Kapitel 82

Esche und Ulme …

Ich erwachte in einem Bett. In einem Zimmer. In einem Wirtshaus. Mehr war mir im ersten Moment nicht bewusst. Ich fühlte mich, als wäre mir eine Kirche auf den Kopf gefallen.

Man hatte mich gewaschen und mir Verbände angelegt, und alles mit größter Sorgfalt. Es hatte sich offenbar auch jemand um alle meine kürzlich erlittenen Verletzungen gekümmert, selbst um die kleinsten. Ich hatte weiße Leinenverbände um den Kopf, die Brust, ein Knie und einen Fuß. Jemand hatte sich sogar die Mühe gemacht, die Schürfwunden auf meinen Händen zu reinigen und zu verbinden, ebenso wie die Schnittwunde, die mir drei Tage zuvor Ambroses Schergen bei dem Versuch mich umzubringen, beigebracht hatten.

Die Beule auf meinem Kopf schien das Schlimmste von allem zu sein. Sie pochte, und wenn ich den Kopf hob, wurde mir schwindelig. Jede Bewegung war eine Lektion in punitiver Anatomie. Ich schwang die Beine aus dem Bett und verzog das Gesicht: Tiefes Gewebetrauma im Halbsehnenmuskel des rechten Beins. Ich setzte mich auf: Querzerrung des Knorpelgewebes zwischen den unteren Rippen. Ich stand auf: Leichte Verstauchung des Talo … navi … verdammt, wie hieß das noch? Ich hatte Arwyls Gesicht vor Augen, wie er mich mit gerunzelter Stirn durch seine runden Brillengläser ansah.

Meine Kleider waren gereinigt und geflickt. Ich zog sie an und bewegte mich dabei sehr langsam, um keine der hochinteressanten Mitteilungen meines Körpers zu verpassen. Ich war froh, dass es in dem Zimmer keinen Spiegel gab, denn ich musste übel zugerichtet aussehen. Der Kopfverband störte mich, aber ich beschloss, ihn dran zu lassen. Wie es sich anfühlte, war dieser Verband das Einzige, was meinen Kopf vor dem Auseinanderfallen bewahrte.

Ich ging zum Fenster. Der Himmel war bedeckt, und in dem grauen Licht bot die Stadt einen schrecklichen Anblick – überall Ruß und Asche. Das Geschäft auf der anderen Straßenseite war zertrümmert, wie ein Puppenhaus unter dem Stiefel eines Soldaten. Leute suchten in den Trümmern herum. Die Wolkendecke war so dick, dass man nicht erkennen konnte, wie spät es war.

Ich hörte einen Luftzug, als die Tür geöffnet wurde, und als ich mich umsah, stand eine junge Frau vor mir. Jung, hübsch, bescheiden – die Art von Mädchen, wie sie in solchen kleinen Wirtshäusern oft arbeiten: eine Nellie. Oder Nell. Ein Mädchen, das leicht zu erschrecken war, da der Wirt zu Wutanfällen neigte und ihm auch schon einmal die Hand ausrutschte. Sie starrte mich an, offenbar erstaunt, dass ich nicht im Bett lag.

»Hat es Tote gegeben?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Der kleine Liram hat sich den Arm gebrochen. Und einige Leute haben Verbrennungen und so …« Ich atmete auf. »Ihr solltet nicht aufstehen, Sir. Der Doktor hat gesagt, dass Ihr vielleicht gar nicht mehr aufwacht. Ihr solltet Euch schonen.«

»Ist … ist meine Kusine wieder zurück in der Stadt?«, fragte ich. »Das Mädchen, das auf der Mauthen-Farm war. Ist sie auch hier?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Nur Ihr seid hier, Sir.«

»Wie spät ist es?«

»Das Mittagessen ist noch nicht ganz fertig, Sir. Aber ich könnte Euch etwas anderes bringen, wenn Ihr mögt.«

Mein Reisesack stand neben dem Bett. Ich schulterte ihn, und es war ein eigenartiges Gefühl, wie leicht er nur mit der Schuppe und dem Lodenstein darin war. Ich sah mich nach meinen Stiefeln um, doch dann fiel mir wieder ein, dass ich sie mir am Abend zuvor von den Füßen gerissen hatte, um barfuß besser über die Dächer laufen zu können.

