war fast ohrenbetäubend, aber als ich das eigentliche Lied anstimmte, wurde das Publikum stiller. Beim Refrain sangen dann alle mit, manche mit eigenem Text, manche auch in eigener Tonart. Gegen Ende der zweiten Strophe gesellte ich mich an einen Tisch und ließ den ganzen Saal erneut den Refrain anstimmen.

Dann zeigte ich mit erwartungsvoller Geste auf den Tisch, an dem ich stand, um die dort Sitzenden aufzufordern, nun selbst eine Strophe zu singen. Es dauerte einen Moment, bis sie verstanden hatten, was ich wollte, aber die gespannte Erwartung des ganzen Saals brachte einen schon recht angeheiterten Studenten dazu, eine eigene Strophe zu krähen. Er erntete tosenden Applaus damit. Und als dann wieder alle gemeinsam den Refrain sangen, ging ich zu einem anderen Tisch und wiederholte das Spielchen dort.

Es dauerte nicht lange, und die Leute ergriffen selbst die Initiative, eine eigene Strophe zu singen, wenn der Refrain vorüber war. Ich fand Denna, die am Eingang auf mich wartete, und gemeinsam schlichen wir hinaus in die Abenddämmerung.

»Das hast du sehr geschickt gemacht«, sagte sie. »Was glaubst du, wie lange singen die noch weiter?«

»Das hängt davon ab, wie schnell Anker mit frischen Getränken zur Stelle ist.« Ich blieb am Eingang der Gasse stehen, die zwischen der Rückseite des Wirtshauses und der Bäckerei nebenan verlief. »Wenn du mich kurz entschuldigst. Ich muss noch meine Laute wegbringen.«

»In diese Gasse?«

»Auf mein Zimmer.« Geschickt und flink kletterte ich hinauf. Rechter Fuß auf die Regentonne, linker Fuß auf den Fenstersims, linke Hand ans Regenrohr, und schon schwang ich mich auf das Dach über dem Erdgeschoss. Ich sprang über die Gasse auf das Dach der Bäckerei und lächelte Denna zu, die erschrocken zugesehen hatte. Von dort ging es weiter aufwärts, und dann sprang ich zurück auf das Dach über dem ersten Stock des Anker’s. Ich schob mein Fenster auf und legte die Laute vorsichtig auf mein Bett. Dann stieg ich auf dem gleichen Wege wieder hinunter.

»Verlangt Anker Geld für die Nutzung seiner Treppe?«, fragte Denna.

Ich sprang vom Regenfass und wischte mir die Hände an der Hose ab. »Ich komme und gehe zu den seltsamsten Uhrzeiten«, erklärte ich leichthin und gesellte mich wieder zu ihr. »Habe ich das richtig verstanden, dass du einen Gentleman suchst, der dich nach Hause geleitet?«

Sie lächelte und sah mich von der Seite an. »Ganz recht.«

»Das ist bedauerlich.« Ich seufzte. »Ich bin leider kein Gentleman.«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Du bist nah genug dran am Gentleman.«

»Ich wäre aber gerne noch näher dran.«

»Dann geh mit mir.«

»Das würde ich herzlich gern. Aber …« Ich verlangsamte meine Schritte und setzte eine ernste Miene auf. »Was ist mit Sovoy?«

Sie verzog den Mund zu einem Strich. »Dann hat er also einen Anspruch auf mich angemeldet?«

»Nun, nicht direkt. Aber gewisse Formen wollen gewahrt sein …«

»Ein Gentleman’s Agreement?«, fragte sie bissig.

