Kapitel 72

Borrorill

Als Denna ihr Zimmer verließ, ging sie nach links, nicht nach rechts zum Ausgang. Erst dachte ich, sie hätte die Orientierung verloren, doch als wir zu einer Hintertreppe kamen, wurde mir klar, dass sie das Wirtshaus verlassen wollte, ohne durch den Schankraum zu gehen. Wir fanden den Hinterausgang, aber er war fest verschlossen.

Wir versuchten also doch vorne hinauszugehen. Als wir den Schankraum betraten, war deutlich zu spüren, wie sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns richtete. Denna ging schnurstracks auf den Ausgang zu, nicht schnell, aber so unaufhaltsam wie eine Gewitterwolke.

Als wir fast an der Türe waren, rief der Wirt: »He! Hiergeblieben!«

Dennas Blick glitt zur Seite. Ihr Mund wurde zu einem schmalen Strich, und sie ging weiter, als ob sie nichts gehört hätte.

»Ich kümmere mich darum«, sagte ich leise. »Warte auf mich. Ich komme gleich nach.«

Ich ging auf den Wirt zu, der immer noch mit grimmiger Miene dastand. »Dann ist sie also deine Kusine?«, fragte er. »Hat der Wachtmeister denn gesagt, dass sie gehen kann?«

»Ich dachte, Ihr wolltet nichts damit zu tun haben«, erwiderte ich.

»Das will ich auch nicht. Aber sie hatte hier ein Zimmer, und sie hat zu essen bekommen, und ich habe den Arzt kommen lassen, der sie wieder zusammengeflickt hat.«

Ich musterte ihn mit kühlem Blick.

»Wenn es in dieser Stadt einen Arzt gibt, der auch nur halbwegs etwas taugt, bin ich der König von Vint.«

»Insgesamt ist ein halbes Talent offen«, beharrte er. »Verbandszeug gibt’s nicht umsonst, und ich habe eine Frau an ihrem Bett wachen lassen, bis sie wieder zu sich gekommen ist.«

Ich bezweifelte stark, dass auch nur halb so viel Geld zu verlangen war, wollte aber auch keine Scherereien mit dem Wachtmeister. Und vor allem wollte ich nicht aufgehalten werden. Wie ich Denna kannte, musste ich mir Sorgen machen, dass sie, wenn ich sie länger als eine Minute aus den Augen ließ, verschwunden wäre wie der Morgennebel.

Ich nahm fünf Jots aus meinem Geldbeutel und warf sie auf den Tresen. »Aus dem Unglück anderer Leute Profit schlagen … Feine Sitten sind das«, bemerkte ich bissig und ging hinaus.

Ich war sehr erleichtert, als ich Denna draußen warten sah. Sie lehnte an einem Pfahl, hatte die Augen geschlossen und das Gesicht der Sonne zugewandt. Als sie mich kommen hörte, seufzte sie zufrieden und drehte sich zu mir um.

»War es so schlimm?«, fragte ich.

»Erst waren sie noch ganz nett«, erwiderte Denna und hob die bandagierten Arme. »Aber dann ist immer wieder diese alte Frau ins Zimmer gekommen.« Sie runzelte die Stirn und strich sich das lange schwarze Haar aus dem Gesicht. Dabei kam der Bluterguss zum Vorschein, der sich von der Schläfe bis zum Haaransatz erstreckte. »Du kennst den Typ: So eine verkniffene alte Jungfer mit einem Mund, der aussieht wie ein Katzenpo.«

Ich lachte laut auf, und Dennas Lächeln war wie die Sonne, die hinter einer Wolke hervorlugt. Dann verdüsterte sich ihre Miene wieder. »Sie hat mich immer so angeschaut. Als wäre es unanständig von mir, dass ich nicht zusammen mit den anderen ums Leben gekommen bin. So als wäre ich an allem Schuld.«

Denna schüttelte den Kopf. »Aber die alten Männer waren noch schlimmer. Der Wachtmeister hat mir eine Hand aufs Bein gelegt.« Sie schauderte. »Sogar der Bürgermeister war da und hat ganz besorgt getan. Dabei wollte er mich in Wirklichkeit bloß aushorchen. ›Was hast du da gemacht? Was ist passiert? Was hast du gesehen …?‹«

Die Verachtung, mit der sie das sagte, führte dazu, dass ich meine eigenen Fragen, die mir schon auf der Zunge lagen, ganz schnell wieder hinunterschluckte. Fragen zu stellen entspricht meinem Naturell, und der Sinn und Zweck dieses ganzen Gewaltritts hatte schließlich darin bestanden, aufzuklären, was geschehen war. Doch Dennas Tonfall ließ erkennen, dass sie im Moment keine Fragen beantworten wollte.