Ich verließ das Zimmer, das Mädchen im Schlepptau, und ging hinunter in den Schankraum. Hinter dem Tresen stand derselbe Mann wie am vorherigen Tag, und er blickte immer noch verdrießlich.

Ich ging zu ihm. »Meine Kusine?«, fragte ich. »Ist sie in der Stadt?«

Der Wirt wandte sich mit seinem verdrießlichen Blick zu dem Durchgang um, in dem gerade die junge Frau auftauchte. »Nell, warum zum Teufel lässt du ihn aufstehen? Du bist doch wirklich dumm wie Bohnenstroh.«

Dann hieß sie also tatsächlich Nell. Unter anderen Umständen hätte ich das amüsant gefunden.

Er wandte sich wieder an mich, mit einem Lächeln, das im Grunde nur eine Variante seiner säuerlichen Miene war. »Mein Gott, Junge. Muss dein Gesicht aber wehtun. Das ist ja ein Anblick zum Steinerweichen.« Er gluckste.

Ich funkelte ihn an. »Ich habe nach meiner Kusine gefragt.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht wiedergekommen. Und ich nehme ihr das nicht übel.«

»Bringt mir Brot, Obst und etwas Fleisch, wenn Ihr habt«, sagte ich. »Und eine Flasche Obstwein. Am liebsten Erdbeere.«

Er lehnte sich an den Tresen, hob eine Augenbraue und lächelte herablassend. »Kein Grund zur Eile, mein Junge. Da du jetzt aufgewacht bist, wird der Wachtmeister mit dir sprechen wollen.«

Ich biss die Zähne zusammen, schluckte die Erwiderung, die mir schon auf der Zunge lag, wieder hinunter, und atmete einmal tief durch. »Hört mir zu. Ich habe ein paar wirklich unangenehme Tage hinter mir. Ich habe Kopfschmerzen, wie Ihr sie Euch überhaupt nicht vorstellen könnt, und eine Freundin von mir befindet sich womöglich in Lebensgefahr.« Ich starrte ihn mit eisiger Miene an. »Ich möchte nicht, dass es hier zu einer unschönen Szene kommt. Und deshalb bitte ich Euch noch einmal ganz freundlich, mir zu bringen, was ich verlangt habe.« Ich zückte meinen Geldbeutel. »Bitte.«

Er sah mich an, und sein Gesicht verfärbte sich vor Wut. »Du dummer kleiner Wichtigtuer. Wenn du mir nicht ein wenig Respekt entgegenbringst, fessele ich dich an einen Stuhl, bis der Wachtmeister kommt.«

Ich warf daraufhin einen Eisendeut auf den Tresen und hielt einen zweiten in der geballten Faust.

Er betrachtete die Münze mit seinem säuerlichen Blick. »Was soll das?«

Ich konzentrierte mich und spürte, wie die Kälte meinen Arm hinaufkroch. »Das ist Euer Trinkgeld«, sagte ich, während ein kleines Rauchfähnchen von dem Deut aufzusteigen begann. »Weil Ihr mich so prompt und höflich bedient habt.«

Rings um die Münze begann der Lack Blasen zu schlagen und zu verkohlen. Der Wirt sah sprachlos und entsetzt zu.

»Und jetzt bringt mir, was ich verlangt habe«, sagte ich und sah ihm in die Augen. »Und auch noch einen Schlauch Wasser. Sonst brenne ich dieses Haus nieder und tanze in der Asche Eurer verkohlten Gebeine.«

Mit vollem Reisesack kam ich auf den Gipfel des Grausteinhügels. Ich war barfuß und außer Atem und hatte dröhnende Kopfschmerzen. Von Denna war keine Spur zu sehen.

Ich schaute mich in der näheren Umgebung um; alles, was ich zurückgelassen hatte, lag noch an Ort und Stelle. Auch die beiden Decken waren noch da. Der Wasserschlauch war fast leer, das war die einzige Veränderung. Denna war vielleicht nur kurz mal im Gebüsch verschwunden.

Ich wartete. Ich wartete länger, als es vernünftig war. Dann rief ich nach ihr, erst leise, dann lauter, obwohl mir der Kopf schrecklich weh tat, wenn ich rief. Schließlich saß ich einfach nur da. Ich konnte nur noch daran denken, wie Denna wohl aufgewacht war – alleine, mit Schmerzen, durstig und desorientiert. Was hatte sie wohl gedacht?