»Eher Diebesehre, wenn man so will.«

Sie sah mir in die Augen. »Kvothe«, sagte sie in ernstem Ton. »Klau mich.«

Ich verneigte mich mit großer Geste. »Wie du befiehlst.« Wir gingen weiter. Der Mondschein tauchte die Häuser rings umher in fahles Licht. »Wie geht es Sovoy überhaupt? Ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«

Sie machte eine wegwerfende Geste. »Ich auch nicht. Nicht dass er es nicht versucht hätte.«

Ich schöpfte Hoffnung. »Tatsächlich?«

Sie verdrehte die Augen. »Rosen! Ihr Männer habt eure romantischen Ideen offenbar alle aus dem selben Buch. Blumen sind ja etwas Schönes und auch ein schönes Geschenk für eine Frau. Aber immer sind es Rosen, und immer sind sie rot, und immer diese makellosen Exemplare aus dem Gewächshaus.« Sie sah mich an. »Wenn du mich siehst, denkst du da an Rosen?«

Ich war klug genug, den Kopf zu schütteln und zu lächeln.

»Woran dann? Wenn du keine Rose vor dir siehst – was siehst du?«

Reingefallen. Ich betrachtete sie von Kopf bis Fuß, so als träfe ich eine Entscheidung. »Nun«, sagte ich langsam. »Du musst uns Männern das nachsehen. Es ist wirklich nicht leicht, die passende Blume für ein bestimmtes Mädchen zu finden. Das Problem ist, dass die Wahl der Blumen so unterschiedlich gedeutet werden kann. Ein Mann mag dir eine Rose schenken, weil er dich schön findet, oder weil er findet, dass die Blüte mit ihrer Form, ihrer Farbe und ihrer Weichheit deinen Lippen entspricht. Rosen sind teuer, und vielleicht will er dir damit zeigen, dass du ihm lieb und teuer bist.«

»Zugegeben, das sind gute Gründe, Rosen zu schenken«, erwiderte sie. »Aber es bleibt dabei: Ich mag einfach keine Rosen. Denk dir eine andere Blume, die zu mir passt.«

»In welcher Hinsicht passt? Wenn ein Mann dir eine Rose schenkt, siehst du darin womöglich etwas ganz anderes, als er damit beabsichtigt. Du denkst vielleicht, er sieht nur das zarte Geschöpf in dir, und mit so jemandem kannst du dann womöglich nichts anfangen. Die Rose hat vielleicht Dornen, und du nimmst an, dass er glaubt, du würdest eine Hand, die zu schnell zugreift, wahrscheinlich abwehren. Doch wenn er die Dornen entfernt, denkst du womöglich, er hätte nichts übrig für etwas, das sich zu verteidigen weiß. Das alles lässt sich auf so unterschiedliche Art und Weise interpretieren«, sagte ich. »Was soll ein achtsamer Mann da tun?«

Sie warf mir einen Seitenblick zu. »Wenn du dieser Mann bist, wird er wahrscheinlich Vorträge halten und hoffen, dass die eigentliche Frage darüber in Vergessenheit gerät.« Sie legte den Kopf auf die Seite. »Aber das klappt bei mir nicht. Welche Blume würdest du für mich aussuchen?«

»Also gut, lass mich mal nachdenken.« Ich sah sie an. »Gehen wir mal eine Anzahl durch. Löwenzahn wäre gar nicht schlecht; es ist leuchtend hell, und du hast etwas Leuchtendes an dir. Aber Löwenzahn ist doch recht gewöhnlich, und du bist kein gewöhnliches Wesen. Rosen haben wir ja schon ad acta gelegt. Ein Nachtschattengewächs? Nein. Nesseln? Vielleicht.«

Sie verzog in gespielter Empörung das Gesicht und streckte mir die Zunge heraus.

Ich tippte mir mit einem Finger an den Mund, so als würde ich es mir noch einmal überlegen. »Du hast recht. Nesseln passen nicht zu dir.«

Sie schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Windhafer!«, rief ich und entlockte ihr damit ein Lachen. »Die Wildheit passt zu dir, aber es ist nur eine ganz kleine, unscheinbare Blüte. Und aus diesem, wie auch aus anderen«, ich räusperte mich, »offensichtlicheren Gründen können wir den Windhafer wohl beiseite lassen.«

»Schade«, sagte sie.

