Kapitel 73

Schweinchen

Als wir den Apfel verspeist hatten, zogen wir die Füße aus dem Bach und rüsteten uns zum Aufbruch. Ich überlegte, ob ich meine Stiefel besser nicht wieder anziehen sollte. Nachdem ich barfuß über die Dächer von Tarbean gelaufen war, konnte mir auch der unwegsamste Waldboden eigentlich nichts mehr anhaben, aber andererseits wollte ich auch nicht unzivilisiert erscheinen, und so zog ich auch meine Strümpfe wieder an, die vollkommen durchgeschwitzt waren.

Ich schnürte mir eben die Stiefel, als ich im Wald, hinter einigen Tannen, ein leises Geräusch hörte.

Ich berührte Denna sachte an der Schulter, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, und hielt mir einen Zeigefinger vor den Mund.

Was ist?, fragte sie mit lautlosen Lippen.

Vorsichtig näherte ich mich ihr und gab mir dabei große Mühe, keine Geräusche zu machen. »Ich glaube, ich habe etwas gehört«, sagte ich, den Kopf ganz nah an ihrem. »Ich gehe mal hin und schau, was da ist.«

»Den Teufel wirst du tun«, flüsterte sie, ihr Gesicht blass im Waldesschatten. »Genau das hat Esche auch gesagt, als er mich gestern Abend stehen ließ. Ich lasse nicht zu, dass du auch noch verschwindest.«

Ehe ich etwas erwidern konnte, hörte ich, dass sich hinter den Bäumen etwas regte. Es raschelte im Unterholz, und dann knackte ein trockener Zweig. Die Geräusche wurden lauter, und dann hörte ich den schweren Atem eines großen Wesens. Dann ein tiefes, tierisches Grunzen.

Das war kein Mensch. Und es waren auch nicht die Chandrian. Meine Erleichterung währte jedoch nicht lange, denn neben dem Grunzen hörte ich nun auch ein Schnüffeln. Es war ein Wildschwein, das wahrscheinlich zum Bach unterwegs war.

»Stell dich hinter mich«, sagte ich zu Denna. Den meisten Leuten ist nicht klar, wie gefährlich Wildschweine sind, besonders im Herbst, wenn sich die Keiler Gefechte um ihre Vorherrschaft liefern. Sympathie half mir hier nicht weiter. Ich hatte keine Energiequelle und keine Verbindung. Ja, ich hatte nicht einmal einen Knüppel. Würde sich das Tier mit den paar Äpfeln, die ich noch übrig hatte, ablenken lassen?

Das Wildschwein schob sich schnüffelnd und schnaufend zwischen Tannenästen hindurch. Es wog wahrscheinlich mindestens doppelt so viel wie ich. Als es uns erblickte, grunzte es laut und kehlig. Es hob den Kopf und versuchte, unsere Witterung aufzunehmen.

»Nicht weglaufen, sonst jagt es dir nach«, sagte ich leise zu Denna und stellte mich langsam vor sie. Da mir nichts Besseres einfiel, zückte ich mein kleines Klappmesser und drückte mit dem Daumen die Klinge heraus. »Wir gehen ganz langsam rückwärts und in den Bach. Wildschweine sind keine guten Schwimmer.«

»Ich glaube nicht, dass sie gefährlich ist«, sagte Denna in ganz normalem Ton hinter mir. »Sie wirkt doch eher neugierig als aggressiv. Nicht dass ich deinen Beschützerdrang nicht zu schätzen wüsste.«

Auf den zweiten Blick sah ich, dass Denna recht hatte. Es war eine Sau, kein Eber oder Keiler, und unter einer Schlammschicht lugte die rosige Borste eines Hausschweins hervor. Gelangweilt senkte die Sau den Kopf und wühlte weiter im Unterholz herum.

Erst da wurde mir klar, dass ich eine Art Kampfstellung eingenommen hatte, die Beine angewinkelt, eine Hand wie ein Ringer ausgestreckt und in der anderen mein jämmerliches Klappmesser, das so klein war, dass ich damit mehrmals ansetzen musste, wollte ich auch nur einen Apfel halbieren. Am schlimmsten jedoch war, dass ich nur einen Stiefel trug. Ich sah völlig lächerlich aus, so verrückt wie Elodin an einem seiner schlimmsten Tage.