Ich aß ein wenig und dachte darüber nach, was ich jetzt tun sollte. Ich überlegte kurz, den Wein aufzumachen, wusste aber, dass das eine schlechte Idee war, denn schließlich hatte ich ja ziemlich sicher eine Gehirnerschütterung. Ich rang mit der irrationalen Vorstellung, Denna könnte im Delirium in den Wald gegangen sein, und ich müsste sie nun suchen. Ich überlegte, ob ich ein Lagerfeuer machen sollte, damit sie es sehen könnte und wieder käme.

Aber nein. Ich wusste, dass sie einfach gegangen war. Sie war aufgewacht, hatte gesehen, dass ich nicht mehr da war, und war gegangen. Wie sie gesagt hatte, als wir das Wirtshaus in Trebon verlassen hatten: Ich gehe, wenn ich nicht willkommen bin. Alles Weitere ergibt sich unterwegs. Glaubte sie etwa, dass ich sie verlassen hatte?

Dessen ungeachtet hatte ich irgendwie das Gefühl, dass sie schon eine ganze Weile fort war. So packte ich meinen Reisesack. Für den Fall, dass ich mich irrte, schrieb ich ihr einen Brief, in dem ich ihr erklärte, was geschehen war, und sie wissen ließ, dass ich einen Tag lang in Trebon auf sie warten würde. Mit einem Stück Kohle schrieb ich ihren Namen an einen der Grausteine und zog von dort einen Pfeil zu der Stelle, an der ich die mitgebrachten Lebensmittel, eine Flasche Wasser und eine Decke für sie zurückließ.

Dann brach ich auf. Meine Stimmung war nicht die Beste. Und meine Gedanken waren eher düster.

Als ich nach Trebon zurückkam, brach über der Stadt gerade die Abenddämmerung herein. Ich kletterte auf die Dächer, allerdings etwas vorsichtiger als sonst, denn solange mein Kopf sich nicht ein paar Tage erholt hatte, konnte ich meinem Gleichgewichtssinn noch nicht trauen.

Dennoch schaffte ich es ohne Schwierigkeiten auf das Dach des Wirtshauses, wo ich meine Stiefel auflas. Von dort aus bot die Stadt im Dämmerlicht einen schlimmen Anblick. Die vordere Hälfte der Kirche war vollkommen eingestürzt, und fast ein Drittel der Gebäude hatten etwas von dem Brand abbekommen. Einige Häuser waren nur angesengt, andere aber lagen in Schutt und Asche. Trotz all meiner Anstrengungen musste das Feuer außer Kontrolle geraten sein, als ich bereits bewusstlos war.

Ich sah nach Norden, zum Gipfel des Grausteinhügels, und hoffte dort ein Feuer zu erblicken, aber da war natürlich nichts.

Dann ging ich auf das Flachdach des Rathauses hinüber und stieg die Leiter zu dem Regenwasserspeicher hinauf. Er war fast leer. Auf dem Grund stand noch gut ein Meter Wasser, weit unterhalb der Stelle, an der ich mit meinem Taschenmesser das Schindelstück befestigt hatte. Das erklärte, wie es der Stadt ergangen war. Als der Wasserspiegel unter mein improvisiertes Sygaldriestück gesunken war, waren die Brände wieder aufgeflammt. Doch hatte ich immerhin den Ablauf der Ereignisse verlangsamen können. Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre jetzt womöglich überhaupt nichts mehr von der ganzen Stadt übrig.

Im Wirtshaus hatten sich zahlreiche trübsinnig blickende, rußgeschwärzte Gestalten zum Trinken und Tratschen eingefunden. Mein verdrießlicher Freund war nirgends zu sehen, aber am Tresen hatte sich ein Pulk von Leuten versammelt, die erregt über etwas debattierten, das dort zu sehen war.

Der Bürgermeister und der Wachtmeister waren ebenfalls da. Sofort, als sie mich sahen, schnappten sie mich und gingen mit mir auf ein Zimmer, um mit mir zu sprechen.