»Die Margerite käme in Frage«, fuhr ich fort und ließ mich nicht von ihr ablenken. »Sie ist groß und schlank und wächst gern am Straßenrand. Es ist eine kräftige Pflanze, nicht überempfindlich. Margeriten sind selbstbewusst. Ich glaube, Margeriten könnten zu dir passen … Aber lass uns erst noch weiter die Liste durchgehen. Schwertlilie? Zu bunt. Distel? Zu abweisend. Veilchen? Zu klein. Waldlilie? Hm, das könnte was sein. Eine schöne Blume. Die Blütenblätter …« Ich machte die kühnste Geste meines jungen Lebens und strich Denna mit zwei Fingern sacht seitlich über den Hals. »… sind beinahe ebenso glatt und weich wie deine Haut. Aber sie wächst zu nah am Boden.«

»Das ist ja ein Riesen-Bukett, das du mir hier bringst«, sagte sie. Unwillkürlich griff sie sich an die Stelle am Hals, wo ich sie berührt hatte, und ließ die Hand dort einen Moment lang ruhen.

War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Wischte sie meine Berührung fort oder hielt sie sie fest? Eine noch größere Unsicherheit ergriff mich, und ich beschloss, keine großen Risiken mehr einzugehen. Ich blieb stehen. »Selasblume«, sagte ich.

Sie blieb ebenfalls stehen und sah mich an. »Nach all dem suchst du dir eine Blume aus, die ich gar nicht kenne? Was ist denn eine Selasblume? Und wieso ausgerechnet sie?«

»Sie hat eine dunkelrote Blüte, die an kräftigen Ranken wächst. Die Blätter sind dunkel und zartgliedrig. Die Pflanze selbst wächst am liebsten an schattigen Orten, die Blüte aber findet hin und wieder einen Sonnenstrahl, um darin zu erblühen. Das passt zu dir. Vieles an dir ist gleichzeitig Licht und Schatten. Sie wächst tief im Wald und ist sehr selten, denn nur große Könner vermögen sie zu ziehen. Sie duftet ganz wunderbar und wird viel gesucht, aber nur selten gefunden.« Ich hielt inne und betrachtete sie. »Ja, wenn ich eine Blume aussuchen soll, würde ich mich für eine Selas entscheiden.«

Sie sah mich an und gleich wieder weg. »Du hältst zu viel von mir.«

Ich lächelte. »Vielleicht hältst du zu wenig von dir.«

Sie fing etwas von meinem Lächeln ein und warf es mir zurück. »Du warst vorhin schon ganz nah dran. Margeriten. Schlicht und schön. Mit Margeriten kann man mein Herz gewinnen.«

»Das merke ich mir.« Wir gingen weiter. »Und welche Blume würdest du mir schenken?«, fragte ich sie neckisch, da ich glaubte, dass sie darauf nicht gefasst war.

»Eine Weidenblüte«, sagte sie, ohne überhaupt weiter nachzudenken.

»So so. Und warum ausgerechnet eine Weidenblüte?«

»Weil du mich an eine Weide erinnerst«, sagte sie leichthin. »Stark, tief verwurzelt und nicht zu durchschauen. Wenn ein Sturm kommt, bewegst du dich mit Leichtigkeit, aber nie weiter, als du willst.«

Ich hob die Hände, wie um einen Schlag abzuwehren. »Lass diese lieblichen Worte«, protestierte ich. »Du willst mich ja doch bloß deinem Willen unterwerfen. Aber nicht mit mir! Deine Schmeicheleien sind weiter nichts als Wind!«

Sie sah mich einen Moment lang an, wie um sicher zu gehen, dass mein Wortschwall zu Ende war. »Mehr als alle anderen Bäume«, sagte sie, und ein Lächeln spielte um ihre anmutigen Lippen, »bewegt sich die Weide, wie es dem Wind gefällt.«