Ich wurde knallrot. »Gütiger Tehlu«, sagte ich. »Was bin ich doch für ein Idiot.«

»Also ich fühle mich geschmeichelt«, sagte Denna. »Ich glaube, mir ist noch nie jemand beigesprungen, um mich zu verteidigen – von einigen üblen Auseinandersetzungen in Kneipen mal abgesehen.«

»Ja, natürlich.« Ich hielt den Blick gesenkt und zog mir den anderen Strumpf und Stiefel an. Es war mir so peinlich, dass ich ihr nicht in die Augen sehen konnte. »Davon träumt ja nun wirklich jedes Mädchen, vor einem Hausschwein gerettet zu werden.«

»Das ist mein Ernst.« Ich hob den Blick und sah Heiterkeit in ihrem Gesicht, aber keinen Spott. »Du sahst … wild entschlossen aus. Wie ein Wolf mit gesträubtem Nackenfell.« Sie hielt inne und sah mich an. »Oder eher wie ein Fuchs. Für einen Wolf hast du zu rotes Haar.«

Ich atmete ein klein wenig auf. Ein wehrhafter Fuchs war immer noch besser als ein verwirrter Idiot.

»Allerdings hältst du das Messer falsch«, sagte Denna ganz sachlich und wies mit einer Kopfbewegung auf meine Hand. »Wenn du so zustechen würdest, würdest du abrutschen und dir in den Daumen schneiden.« Sie ergriff meine Hand und verschob die Finger ein wenig. »Wenn du es so hältst, ist dein Daumen sicher. Der Nachteil ist aber, dass dann dein Handgelenk nicht mehr so beweglich ist.«

»Du warst wohl schon in viele Messerstechereien verwickelt?«, fragte ich verdutzt.

»Nicht in so viele, wie man meinen könnte«, erwiderte sie mit verschmitztem Lächeln. »Das ist auch so eine Seite aus dem alten, zerfledderten Buch, anhand dessen ihr Männer uns so gern den Hof macht.« Sie verdrehte die Augen. »Ich kann sie schon gar nicht mehr zählen, all die Männer, die versucht haben, mir die Unschuld zu rauben, indem sie mir zeigten, wie ich eben diese Unschuld am besten verteidigen kann.«

»Ich habe dich noch nie ein Messer tragen sehen«, erwiderte ich. »Wie kommt das?«

»Warum sollte ich ein Messer tragen?«, fragte Denna. »Ich bin doch ein zartes Pflänzchen. Und zudem ist eine Frau, die ganz offen mit einem Messer herumläuft, doch offensichtlich auf Ärger aus.« Sie griff tief in ihre Tasche und zog einen langen, schlanken Metallgegenstand hervor, der an einer Seite glänzte. »Eine Frau jedoch, die insgeheim ein Messer dabei hat, ist für alle Fälle gewappnet. Es ist im Allgemeinen einfacher, harmlos zu erscheinen. Damit erspart man sich eine Menge Ärger.«

Ich erschrak nur deshalb nicht, weil sie das so sachlich-nüchtern erklärte. Ihr Messer war nicht viel länger als meins, aber kein Klappmesser. Es war ein einziges Stück Metall, am Griff mit einem dünnen Lederband umwunden, und eindeutig nicht dazu bestimmt, als Speise- oder Kochmesser zu dienen. Eher ähnelte es den Skalpellen, die ich aus der Mediho kannte. »Wie trägst du das in der Tasche, ohne dich zu schneiden?«, fragte ich.

Denna zeigte es mir. »Meine Tasche hat innen einen Schlitz. Das Messer habe ich mir ans Bein geschnallt. Und weil es so flach ist, sieht man nicht, dass ich es trage.« Sie hielt es mir an dem Ledergriff entgegen. »Siehst du? So geht das. Mit dem Daumen auf der stumpfen Seite.«

»Versuchst du mir die Unschuld zu rauben, indem du mir zeigst, wie ich sie am besten verteidigen kann?«, fragte ich.