Ich war eher einsilbig und hatte miserable Laune, und nach den Ereignissen der vergangenen Tage konnten mich zwei dickbäuchige alte Männer auch nicht mehr nennenswert einschüchtern. Sie merkten das bald, und es machte sie nervös. Ich hatte Kopfschmerzen und keine Lust, mich zu erklären, und das beklommene Schweigen machte mir überhaupt nichts aus. So waren hauptsächlich sie es, die die Unterhaltung bestritten, und indem sie ihre eigenen Fragen beantworteten, erzählten sie schließlich mir das meiste, was ich wissen wollte.

Es hatte in der Stadt zum Glück nur wenige Verletzte gegeben. Weil Erntedankfest war, wurde niemand im Schlaf von den Flammen überrascht. Viele Leute hatten Prellungen davongetragen oder sich die Haare versengt, und viele hatten mehr Rauch eingeatmet, als ihnen bekommen war, doch einmal abgesehen von einigen wenigen schweren Verbrennungen und dem schon erwähnten Jungen, dem ein herabfallender Balken den Arm gebrochen hatte, hatte es offenbar mich selbst am Schlimmsten getroffen.

Darüber, dass es sich bei dem Draccus um einen Dämon handelte, waren sie sich absolut sicher. Ein riesiger, schwarze Dämon, der Feuer und Gift spie. Wenn es daran auch nur den leisesten Zweifel gegeben hatte, hatte sich dieser erledigt, als das Untier von Tehlus Eisenrad erschlagen worden war.

Man war sich auch einig, dass dieses dämonische Untier für die Zerstörung der Mauthen Farm verantwortlich war. Keine ganz abwegige Schlussfolgerung, wenn auch grundfalsch. Doch der Versuch, sie von etwas anderem zu überzeugen, wäre Zeitverschwendung gewesen.

Man hatte mich bewusstlos auf dem Eisenrad gefunden, das den Dämon erschlagen hatte. Der örtliche Knochenklempner hatte mich verarztet, so gut er konnte, und da er von meiner bemerkenswerten Dickschädeligkeit nichts wusste, hatte er ernsthafte Zweifel geäußert, ob ich jemals wieder aufwachen würde.

Zunächst hatte man allgemein angenommen, ich hätte einfach nur das Pech gehabt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, und es sei mir irgendwie gelungen, das Rad von dem Kirchenportal herunterzuhebeln. Doch meine wundersame Genesung und die Geschichte, dass ich im Schankraum ein Loch in den Tresen gebrannt hatte, brachte die Leute dazu, auf das zu hören, was ein kleiner Junge und eine alte Witwe schon den ganzen Tag behauptet hatten: Als die alte Eiche in Flammen aufgegangen war, hätten sie im Licht des Feuerscheins jemanden auf dem Dach der Kirche stehen sehen. Und er hätte die Arme vor sich ausgestreckt, fast als betete er …

Dem Bürgermeister und dem Wachtmeister fiel schließlich nichts mehr ein, was sie noch sagen konnten, um die Stille zu füllen, und sie saßen nur noch da und blickten betreten vor sich hin.

Mir wurde klar, dass sie keinen mittellosen, abgerissenen Jungen vor sich sahen, sondern eine geheimnisvolle Gestalt, die einen Dämon getötet hatte. Und es gab keinen Grund für mich, sie davon abzubringen. Ja, es war höchste Zeit, dass ich von dieser ganzen Sache ein wenig profitierte. Wenn sie mich für einen Helden oder Heiligen hielten, stärkte das meine Position ungemein.

»Was habt ihr mit dem Körper des Dämons gemacht?«, fragte ich und sah, wie sie aufatmeten. Bis dahin hatte ich kaum ein Dutzend Worte gesprochen und auf die meisten ihrer zaghaft vorgebrachten Fragen mit grimmigem Schweigen reagiert.

»Da müsst Ihr Euch keine Sorgen machen, Sir«, erwiderte der Wachtmeister. »Uns war klar, was wir damit machen mussten.«

Mir krampfte sich der Magen zusammen, und ich kannte die Antwort schon, bevor sie es mir erzählten: Sie hatten ihn verbrannt und vergraben. Dieses Wesen war ein Wunder der Natur, und sie hatten es wie Unrat verbrannt und vergraben. Ich kannte an der Universität Naturkundler, die beide Hände dafür hergegeben hätten, um dieses seltene Geschöpf erforschen zu dürfen. Und ich hatte sogar insgeheim gehofft, dass diese Leute, wenn ich ihnen diese einmalige Gelegenheit verschaffte, mir dabei helfen würden, wieder Zugang zur Bibliothek zu erlangen.