Die Sterne verrieten mir, dass fünf Stunden vergangen waren. Doch das erschien mir überhaupt nicht lange, als wir schließlich am Gasthof Zur Eiche anlangten, wo sie zurzeit in Imre wohnte. An der Tür entstand eine Situation, die eine Stunde lang anhielt und während der ich überlegte, sie zu küssen. Dieser Gedanke war mir unterwegs schon ein Dutzend Mal gekommen – als wir auf der alten Steinbrücke innegehalten hatten, um den Fluss im Mondschein zu betrachten; unter einer Linde in einem Park in Imre …

Bei dieser Gelegenheit hatte ich gespürt, wie sich zwischen uns eine Spannung aufbaute, die buchstäblich mit Händen zu greifen war. Wenn sie mich von der Seite ansah, mit einem verstohlenen Lächeln, vermittelte mir die Neigung ihres Kopfes und die Art, wie sie mir beinahe das Gesicht zuwandte, den Eindruck, sie hoffe, dass ich … irgendetwas unternahm. Sollte ich den Arm um sie legen? Sie küssen? Woher sollte ich das wissen? Und wie konnte ich mir sicher sein?

Ich konnte es nicht. Also widerstand ich der Anziehung, die von ihr ausging. Ich wollte mir nicht zu viel erlauben, wollte ihr nicht zu nahe treten und mich nicht blamieren. Hinzu kam, dass Deochs Warnung mich verunsichert hatte. Vielleicht war das, was ich empfand, einfach nur Dennas Liebreiz und Ausstrahlung geschuldet.

Wie alle Jungen in meinem Alter war ich ein Grünschnabel, wenn es um Frauen ging. Der Unterschied zwischen mir und den anderen war bloß, dass ich mir dieser Unfähigkeit schmerzlich bewusst war, wohingegen andere, wie Simmon etwa, sich mit ihren plumpen Balzereien lächerlich machten. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, als Denna unerwünschte Avancen zu machen und dann von ihr wegen der Plumpheit meiner Annäherungsversuche ausgelacht zu werden. Nichts ist mir mehr zuwider, als etwas zu verpatzen.

So verabschiedete ich mich also von ihr und sah zu, wie sie den Gasthof Zur Eiche durch den Seiteneingang betrat. Ich atmete tief durch und musste mich sehr zusammenreißen, um nicht laut loszulachen oder auf der Stelle zu tanzen. Ich war vollkommen erfüllt von ihr – vom Duft des Windes, der durch ihr Haar gestrichen war, vom Klang ihrer Stimme, von der Art, wie der Mondschein Schatten über ihr Gesicht geworfen hatte.

Dann, ganz langsam, kam ich wieder auf den Boden der Tatsachen. Ich war noch keine sechs Schritte gegangen, da sackte ich in mir zusammen wie ein Segel bei plötzlicher Flaute. Während ich durch die Stadt nach Hause ging, vorbei an schlafenden Häusern und dunklen Tavernen, schwenkte meine Stimmung binnen drei Atemzügen von freudiger Erregung in nagende Zweifel um.

Ich hatte alles verdorben. Alles, was ich gesagt hatte und was mir im Moment so klug erschienen war, war in Wirklichkeit das Schlimmste, was ein Verrückter nur sagen konnte. Selbst jetzt noch war sie dort wohl auf ihrem Zimmer erleichtert, weil sie mich endlich los war.

Aber sie hatte gelächelt. Hatte gelacht.

Sie hatte sich nicht an unsere erste Begegnung auf der Straße nach Tarbean erinnert. Ich hatte offenbar keinen großen Eindruck bei ihr hinterlassen.

Klau mich, hatte sie gesagt.

Ich hätte mutiger sein und sie zum Abschied küssen sollen. Achtsamer hätte ich sein sollen. Ich hatte viel zu viel geredet. Und ich hatte viel zu wenig gesagt.

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