»Als ob du so etwas hättest«, lachte sie. »Ich will nur verhindern, dass du dir deine hübschen Hände zerschneidest, wenn du das nächste Mal ein Mädchen vor einem Schwein retten musst.« Sie legte den Kopf auf die Seite. »Apropos. Weißt du eigentlich, dass deine Augen, wenn du wütend bist …«

»Schweinchen, hou, hou, Schweinchen!«, ertönte es hinter den Bäumen, gefolgt vom Scheppern einer Glocke. »Schweinchen-Schweinchen-Schweinchen …«

Die Sau hob die Schnauze und trottete durchs Unterholz in Richtung der Stimme davon. Denna steckte ihr Messer weg, und ich schulterte meinen Reisesack. Dann folgten wir dem Schwein und entdeckten ein Stück den Bach hinab einen Mann, um den ein halbes Dutzend Säue herumliefen. Er hatte auch einen alten Eber dabei, und etwa zwanzig Ferkel tollten in der Nähe umher.

Der Schweinehirte sah uns argwöhnisch entgegen. »Hallo!«, rief er. »Keine Bange. Die beißen nicht.«

Er war hager und wettergegerbt und hatte einen zottigen Bart. An seinem langen Wanderstab hing eine schlichte Bronzeglocke, und über der Schulter trug er eine zerlumpte Tasche. Er roch längst nicht so schlimm wie man vielleicht erwartet hätte, denn frei weidende Schweine halten sich sauberer als eingepferchte. Und selbst wenn er wie ein eingepferchtes Schwein gestunken hätte, hätte ich ihm das nicht verübeln können, denn ich selbst hatte an diversen Zeitpunkten meines Lebens zweifellos noch schlimmer gestunken.

»Dacht ich doch, dass ich hier am Wasser was gehört hab«, sagte er mit einem kräftigen Akzent, der darauf hindeutete, dass er an einem wirklich abgelegenen Ort aufgewachsen war, wahrscheinlich weitab im Gebirge.

Diese Leute, das wusste ich noch von den Reisen mit meiner Truppe, lebten in jeder Hinsicht ausgesprochen traditionell. So schätzten sie beispielsweise selbstbewusste Frauen überhaupt nicht, und wenn bei ihnen die Männer miteinander sprachen, hatten die Frauen den Mund zu halten. Die kluge Denna gab mir mit einem Augenzwinkern zu verstehen, dass sie sich dessen bewusst war.

Der Hirte kam auf uns zu, und sein sonnengegerbtes Gesicht wirkte streng. »Was macht ihr denn hier draußen?«, fragte er argwöhnisch. »Ich hab jemanden singen hören.«

»Das war meine Kusine«, sagte ich und bediente mich dabei des gleichen Akzents. Ich zeigte auf Denna. »Sie hat wirklich eine liebliche Stimme, nicht wahr?« Ich streckte ihm eine Hand entgegen. »Freut mich sehr, Euch kennen zu lernen, Sir. Mein Name ist Kvothe.«

Er schien erstaunt, dass ich nun ebenfalls mit diesem hinterwäldlerischen Akzent sprach, und das Misstrauen wich aus seiner Miene. Lächelnd schüttelte er mir die Hand und sagte: »Ich bin Skoivan Schiemmelpfenneg.«

»Das ist ja ein geradezu königlicher Name«, erwiderte ich. »Wärt Ihr gekränkt, wenn ich das abkürzen würde?«

»Meine Freunde nennen mich Schiem«, sagte er, grinste und klopfte mir auf den Rücken. »Und so hübsche junge Leute wie ihr dürfen mich auch Schiem nennen.« Er sah immer wieder zwischen Denna und mir hin und her.

Denna hatte mit keiner Wimper gezuckt, als ich begonnen hatte, mit diesem Akzent zu sprechen. »Oh, Verzeihung«, sagte ich und wies auf sie. »Schiem, das ist meine Lieblingskusine.«

»Dinnaeh«, sagte Denna.

Ich senkte die Stimme zu einem Bühnenflüstern. »Ein süßer Fratz. Aber schrecklich schüchtern. Sie kriegt meist kein Wort heraus.«

Denna schlüpfte ohne zu zögern in ihre neue Rolle, blickte zu Boden und wand die Hände. Sie hob den Blick nur, um den Schweinehirten kurz anzulächeln, und schlug dann wieder die Augen nieder. Sie bot ein Bild so aparter Schüchternheit, dass ich beinahe selbst darauf hereingefallen wäre.

Schiem tippte sich zum Gruß mit der Hand an die Stirn und nickte. »Freut mich, dich kennen zu lernen, Dinnaeh. Eine so schöne Stimme habe ich noch nie gehört«, sagte er und schob sich seinen Hut ein wenig aus der Stirn. Als Denna ihn immer noch nicht ansah, wandte er sich wieder an mich.