Und dann die Schuppen und die Knochen. Hunderte Pfund organisches Eisen, um das sich die Alchemisten geprügelt hätten …

Der Bürgermeister nickte beflissen und sagte in einem singenden Tonfall: »Hebt ein Loch aus, 's ist nicht schwer. Zehn Fuß längs und zwei Fuß quer. Esche, Ulme, Vogelbeer’ –.« Er räusperte sich. »Das Loch musste natürlich größer werden. Wir haben alle abwechselnd gegraben, um es so schnell wie möglich zu erledigen.« Er hob die Hände und zeigte stolz seine Blasen.

Ich schloss die Augen und kämpfte gegen den Drang an, Kleinholz aus diesem Zimmer zu machen und die beiden in mindestens acht Sprachen zu verfluchen. Darum war die Stadt immer noch in einem so traurigen Zustand. Die Einwohner waren vollauf damit beschäftigt gewesen, ein Tier zu verbrennen und zu vergraben, das so viel wert war wie das Lösegeld für einen König.

Doch daran ließ sich nun nichts mehr ändern. Ich zweifelte, dass mein eben gewonnener Ruf mich geschützt hätte, wenn sie mich dabei erwischt hätten, wie ich es wieder ausgrub. »Das Mädchen, das die Hochzeit der Mauthens überlebt hat«, sagte ich. »Hat man sie heute hier gesehen?«

Der Bürgermeister sah den Wachtmeister fragend an. »Nicht dass ich wüsste«, sagte der. »Glaubt Ihr, dass sie etwas mit dem Untier zu tun hat?«

»Was?« Die Frage war so absurd, dass ich sie erst gar nicht verstand. »Nein! Jetzt macht euch doch nicht lächerlich!« Ich funkelte sie an. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Denna in diese ganze Sache hineingezogen wurde. »Sie hat mir bei meiner Arbeit geholfen«, sagte ich vorsichtig und bewusst vieldeutig.

Der Bürgermeister warf dem Wachtmeister einen wütenden Blick zu und wandte sich dann wieder an mich. »Ist Eure … Arbeit hier nun abgeschlossen?«, fragte er ängstlich, so als fürchtete er, mich zu kränken. »Ich will mich ganz gewiss nicht in Eure Angelegenheiten einmischen … aber …« Er fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Warum ist das alles geschehen? Und sind wir jetzt in Sicherheit?«

»So weit es in meiner Macht steht, seid ihr in Sicherheit«, sagte ich vieldeutig, und es klang ziemlich heroisch. Wenn ein gewisser Ruf das einzige war, was bei dieser Sache für mich heraussprang, konnte ich auch dafür sorgen, dass es die richtige Art von Ruf war.

Dann kam mir eine Idee. »Damit ich mir hinsichtlich eurer Sicherheit Gewissheit verschaffen kann, brauche ich nur eines«, sagte ich, beugte mich auf meinem Stuhl vor und faltete die Hände. »Ich muss wissen, was Mauthen auf dem Barrow Hill ausgegraben hat.«

Sie sahen einander an. Wahrscheinlich dachten sie: Woher weiß er davon?

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und verkniff es mir zu grinsen wie ein Kater in einem Taubenschlag. »Wenn ich weiß, was Mauthen dort oben gefunden hat, kann ich etwas unternehmen, das sicherstellt, dass so etwas nicht noch einmal geschieht. Ich weiß, es war ein Geheimnis, aber irgend jemand hier in der Stadt muss es doch wissen. Sagt es allen weiter. Jeder, der etwas darüber weiß, soll zu mir kommen und es mir erzählen.«

Dann erhob ich mich und gab acht, mir die diversen Schmerzen, die ich dabei hatte, nicht anmerken zu lassen. »Aber sie sollen sich beeilen. Ich reise morgen Abend ab. Ich habe im Süden dringende Geschäfte zu erledigen.«

Dann rauschte ich zur Tür hinaus, und mein Umhang bauschte sich dramatisch hinter mir. Ich bin eben ein gelernter Schauspieler und weiß, wie man einen eindrucksvollen Abgang hinlegt.