Ich richtete den Trageriemen meines Reisesacks, und da fiel mir plötzlich etwas ein. »Warte mal. Deine Sachen. Die sind alle noch in deinem Zimmer.«

Denna zögerte nur einen Wimpernschlag lang. »Ich glaube nicht, dass ich irgendwelche Sachen da hatte«, sagte sie, als hätte sie überhaupt noch nicht daran gedacht.

»Willst du nicht vielleicht doch zurückgehen und nachsehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss fort, hier bin ich nicht willkommen«, sagte sie trocken. »Alles weitere ergibt sich unterwegs.«

Denna ging die Straße hinab, und ich schloss mich ihr an. Sie bog in eine schmale Seitenstraße, die in Richtung Westen führte. Wir kamen an einer alten Frau vorbei, die gerade einen aus Hafergarben gefertigten Butzemann aufhängte. Er trug einen Strohhut und eine Hose aus Sackleinen. »Wohin gehen wir?«, fragte ich.

»Ich muss nachsehen, ob meine Sachen noch auf der Mauthen-Farm sind«, erwiderte Denna. »Danach können wir weitersehen. Wohin wolltest du denn, bevor du mich gefunden hast?«

»Ehrlich gesagt, war ich selber zur Mauthen-Farm unterwegs.«

Sie sah mich von der Seite an. »Gut. Sie liegt nur etwa eine Meile außerhalb der Stadt. Wenn wir dort ankommen, steht die Sonne noch hoch am Himmel.«

Das Land rings um Trebon besteht größtenteils aus dichten Wäldern, die hin und wieder von felsigem Gelände unterbrochen sind. Wir kamen um eine Wegbiegung und erblickten kleine, goldene Weizenfelder, gesäumt von Bäumen und dunklen Steilhängen. Die Bauern und Landarbeiter, die dort die Ernte einbrachten, waren über und über mit Spreu bedeckt, und ihren Bewegungen sah man eine Erschöpfung an, die sich aus dem Wissen speiste, dass das halbe Tagewerk noch vor ihnen lag.

Wir waren erst ein paar Minuten gegangen, als ich hinter uns Hufgetrappel hörte. Ich blickte mich um und sah einen kleinen, offenen Karren die Straße heraufkommen. Denna und ich wichen ins Gestrüpp aus, denn die Straße war kaum breit genug für den Karren. Auf dem Bock saß ein abgehärmter Bauer tief über die Zügel gebeugt und beäugte uns argwöhnisch.

»Wir wollen zur Mauthen-Farm«, rief Denna, als er näher kam. »Dürfen wir vielleicht mitfahren?«

Der Mann blickte missmutig drein und wies dann mit einer Kopfbewegung auf das Heck seines Karrens.

»Ich fahre aber nur bis zum Borrorill. Von da müsst ihr alleine weiter.«

Wir setzten uns hinten auf die Ladefläche und ließen die Füße baumeln. Dabei kamen wir zwar nicht viel schneller voran als zu Fuß, aber es war angenehm, sich zur Abwechslung ein wenig kutschieren zu lassen.

So fuhren wir schweigend dahin. Denna war offensichtlich nicht dazu aufgelegt, sich zu unterhalten, solange der Bauer mithören konnte, und ich war froh über die Gelegenheit zum Nachdenken. Ich hatte vorgehabt, alle möglichen Lügen aufzutischen, um den Zeugen Informationen zu entlocken. Mit Denna war alles viel komplizierter. Ich wollte sie nicht belügen, konnte aber auch nicht riskieren, ihr allzu viel zu erzählen. Auf keinen Fall wollte ich mit wilden Geschichten über die Chandrian bei ihr den Eindruck erwecken, dass ich völlig übergeschnappt sei.

Und so fuhren wir schweigend dahin. Es war schön, ihr einfach nur nah zu sein. Man sollte meinen, dass ein Mädchen mit einem Bluterguss im Gesicht nicht schön sein kann, aber Denna war es. Sie war so schön wie der Mond: vielleicht nicht makellos, aber vollkommen.