»Das ist aber eine schöne Herde«, sagte ich und wies mit einer Kopfbewegung auf die im Wald umherwuselnden Schweine. »Sagt, lieber Schiem, könnte ich Euch wohl ein Ferkel abkaufen? Meine Kusine und ich haben heute versäumt, Mittag zu essen.«

»Das könntet ihr schon«, sagte er vorsichtig, und sein Blick wanderte zu meinem Geldbeutel.

»Wenn Ihr es für uns schlachtet und bratfertig macht, gebe ich Euch vier Jots dafür«, sagte ich. Mir war klar, dass das ein sehr großzügiges Angebot war. »Aber nur, wenn Ihr uns den Gefallen tut und gemeinsam mit uns speist.«

Ich wollte damit vorsichtig vorfühlen. Leute, die einen einsamen Beruf ausüben wie ein Hirte, sind entweder unverbesserliche Einzelgänger, oder sie freuen sich sehr, wenn sie mal jemanden haben, mit dem sie sich unterhalten können. Ich hoffte, dass bei Schiem das Letztere der Fall war. Ich brauchte Informationen über die Hochzeit, und die Leute in der Stadt taten ja offensichtlich alles, um nicht darüber reden zu müssen.

Darauf zog ich mit einem verschmitzten Lächeln die Flasche Schnaps, die mir der Kessler gegeben hatte, aus meinem Reisesack. »Ich habe sogar etwas zu trinken dabei. Wenn Ihr nichts dagegen habt, zu so früher Stunde schon mit zwei Fremden ein Schlückchen zu Euch zu nehmen.«

Auf dieses Stichwort hin hob Denna schnell den Blick, lächelte Schiem schüchtern an und schlug dann wieder die Augen nieder.

»Nun ja, meine Mutter hat mich zu einem anständigen Menschen erzogen«, sagte der Schweinehirte und legte sich eine Hand auf die Brust. »Ich trinke nur, wenn ich durstig bin oder wenn der Wind weht.« Er lüpfte mit großer Geste seinen verbeulten Hut und verbeugte sich vor uns. »Ihr scheint mir gute Leute zu sein. Herzlich gern esse ich einen Bissen mit euch.«

Schiem schnappte sich ein Ferkel, trug es fort, schlachtete es mit einem langen Messer aus seinem Beutel und machte es anschließend bratfertig. Ich räumte ein wenig Laub beiseite und machte mit ein paar Steinen eine Feuerstelle.

Denna kam bald mit zwei Armen voll trockenem Holz wieder. »Ich nehme an, wir versuchen aus dem Mann alles rauszuholen, was er weiß?«, fragte sie mich leise.

Ich nickte. »Entschuldige bitte die schüchterne Kusine, aber …«

»Nein, das war eine gute Idee. Ich weiß ja, wie diese Hinterwäldler so sind. Du bekommst bestimmt mehr aus ihm heraus, wenn ihr das unter euch Männern besprecht«, sagte sie mit gespielter Verschwörermiene. Sie schaute hinter mich. »Er ist schon fast fertig.« Dann ging sie zum Bach.

Verstohlen machte ich durch Sympathie Feuer, und Denna schnitzte derweil aus Weidenruten ein paar Bratspieße. Schließlich kam Schiem mit dem säuberlich geviertelten Ferkel wieder.

Während das Schwein über dem Feuer briet und Fett in die Flammen tropfte, reichte ich die Flasche Schnaps herum. Ich tat, als würde ich trinken, befeuchtete mir in Wirklichkeit aber nur die Lippen. Denna trank einen kleinen Schluck und bekam bald schon rosige Wangen davon. Schiem blieb seinen Worten treu, und da der Wind wehte, dauerte es nicht lange, bis seine Nase eine rötliche Färbung angenommen hatte.

Schiem und ich plauderten über alles Mögliche, bis der Schweinebraten knusprig war. Und je länger ich ihm zuhörte, desto mehr rückte sein Akzent in den Hintergrund und desto weniger musste ich mich konzentrieren, ihn nachzuahmen. Und als der Braten dann fertig war, war ich mir dessen kaum noch bewusst.