Den nächsten Tag verbrachte ich damit, gut zu essen und in einem weichen Bett vor mich hin zu dösen. Ich nahm ein Bad, kümmerte mich um meine diversen Verletzungen und ruhte mich verdientermaßen aus. Einige Leute kamen und erzählten mir, was ich eh schon wusste. Mauthen hatte Steine von einem Hügelgrab ausgegraben und war auf etwas gestoßen, das dort vergraben lag. Was war es? Irgendetwas. Niemand wusste etwas Genaueres.

Ich saß neben meinem Bett und spielte gerade mit dem Gedanken, ein Lied über den Draccus zu schreiben, als es an der Tür klopfte, so zaghaft und leise, dass ich es fast nicht gehört hätte. »Herein.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Ein junges Mädchen, es war etwa dreizehn, spähte ängstlich herein, huschte dann ins Zimmer und schloss hinter sich leise die Tür. Sie hatte lockiges, mattbraunes Haar und ein blasses Gesicht mit zwei roten Flecken auf den Wangen. Ihre Augen lagen tief und waren dunkel, so als hätte sie geweint oder in letzter Zeit nicht viel Schlaf bekommen oder beides.

»Ihr wolltet wissen, was Mauthen ausgegraben hat?« Sie sah mich an, wandte dann den Blick schnell wieder ab.

»Wie heißt du?«, fragte ich freundlich.

»Verainia Greyflock«, erwiderte sie pflichtbewusst, machte einen Knicks und blickte zu Boden.

»Das ist aber ein schöner Name«, sagte ich. »Eine Verian ist eine kleine rote Blume.« Ich lächelte und versuchte ihr die Befangenheit zu nehmen. »Hast du schon einmal eine gesehen?« Sie schüttelte den Kopf, den Blick immer noch zu Boden gewandt. »Aber ich schätze mal, niemand nennt dich Verainia, oder? Nennt man dich Nina?«

Da sah sie mich an. Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf ihrem vergrämten Gesicht. »Meine Oma nennt mich so.«

»Komm, setz dich, Nina.« Ich wies mit einer Kopfbewegung auf das Bett, das die einzige andere Sitzgelegenheit im Zimmer war.

Sie nahm Platz und nestelte nervös mit den Händen auf dem Schoß herum. »Ich habe es gesehen. Das Ding, das sie da ausgegraben haben.« Sie sah mich an und blickte dann wieder auf ihre Hände hinab. »Jimmy, der jüngste Sohn von Mauthen, hat es mir gezeigt.«

Mein Herz schlug schneller. »Was war es?«

»Es war ein großes, buntes Gefäß«, sagte sie leise. »So hoch ungefähr.« Sie hielt ihre Hand etwa einen Meter über den Boden. Ihre Hand zitterte. »Und es waren alle möglichen Schriften und Bilder drauf. Ganz bunt. Farben, wie ich sie noch nie gesehen habe. Und einige Farben haben geglänzt, als wären sie aus Silber oder Gold.«

»Und was war auf den Bildern?«, fragte ich und gab mir große Mühe, ruhig zu wirken.

»Leute«, sagte sie. »Hauptsächlich Leute. Da war eine Frau, die hatte ein zerbrochenes Schwert in der Hand, und ein Mann, der neben einem toten Baum stand, und ein anderer Mann, dem gerade ein Hund ins Bein biss …« Sie verstummte.

»War da auch ein Mann mit weißem Haar und schwarzen Augen?«

Sie sah mich mit großen Augen an und nickte. »Der hat mir einen furchtbaren Schrecken eingejagt«, sagte sie und schauderte.

Die Chandrian. Es war eine Vase, auf der die Chandrian und ihre Zeichen abgebildet waren.

»Fällt dir zu diesen Bildern noch etwas ein?«, fragte ich. »Lass dir ruhig Zeit. Denk genau nach.«

Sie überlegte. »Da war ein Mann ohne Gesicht. Der hatte eine Kapuze, unter der nichts war. Vor ihm lag ein Spiegel, und über ihm waren ein paar Monde. Vollmond, Halbmond, Viertelmond …« Sie senkte den Blick und überlegte. »Und da war eine Frau …« Sie wurde rot. »Die hatte nicht viel an.«

»Fällt dir sonst noch etwas ein?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Und was waren das für Inschriften?«