Da riss mich der Bauer aus meinen Gedanken. »Hier ist der Borrorill.«

Ich hatte angenommen, dass der Name einen Bach bezeichnete. Doch als ich mich umsah, konnte ich kein Gewässer entdecken. Das war schade, denn ich hätte gern etwas getrunken und mich notdürftig gewaschen. Nach dem stundenlangen Ritt war ich verschwitzt und roch nach Pferd.

Wir dankten dem Bauer und stiegen ab. Dann führte mich Denna auf einem gewundenen Pfad den Hügel hinauf, zwischen Bäumen und hin und wieder dunklen Felsen hindurch. Sie ging schon sicherer als vorher noch, als wir das Wirtshaus verlassen hatten, behielt aber beim Gehen den Weg fest im Blick und setzte ihre Schritte mit Bedacht, so als traue sie ihrem Gleichgewichtssinn noch nicht ganz.

Plötzlich fiel mir etwas ein. »Ich habe deinen Brief bekommen«, sagte ich und zog das zusammengefaltete Blatt aus einer Umhangtasche. »Wann hast du ihn denn hinterlegt?«

»Das ist schon fast zwei Spannen her.«

Ich verzog das Gesicht. »Ich habe ihn erst heute Nacht entdeckt.«

Sie nickte. »Das habe ich fast befürchtet, als du nicht gekommen bist. Ich dachte, er wäre vielleicht rausgerutscht oder feucht geworden, so dass er nicht mehr lesbar war.«

»In letzter Zeit bin ich nicht mehr durch das Fenster gestiegen«, erklärte ich.

Denna zuckte die Achseln. »Es war auch wirklich dumm von mir anzunehmen, dass du das immer machst.«

Ich überlegte, wie ich ihr die Szene erklären sollte, die sie möglicherweise mitangesehen hatte, als Fela mir im Eolian den Umhang geschenkt hatte. Mir wollte aber nichts einfallen. So sagte ich: »Es tut mir leid, dass ich nicht zu unserer Verabredung zum Mittagessen gekommen bin.«

Denna hob belustigt den Blick. »Deoch erzählte mir, du seist in einen Brand hineingeraten oder so. Er sagte, du hättest absolut erbärmlich ausgesehen.«

»Ja, es ging mir wirklich erbärmlich«, sagte ich. »Aber das lag weniger an dem Brand und mehr daran, dass ich dich verpasst habe …«

Sie verdrehte die Augen. »Ja, du warst bestimmt völlig verzweifelt«, sagte sie sarkastisch. »Aber du hast mir damit gewissermaßen auch einen Gefallen getan. Denn als ich dort saß … so ganz allein … und mich vor Sehnsucht nach dir verzehrte …«

»Ich sage doch, es tut mir leid.«

»… hat sich mir ein älterer Edelmann vorgestellt. Wir haben uns unterhalten und haben uns ein wenig kennengelernt …« Sie zuckte die Achseln und sah mich beinahe verschämt von der Seite an. »Seitdem haben wir uns öfter wiedergesehen. Und wenn es weiter so gut läuft, wird er wohl noch vor Jahresende mein Mäzen sein.«

»Tatsächlich?«, sagte ich und empfand eine große Erleichterung. »Das ist ja wunderbar! Und hochverdient! Wer ist er denn?«

Sie schüttelte den Kopf, und ihr langes dunkles Haar verhüllte einen Moment lang ihr Gesicht. »Das darf ich nicht sagen. Er legt sehr großen Wert auf seine Privatsphäre. Über eine Spanne wollte er mir seinen wahren Namen nicht verraten. Und selbst jetzt, da er ihn mir genannt hat, weiß ich nicht, ob er wirklich so heißt.«

»Wenn du nicht weißt, wer er wirklich ist – woher weißt du dann, dass er ein Edelmann ist?«

Das war eine dumme Frage. Die Antwort kannten wir beide, aber sie sprach sie dennoch aus: »Geld, Kleider, Umgangsformen.« Sie zuckte die Achseln. »Und selbst wenn er nur ein reicher Kaufmann wäre, würde er einen guten Mäzen abgeben.«

»Aber keinen sehr guten. Kaufmannsfamilien kommen und gehen …«

»… und die Namen haben nicht das gleiche Gewicht«, schloss Denna mit einem vielsagenden Achselzucken. »Aber lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Und ich bin es leid, nicht einmal einen Spatz zu haben.« Sie seufzte. »Es war harte Arbeit, ihn an Land zu ziehen. Er ist so übervorsichtig … Wir treffen uns nie zweimal am selben Ort und nie in der Öffentlichkeit. Manchmal verabredet er sich mit mir und kommt dann gar nicht. Nicht dass das für mich etwas Neues wäre …«

Denna schwankte, als ein Stein unter ihrem Fuß wegrutschte. Ich streckte die Hände nach ihr aus, und sie hielt sich an meinem Arm und meiner Schulter fest. Einen Moment lang standen wir eng beieinander, und ich war mir nur allzu bewusst, dass ihr Körper meinen berührte, während sie sich bemühte, ihr Gleichgewicht wieder zu finden.