»Du kannst wirklich gut mit dem Messer umgehen«, lobte ich ihn. »Aber es wundert mich, dass du das Ferkel gleich hier an Ort und Stelle geschlachtet hast, wo die anderen Schweine praktisch zusehen können.«

Er schüttelte den Kopf. »Schweine sind fiese Viecher.« Er wies auf eine Sau, die zu der Stelle lief, an der er das Ferkel geschlachtet hatte. »Siehst du? Sie will die Innereien des Kleinen fressen. Schweine sind schlau, aber sie sind auch völlig gefühllos.«

Als der Braten fertig war, holte Schiem ein rundes Bauernbrot hervor und schnitt es in drei Teile. »Hammel«, murrte er vor sich hin. »Wer isst schon Hammel, wenn es auch schönen Schinken gibt?« Dann erhob er sich und begann den Schweinebraten mit seinem langen Messer zu tranchieren. Er legte jedem von uns eine dicke Scheibe Fleisch auf das Brot. »Passt auf, das ist heiß. Lasst es noch ein bisschen abkühlen.«

Später servierte uns Schiem auch noch eine zweite und eine dritte Portion. Bald schon leckten wir uns den Bratensaft von den Fingern. Ich beschloss, zum Eigentlichen überzugehen. Wenn Schiem jetzt nicht gesprächig war, würde er es nie sein.

»Es wundert mich, dass du hier in der Gegend unterwegs bist, wo man hier doch in letzter Zeit so schlimme Sachen hört«, sagte ich.

»Was denn für schlimme Sachen?«, fragte er.

Also wusste er noch nicht von dem Blutbad auf der Hochzeit. Ausgezeichnet. Dann konnte er mir zwar keine Einzelheiten über den Überfall liefern, würde mir aber bereitwilliger von den Ereignissen vor der Hochzeit berichten. Selbst wenn in der Stadt nicht alle vollkommen verängstigt waren, hatte ich doch ernsthafte Zweifel, dass ich jemanden finden würde, der aufrichtig über die Toten sprechen würde.

»Ich habe gehört, dass es auf der Mauthen-Farm Probleme gegeben haben soll«, sagte ich und hielt die Aussage so vage und harmlos wie nur möglich.

Er schnaubte. »Ich kann nicht behaupten, dass mich das wundert.«

»Wieso das?«

Schiem spuckte zur Seite. »Die Mauthens sind eine Hundesippe, die haben es nicht besser verdient.« Er schüttelte den Kopf. »Ich halt mich vom Borrorill fern, schließlich hat meine Mutter mir ja ein Fünkchen Vernunft eingebläut. Aber von Mauthen kann man das nicht behaupten.«

Erst jetzt, als Schiem den Ortsnamen mit seinem kräftigen Akzent aussprach, verstand ich ihn. Das hatte mit einem Rill, einem Bach nichts zu tun. Es bedeutete Barrow Hill – Hügelgrab.

»Ich lass da nicht mal meine Schweine weiden, der Blödmann aber baut da ein Haus.« Er schüttelte angewidert den Kopf.

»Haben die Leute denn nicht versucht, ihn davon abzuhalten?«, fragte ich.

Der Schweinehirte schnaubte. »Der Mauthen hört doch auf niemanden. Dem hat das Geld die Ohren verstopft.«

»Aber es ist ja nur ein Haus«, sagte ich. »Was kann er damit schon anrichten?«

»Der Mann will für seine Tochter ein schönes Haus mit einem Ausblick, und dagegen ist ja erst mal auch gar nichts einzuwenden«, räumte Schiem ein. »Aber wenn man die Baugrube aushebt, und man findet Knochen und Gebeine und so, und man hört dann nicht auf … wie bescheuert kann man denn sein?«

»Ist nicht wahr!«, sagte ich entgeistert.

Schiem nickte und beugte sich vor. »Und das ist noch nicht mal das Schlimmste. Er hat weitergegraben, und dann ist er auf Steine gestoßen. Hat er es dann sein lassen?« Er schnaubte. »Von wegen. Er hat sie ausgebuddelt und nach mehr gegraben, damit er sie für sein Haus verwenden kann!«

»Und warum sollte er die Steine nicht verwenden, die er gefunden hat?«, fragte ich.

Schiem sah mich an, als wäre ich komplett übergeschnappt. »Würdest du mit Steinen aus einem Hügelgrab ein Haus bauen? Würdest du etwas aus einem Hügelgrab holen und es deiner Tochter zur Hochzeit schenken?«

»Er hat etwas gefunden? Was war es denn?« Ich reichte Schiem die Flasche.