»Das waren alles fremde Schriftzeichen. Das konnte ich nicht lesen.«

»Glaubst du, du könntest es zeichnen, was du da gesehen hast?«

Sie schüttelte erneut den Kopf. »Ich habe es nur ganz kurz gesehen«, sagte sie. »Jimmys Vater hätte uns eine gehörige Tracht Prügel verpasst, wenn er uns erwischt hätte.« Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. »Kommen jetzt die Dämonen, um mich zu holen, weil ich das gesehen habe?«

Ich schüttelte den Kopf, aber sie brach trotzdem in Tränen aus. »Ich habe solche Angst, seit das mit den Mauthens passiert ist«, schluchzte sie. »Ich habe so schlimme Träume. Ich weiß, dass sie kommen werden, um mich zu holen.«

Ich setzte mich neben sie aufs Bett und legte tröstend einen Arm um sie. »Dir wird nichts geschehen. Gar nichts.«

Sie sah mich an. Sie weinte zwar nicht mehr, aber in ihren Augen sah ich, dass sie immer noch schreckliche Angst hatte. Auch mit noch so viel freundlichem Zureden würde ich sie nicht beruhigen können.

Ich stand auf und ging zu meinem Umhang. »Ich möchte dir etwas schenken«, sagte ich und griff in eine der vielen Taschen. Ich zog ein Bauteil für eine Sympathielampe hervor, an der ich im Handwerkszentrum gearbeitet hatte, eine glänzende Metallscheibe, die auf einer Seite kunstvoll mit sygaldrischen Zeichen verziert war.

Ich brachte es ihr. »Diesen Talisman habe ich aus Veloran. Das ist weit weg, noch hinter dem Stormwall-Gebirge. Es ist der beste Talisman gegen Dämonen, den es gibt.« Ich nahm ihre Hand und legte ihn hinein.

Nina betrachtete den Talisman und sah dann wieder mich an. »Aber braucht Ihr den nicht selbst?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe andere Mittel, um mich zu schützen.«

Sie schloss fest die Hand darum, und Tränen liefen ihr über die Wangen. »Oh, vielen, vielen Dank. Den werde ich jetzt immer bei mir haben.« Ihre Handknöchel waren ganz weiß vom Festhalten.

Sie würde ihn verlieren. Nicht bald, aber in einem Jahr oder in zwei oder zehn. Das war nur menschlich. Und wenn das geschah, würde sie schlimmer dran sein als zuvor.

»Das ist nicht nötig«, sagte ich. »Komm, ich zeige dir, wie es geht.« Ich nahm ihre Hand, die das Metallstück umklammert hielt, und legte meine Hand darum. »Mach die Augen zu.«

Nina schloss die Augen, und ich rezitierte langsam die ersten zehn Verse aus Ve Valora Sartane. Das war natürlich nicht sehr passend, aber etwas Besseres fiel mir in dem Moment nicht ein. Tema ist eine Sprache mit einem beeindruckenden Klang, zumal wenn man einen so schönen, dramatischen Bariton hat wie ich.

Als ich geendet hatte, öffnete sie die Augen. Sie waren von Staunen erfüllt, nicht mehr von Tränen.

»Jetzt ist er auf dich eingerichtet«, sagte ich. »Jetzt wird er dich, ganz egal, wo er gerade ist, immer beschützen. Jetzt könntest du ihn sogar zerbrechen oder einschmelzen – der Schutz des Talismans würde immer noch wirken.«

Sie schlang die Arme um mich und küsste mich auf die Wange. Dann wurde sie rot und stand schnell auf. Ihr Gesicht war nun nicht mehr blass und vergrämt, und ihre Augen strahlten. Bis dahin war mir gar nicht aufgefallen, wie hübsch sie eigentlich war.

Bald darauf ging sie, und ich saß noch eine Zeitlang auf meinem Bett und dachte nach.

Innerhalb eines Monats hatte ich eine Frau aus einer Flammenhölle gerettet. Ich hatte Blitze auf zwei Mordgesellen herabbeschworen und war ihnen entkommen. Und ich hatte ein Wesen getötet, das entweder ein Drache oder ein Dämon war, je nachdem, welchen Standpunkt man einnahm.

Doch dort in diesem Zimmer kam ich mir zum ersten Mal tatsächlich ein wenig wie ein Held vor. Wenn ihr nach einem Grund dafür sucht, dass ich der Mann wurde, der ich bin, wenn ihr nach einem Anfang sucht, dann sucht dort.

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