Ich stützte sie, und dann lösten wir uns wieder voneinander. Aber sie behielt eine Hand auf meinem Arm. Ich bewegte mich ganz vorsichtig, als wäre ein wilder Vogel dort gelandet und als wollte ich unbedingt verhindern, dass er wieder auffliegt.

Ich überlegte, ob ich einen Arm um sie legen sollte, um sie zu stützen, und auch noch aus näherliegenden Gründen. Doch dann verwarf ich den Gedanken wieder. Ich erinnerte mich noch zu gut daran, wie ihre Augen gefunkelt hatten, als sie erzählte, dass der Wachtmeister ihr Bein berührt hatte. Was, wenn sie auf meine Berührung ähnlich reagierte?

Die Männer umschwärmten Denna, und ich wusste aus unseren Gesprächen, wie lästig ihr das war. Die Vorstellung, dass ich womöglich die gleichen Fehler beging wie die anderen, war mir unerträglich, einfach nur, weil ich es nicht besser wusste. Lieber ihr nicht zu nahe treten, lieber auf Nummer Sicher gehen. Wie ich schon gesagt habe – es gibt einen große Unterschied zwischen Furchtlosigkeit und Tapferkeit.

Wir gingen weiter den gewundenen Pfad den Hügel hinauf. Es war still, man hörte nur den Wind im hohen Gras.

»Dann ist er also ein großer Heimlichtuer, ja?«, sagte ich, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

»Heimlichtuer ist noch viel zu harmlos ausgedrückt«, erwiderte Denna und verdrehte die Augen. »Einmal hat mir eine Frau Geld für Informationen über ihn geboten. Ich habe mich dumm gestellt, und als ich ihm später davon erzählte, sagte er, er habe mich damit auf die Probe stellen wollen, um zu sehen, ob er mir trauen könne. Ein andermal haben mich einige Männer bedroht. Das hatte vermutlich ähnliche Gründe.«

Der Mann war mir nicht ganz geheuer. Vielleicht war er auf der Flucht vor dem Gesetz oder versteckte sich vor seiner Familie. Das wollte ich gerade sagen, doch ich merkte, dass Denna mich ängstlich anblickte. Sie machte sich offenbar Sorgen, ich könnte schlecht von ihr denken, weil sie sich den Launen eines paranoiden Adligen fügte.

Ich dachte an mein Gespräch mit Deoch. So schwer mein Los auch sein mochte, ihres war zweifellos schwerer. Auf was würde ich mich alles einlassen, wenn ich die Chance bekäme, einen mächtigen Adligen als Mäzen zu gewinnen? Was würde ich alles erdulden, um jemanden zu finden, der mir Geld für neue Lautensaiten gab, sich darum kümmerte, dass ich gut gekleidet und genährt war, und der mich vor fiesen Typen wie Ambrose beschützte?

So verkniff ich mir meine Bemerkungen und lächelte sie nur vielsagend an. »Na, dann hoffe ich mal, dass er so reich ist, dass sich die Mühe lohnt«, sagte ich.

Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, und ich spürte ihre Erleichterung, dass ich sie nicht verurteilte. »Nun, das wäre schon zu viel verraten, nicht wahr?« Ihr Blick aber sagte: Ja, das ist er.

»Er ist auch der Grund, warum ich hier bin«, fuhr sie fort. »Er hat mich gebeten, auf dieser Hochzeit aufzutreten. Es ist hier zwar viel dörflicher, als ich erwartet hatte, aber …« Sie zuckte erneut die Achseln, ein wortloser Kommentar zu den nicht zu durchschauenden, launenhaften Wünschen des Adels. »Ich hatte erwartet, … meinen zukünftigen Gönner hier zu treffen.«

Ich merkte, dass ihr um ein Haar sein Name herausgerutscht wäre. »Überleg dir doch einfach einen Decknamen für ihn«, schlug ich vor.