»Tja, das ist das große Geheimnis, nicht wahr«, sagte er mit Bitterkeit in der Stimme und trank noch einen Schluck. »Soweit ich weiß, hat er die Baugrube ausgehoben und Steine rausgeholt. Und dann ist er auf eine zugemauerte Kammer gestoßen. Aber er hat alle zum Schweigen verpflichtet, die wissen, was es war, weil es ja die große Überraschung auf der Hochzeit sein sollte.«

»Eine Art Schatz?«, fragte ich.

»Nee, kein Geld.« Er schüttelte den Kopf. »Mit Geld haben die Mauthens immer rumgeprahlt. Es war wahrscheinlich so eine Art …« Er öffnete und schloss den Mund, suchte nach einem Wort. »Wie nennt man das? Es ist was Altes, was sich reiche Leute aufs Regal stellen, um vor ihren Kumpels damit anzugeben?«

Ich zuckte ratlos die Achseln.

»Eine Art Familienerbstück?«, fragte Denna.

Schiem blickte sie kurz finster an, weil sie sich ungefragt zu Wort gemeldet hatte, legte sich dann eine Fingerspitze an die Nase und zeigte lächelnd auf sie. »Das ist es. Irgendwas Protziges, womit man die Leute beeindrucken kann. Er ist ein protziger Mistkerl, dieser Mauthen.«

»Dann weiß also keiner, was es war?«, fragte ich.

Schiem nickte. »Nur eine Hand voll Leute wusste das. Mauthen und sein Bruder, zwei seiner Söhne und vielleicht noch seine Frau. Und die haben dieses große Geheimnis ein halbes Jahr lang gehütet.«

Das rückte alles in ein neues Licht. Ich musste zurück zur Farm und mir alles noch einmal ansehen.

»Habt Ihr denn hier heute jemanden gesehen?«, fragte ich. »Wir suchen einen Onkel von uns.«

Schiem schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe niemanden gesehen.«

»Ich mache mir große Sorgen um ihn«, fügte Denna hinzu.

»Ich will dir nichts vormachen«, sagte er. »Wenn er allein in diesen Wäldern unterwegs ist, hast du auch wirklich Grund zur Sorge.«

»Treiben sich hier etwa böse Leute herum?«, fragte ich.

»Nicht, was du jetzt denkst«, erwiderte er. »Ich komme nur einmal im Jahr hier herunter, im Herbst. Das Futter für die Schweine ist es wert. Aber es geschehen seltsame Dinge in diesen Wäldern. Besonders oben im Norden.« Er sah erst zu Denna hinüber und dann zu Boden und wusste offenbar nicht so recht, ob er fortfahren sollte oder nicht.

Das war genau das, was ich erfahren wollte, und darum wischte ich seine Bemerkung beiseite und hoffte, ihm damit etwas zu entlocken. »Jetzt erzähl uns doch keine Schauermärchen, Schiem.«

Schiem runzelte die Stirn. »Vorgestern Nacht, als ich mal aufstehen musste …« Er zögerte mit einem Seitenblick zu Denna, »– um was dringendes Privates zu erledigen, da habe ich Lichter im Norden gesehen. Es waren blaue Flammen, so groß wie ein Freudenfeuer. Und plötzlich«, er schnippte mit dem Finger, »waren sie wieder weg. So ging das drei Mal. Es hat mir einen höllischen Schrecken eingejagt.«

»Vorgestern?«, fragte ich. Die Hochzeit lag erst einen Tag zurück.

»Hab ich doch gesagt, oder etwa nicht?«, erwiderte er unwirsch. »Und seitdem bin ich auf dem Weg nach Süden. Was auch immer da nachts blaues Feuer macht, damit will ich nichts zu tun haben.«

»Schiem, jetzt mal im Ernst: blaues Feuer?«

»Ich bin doch kein verlogener Ruh, der sich irgendwelche Geschichten ausdenkt, um dir ein paar Pennys abzuluchsen, mein Junge«, erwiderte er gereizt. »Ich hab mein ganzes Leben hier auf diesen Bergen verbracht. Jeder weiß, dass da im Norden irgendwas ist. Darum halten sich die Leute auch fern von da.«

»Gibt es dort oben keine Bauernhöfe?«, fragte ich.

»Auf diesen Hängen wächst nichts, da könnte man höchstens Steine anbauen«, erwiderte er. »Oder glaubst du etwa, ich erkenn eine Kerze oder ein Lagerfeuer nicht, wenn ich eins sehe? Es war blau, das sag ich dir. Und es waren große Flammen.« Er unterstrich das mit einer Handbewegung. »Wie wenn man Schnaps ins Feuer kippt.«

Ich ließ es dabei bewenden und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema. Bald darauf erhob sich Schiem mit einem Ächzen. »Die Schweine haben jetzt hier alles abgeweidet«, erklärte er und schüttelte die Glocke an seinem Wanderstab. Gehorsam kamen seine Tiere aus allen Himmelsrichtungen angetrottet. »Schweinchen, hou, hou, Schweinchen!«, rief er. »Schweinchen-Schweinchen-Schweinchen! Kommt her, lasst euch zählen!«

Ich wickelte die Reste des Schweinebratens in ein Stück Sackleinen, und Denna ging ein paar Mal mit der Wasserflasche hin und her und löschte das Feuer. Als wir dann zum Aufbruch bereit waren, hatte Schiem seine Herde schon zusammengetrieben. Sie war größer, als ich gedacht hatte. Es waren über zwei Dutzend ausgewachsene Sauen, dazu die vielen Ferkel und der Eber mit den grauen Rückenborsten. Schiem winkte uns noch einmal zu und zog dann wortlos davon, und die Glocke an seinem Wanderstab läutete, während die Schweine ihm in einem losen Pulk folgten.

»Na, das war jetzt aber nicht sehr geschickt«, sagte Denna.

»Ich musste ihm ein bisschen auf die Füße treten«, erwiderte ich. »Abergläubische Leute reden nicht gern über das, wovor sie sich fürchten, und ich musste erfahren, was er da im Wald gesehen hat.«

Ich schulterte meinen Reisesack und ging los. Denna mussterte verzagt die Umgebung. »Tja, dann sollten wir mal weitersuchen. Meinen Gönner und Antworten auf deine Fragen.«

»Das hat doch keinen Sinn«, sagte ich.

»Ich weiß, aber ich will es wenigstens versucht haben.«

»Das meine ich nicht. Schau mal …« Ich zeigte auf eine Stelle, an der die Schweine auf der Suche nach irgendwelchen Leckerbissen im Erdreich und im Laub herumgewühlt hatten. »Er hat doch hier überall seine Schweine weiden lassen. Selbst wenn es eine Spur gäbe, würden wir sie niemals finden.«

Denna atmete tief ein und in einem langen Seufzer wieder aus. »Ist noch was in der Flasche?«, fragte sie erschöpft. »Mein Kopf tut mir immer noch weh.«

»Wie dumm von mir«, sagte ich und sah mich um. »Hättest du das doch früher erwähnt.« Ich ging zu einer jungen Birke, schnitt ein paar Streifen von der Rinde ab und brachte sie ihr. »Die Innenseite der Rinde ist ein gutes Schmerzmittel.«

»Es ist praktisch, dich dabei zu haben.« Sie schälte mit dem Fingernagel etwas davon ab, steckte es sich in den Mund und verzog die Nase. »Bitter.«

»Daran erkennt man, dass es Medizin ist«, sagte ich. »Wenn es gut schmecken würde, wäre es eine wirkungslose Leckerei.«

»Ist es nicht immer so im Leben?«, erwiderte sie. »Wir wollen das Süße, brauchen aber das Bittere.« Sie lächelte. »Apropos«, sagte sie. »Wie soll ich denn nun meinen Gönner finden? Hast du einen Vorschlag?«

»Ich habe da eine Idee«, sagte ich und schulterte wieder meinen Reisesack. »Aber erst müssen wir noch einmal zurück zu der Farm. Es gibt da etwas, das ich mir noch einmal ansehen muss.«

Wir machten uns auf den Weg zurück auf den Barrow Hill, und ich erkannte, woher er seinen Namen hatte. Seltsame Bodenwellen erhoben sich hier, obwohl es in der näheren Umgebung gar keine Felsen gab. Nachdem ich sie nun entdeckt hatte, konnte ich sie nicht mehr übersehen.