»Such du einen aus. Sie bringen euch an der Universität doch alles Mögliche über Namen bei, nicht wahr?«

»Annabelle«, schlug ich vor.

»Nein«, sagte sie und lachte. »Ich nenne meinen künftigen Beschützer doch nicht Annabelle.«

»Nennen wir ihn Graf Kies.«

»Das wäre despektierlich. Nächster Versuch.«

»Tja, wie wäre es dann mit … Frederick. Frank. Feran. Forue. Fordale …«

Sie schüttelte den Kopf. Wir waren nun endlich auf dem Hügelkamm angelangt, und hier wehte uns der Wind entgegen. Denna stützte sich auf meinen Arm, und ich hob die Hand, um mein Gesicht vor dem ganzen Staub und umherwirbelnden Laub abzuschirmen. Auf einmal wehte mir der Wind ein Blatt direkt in den Mund, so dass ich würgen und husten musste.

Denna fand das ausgesprochen lustig. »Also gut«, sagte ich, als ich mir das Blatt wieder aus dem Mund gezogen hatte. Es war gelb und wie eine Speerspitze geformt. »Der Wind hat es für uns entschieden. Nennen wir ihn Lord Esche.«

»Bist du sicher, dass es nicht eher Lord Ulme heißen müsste?«, fragte sie und betrachtete das Blatt. »Die beiden werden gern verwechselt.«

»Es schmeckt nach Esche«, erwiderte ich.

Sie nickte ernst. »Dann also Esche.«

Als wir den Wald und den Hügelkamm hinter uns ließen, wehte uns eine Böe noch mehr Staub ins Gesicht. Denna ging einen Schritt von mir fort, murmelte etwas und rieb sich die Augen. Die Stelle an meinem Arm, wo ihre Hand gelegen hatte, fühlte sich plötzlich ganz kalt an.

»So ein Pech«, sagte sie und wischte sich übers Gesicht. »Ich habe Spelzen in die Augen bekommen.«

»Das sind keine Spelzen«, sagte ich mit einem Blick über die Hügelkuppe. Keine zwanzig Meter vor uns standen einige verkohlte Ruinen, die früher einmal die Mauthen-Farm gewesen sein mussten. »Das ist Asche.«

Ich führte Denna zu einer Baumgruppe, die uns vor dem Wind schützte und von der aus man die Farm nicht sehen konnte. Ich gab ihr meine Wasserflasche. Dann setzten wir uns auf einen umgestürzten Baumstamm, um uns ein wenig auszuruhen, und sie wusch sich mit dem Wasser die Augen aus.

»Du musst da nicht hingehen«, sagte ich. »Ich könnte nach deinen Sachen suchen, wenn du mir sagst, wo du sie gelassen hast.«

Sie kniff ein wenig die Augen zusammen. »Also wirklich – ist das jetzt rücksichtsvoll oder herablassend?«

»Ich habe keine Ahnung, was du gestern Abend mitbekommen hast. Und daher weiß ich auch nicht, wie viel Rücksichtnahme du brauchst.«

»Mich muss man nicht mit Samthandschuhen anfassen«, erwiderte sie kurz angebunden. »Ich bin kein zartes Pflänzchen.« Sie sah mich streng an, legte dann den Kopf in den Nacken und goss sich noch etwas Wasser über das Gesicht.

»Ich habe nicht viel mitbekommen«, sagte sie und tupfte sich mit dem Ärmel trocken. »Ich bin vor der Trauung aufgetreten, und dann noch einmal kurz vor dem Essen. Ich hatte erwartet, dass …« Sie lächelte matt »… Lord Esche dort auftauchen würde, aber ich wusste, dass ich nicht nach ihm fragen durfte. Das Ganze war wohl wieder mal eine seiner Prüfungen.«

Sie runzelte die Stirn. »Er hat eine bestimmte Methode, mir ein Zeichen zu geben. Etwas, woran ich erkenne, dass er ganz in der Nähe ist. Ich habe mich entschuldigt und ihn dann drüben bei der Scheune getroffen. Wir gingen in den Wald, und er stellte mir alle möglichen Fragen. Wer da sei, wie viele Leute, wie sie aussähen.« Sie sah mich nachdenklich an. »Wenn ich jetzt darüber nachdenke, glaube ich, dass das die eigentliche Prüfung war. Er wollte sehen, wie aufmerksam ich bin.«

»Das klingt ja beinahe so, als wäre er ein Spion«, sagte ich.