»Was willst du dir denn ansehen?«, fragte Denna. »Und verlass dich drauf, dass ich dich zurückhalten werde, falls du versuchen solltest, in das Haus hineinzugehen.«

»Schau dir das Haus doch mal an«, sagte ich. »Und nun schau dir die Felsen an, die da hinten aus dem Wald ragen.« Ich zeigte in die Richtung. »Die Felsen hier in der Gegend sind dunkel …«

»… und die Steine des Hauses sind grau«, schloss sie.

Ich nickte.

Sie sah mich fragend an. »Und was genau soll das bedeuten? Er hat ja erzählt, dass sie die Steine eines Hügelgrabs verwendet haben.«

»Es gibt hier keine Hügelgräber«, sagte ich. »Hügelgräber gibt es in Vintas, dort ist das eine alte Tradition, oder auch in sumpfigen Gegenden, wo man keine richtigen Gräber ausheben kann. Wir sind hier wahrscheinlich fünfhundert Meilen von dem nächsten richtigen Hügelgrab entfernt.«

Ich ging zu dem Farmhaus. »Und außerdem werden Hügelgräber nicht aus Steinen gebaut. Und wenn doch, dann nicht aus solchen Quadern aus einem Steinbruch. Diese Steine hier stammen von weither.« Ich fuhr mit der Hand über die glatte graue Oberfläche der Mauer. »Hier wollte jemand etwas bauen, das die Zeiten überdauert. Etwas Solides.« Ich drehte mich wieder zu Denna um. »Ich glaube, hier liegt eine alte Festung unter der Erde.«

Denna dachte einen Moment lang nach. »Und warum nennen sie es Barrow Hill, wenn es hier gar kein Hügelgrab gibt?«

»Die Leute hier haben wahrscheinlich noch nie ein richtiges Hügelgrab gesehen. Sie kennen das nur aus Erzählungen. Als sie dann diese Stelle entdeckten, an der sich diese merkwürdig geformten Hügel erheben, nannten sie sie Barrow Hill.«

»Aber wir sind hier buchstäblich am Ende der Welt«, sagte sie und ließ ihren Blick ziellos umherschweifen.

»Heutzutage vielleicht«, pflichtete ich ihr bei. »Aber damals, als das gebaut wurde?« Ich zeigte auf eine Lücke zwischen den Bäumen nördlich des ausgebrannten Farmhauses. »Komm mal hier herüber. Das musst du dir ansehen.«

Wenn man an den Bäumen am nördlichen Hügelkamm vorbeiging, öffnete sich ein prachtvoller Ausblick über die ganze Umgebung. Das Rot und Gold des Herbstlaubs war atemberaubend schön. Ich konnte ein paar vereinzelte Häuser und Scheunen erkennen, umgeben von goldfarbenen Feldern und grünen Weiden mit winzigen weißen Schafen darauf. Ich konnte auch den Bach sehen, in den Denna und ich unsere Füße hatten baumeln lassen.

Wenn ich nach Norden blickte, sah ich die Felshänge, von denen Schiem gesprochen hatte. Dort sah das Land viel karger aus.

Ich nickte vor mich hin. »Man kann von hier aus dreißig Meilen weit in jede Richtung sehen. Der einzige Hügel mit einer noch besseren Aussicht ist dieser da.« Ich deutete auf einen hohen Hügel, der den Blick auf die Felshänge des Nordens teilweise verbarg. »Doch sein Gipfel ist so steil, dass dort kein Platz wäre, um eine Festung zu errichten.«

Denna sah sich nachdenklich um und nickte. »Also gut, du hast mich überzeugt. Hier stand früher eine Festung. Und was jetzt?«

»Ich würde es gerne bis auf den Gipfel dieses Hügels schaffen, bevor wir unser Nachtlager aufschlagen. Es sind nur ein oder zwei Meilen, und wenn im Norden etwas Seltsames vor sich geht, haben wir es von dort am Besten im Blick.« Ich überlegte einen Moment. »Und wenn Esche sich hier irgendwo im Umkreis von zwanzig Meilen aufhält, kann er unser Lagerfeuer sehen und uns finden. Wenn er so scheu ist und nicht in die Stadt will, geht er ja vielleicht eher zu einem Lagerfeuer.«

Denna nickte. »Das ist in jedem Fall besser, als ziellos im Unterholz herum zu stolpern.«

»Ich habe durchaus auch meine lichten Momente«, sagte ich und wies mit großer Geste den Hügel hinab. »Bitte. Ladys first.«

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