Denna zuckte die Achseln. »Wir gingen etwa eine halbe Stunde lang umher und unterhielten uns. Dann hörte er irgendetwas und sagte mir, ich sollte auf ihn warten. Er ging in die Richtung des Farmhauses fort, aber er kam nicht wieder.«

»Wie lange hast du gewartet?«

»Vielleicht zehn Minuten«, sagte sie. »So genau weiß man das schließlich nicht, wenn man auf jemanden wartet. Es war dunkel, und mir war kalt, und ich hatte Hunger.« Sie verschränkte die Arme vor dem Bauch und beugte sich ein wenig vor. »Wie übrigens jetzt wieder. Hätte ich doch bloß …«

Ich zog einen Apfel aus meinem Reisesack und gab ihn ihr. Die Äpfel waren herrlich – knallrot, süß und knackig. Äpfel, von denen man das ganze Jahr lang träumt und die man nur im Herbst für wenige Spannen genießen kann.

Denna sah mich neugierig an. »Ich war früher viel auf Reisen«, erklärte ich und nahm mir selbst auch einen Apfel. »Und ich hatte immer Hunger. Deshalb habe ich auch noch heute immer etwas zu essen dabei. Ich koche dir was Richtiges, wenn wir unser Nachtlager aufschlagen.«

»Kochen kann er also auch …« Sie biss in den Apfel und trank einen Schluck Wasser. »Jedenfalls: Ich dachte, ich hätte Schreie gehört, und deshalb ging ich zurück in Richtung Farm. Und als ich hinter einem Felsen vorkam, hörte ich auch tatsächlich Schreie und Rufe. Als ich noch näher kam, roch ich den Rauch. Dann sah ich zwischen den Bäumen das Feuer.«

»Welche Farbe hatte es?«, fragte ich, mit einem Stück Apfel im Mund.

Denna sah mich an, blickte nun mit einem Mal argwöhnisch. »Warum fragst du?«

»Entschuldige, dass ich dich unterbrochen habe«, sagte ich und schluckte den Bissen hinunter. »Erzähl bitte zu Ende, dann erkläre ich es dir.«

»Ich habe schon sehr viel erzählt«, erwiderte sie. »Und du hast noch mit keinem Wort erwähnt, was dich überhaupt in diese abgelegene Gegend verschlagen hat.«

»Die Meister der Universität haben seltsame Gerüchte gehört und mich hergeschickt, damit ich herausfinde, ob an ihnen etwas dran ist«, sagte ich. Ich log, ohne mit der Wimper zu zucken. Dabei hatte ich gar nicht vorgehabt zu lügen, es rutschte mir einfach so heraus. Innerhalb eines Augenblicks entschied ich, dass ich es nicht riskieren konnte, ihr die Wahrheit über meine Suche nach den Chandrian zu erzählen. Ich hätte es nicht ertragen, wenn Denna mich für verrückt gehalten hätte.

»So was machen die von der Universität?«, fragte sie. »Ich dachte, ihr hockt da alle bloß rum und lest Bücher.«

»Manche von uns«, sagte ich. »Aber wenn wir von eigenartigen Gerüchten erfahren, muss einer los und herausfinden, was tatsächlich dahinter steckt. Denn wenn die Leute abergläubisch werden, nehmen sie sofort die Universität aufs Korn und denken: Wer beschäftigt sich denn mit dunklen Mächten, an die man besser nicht rühren sollte? Wen sollten wir denn mal auf einen schönen großen Scheiterhaufen werfen?«

»So was treibst du also?«, fragte sie und machte mit ihrem halb verspeisten Apfel eine Geste. »Ermittlungen anstellen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Einer der Meister hat mich auf dem Kieker. Und der hat dafür gesorgt, dass ich diesen kleinen Ausflug unternehmen musste.«

Keine schlechte Lüge, wenn man bedenkt, dass ich sie einfach so aus dem Ärmel schüttelte. Sie hätte sogar standgehalten, wenn Denna ein wenig nachgebohrt hätte, denn zum Teil stimmte es ja. Wenn es nötig ist, bin ich ein ausgezeichneter Lügner. Das ist zwar nicht gerade die edelste aller Fertigkeiten, sie kann aber sehr nützlich sein. Es hat viel mit Schauspielerei und Geschichtenerzählen zu tun, und ich habe das von meinem Vater gelernt, der in allen drei Disziplinen ein Meister war.

»Du erzählst mir hier doch einen vom Pferd«, sagte Denna ganz sachlich.

Ich erstarrte. Ich hatte gerade in den Apfel gebissen. Nun nahm ich ihn wieder aus dem Mund, und weiße Bissspuren blieben in der roten Schale zurück. »Wie bitte?«

Sie zuckte die Achseln. »Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst. Aber denk dir bitte nicht irgendwelche Märchen aus, nur weil du meinst, mich beruhigen oder beeindrucken zu müssen.«

Ich atmete scharf ein, zögerte und atmete langsam wieder aus. »Ich will dir nichts vorlügen, warum ich hier bin«, sagte ich. »Aber ich habe Angst davor, was du von mir denkst, wenn ich dir die Wahrheit sage.«

Dennas dunkle Augen blickten nachdenklich. »Na gut«, sagte sie schließlich und nickte kaum merklich. »Das glaube ich dir.«

Sie biss noch einmal von dem Apfel ab und sah mir, während sie kaute, lange in die Augen. Ihre Lippen waren feucht und röter als der Apfel. »Ich habe Gerüchte gehört«, sagte ich schließlich. »Und ich will wissen, was hier geschehen ist. Das ist im Grunde alles. Ich …«

»Kvothe, es tut mir leid.« Denna seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich hätte dich nicht drängen sollen. Es geht mich ja auch wirklich nichts an. Ich weiß selber, wie es ist, wenn man Geheimnisse hat.«

In diesem Moment hätte ich ihr beinahe alles erzählt. Die ganze Geschichte mit meinen Eltern, den Chandrian und dem Mann mit den schwarzen Augen und dem Lächeln wie aus einem Alptraum. Aber ich hatte Angst, dass es sich wie die verzweifelte Erfindung eines Kindes anhören würde, das sich in einem Lügengespinst verfangen hat. Und so schlüpfte ich stattdessen in die Rolle des Feiglings und schwieg.

»So wirst du nie deine große Liebe finden«, sagte Denna.

»Wie bitte?«

»Du isst das Kerngehäuse mit«, sagte sie belustigt. »Erst isst du drumherum alles weg und dann auch noch das Kerngehäuse, von unten nach oben. Ich habe noch nie gesehen, dass jemand so was macht.«

»Eine alte Angewohnheit von mir«, sagte ich. Ich wollte ihr nicht die Wahrheit gestehen: Dass es in meinem Leben Zeiten gegeben hatte, in denen ich froh war, wenn ich überhaupt das Kerngehäuse einen Apfels abbekam. »Wie hast du das gerade gemeint?«

»Hast du nie dieses Spiel gespielt?« Sie hielt ihr Kerngehäuse in die Höhe, den Stiel zwischen Daumen und Zeigefinger. »Du denkst an einen Buchstaben und drehst den Stiel. Wenn er dran bleibt, denkst du an einen weiteren Buchstaben und drehst noch mal. Und wenn der Stiel abreißt …« Ihrer tat es. »… kennst du den Anfangsbuchstaben von dem Namen desjenigen, in den du dich verlieben wirst.«

Ich sah mir an, was noch von meinem Apfel übrig war – es war zu wenig für dieses Spiel. Ich biss den Rest des Kerngehäuses ab und warf den Stiel fort. »Sieht so aus, als müsste ich ohne Liebe durchs Leben gehen.«

»Ich dachte nämlich immer, die Kerne wären schädlich«, sagte Denna. »Da soll doch Arsen drin sein.«

»Das ist ein Ammenmärchen«, erwiderte ich. Es war eine der Abertausenden von Fragen gewesen, die ich Ben gestellt hatte, als er mit unserer Truppe gereist war. »Es ist kein Arsen. Es ist Zyanid. Und damit es einem schadet, müsste man schon kübelweise Kerne essen.«

»Aha.« Denna betrachtete ihren Apfelrest mit einem abwägenden Blick und begann ihn dann von unten nach oben zu verspeisen.

»Als ich dich unterbrach, wolltest du mir gerade erzählen, was mit Lord Esche geschehen ist«, lenkte ich sie auf das eigentliche Thema zurück.

Denna zuckte die Achseln. »Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Ich sah das Feuer, ging näher heran und hörte Schreie und einen Tumult …«

»Und das Feuer?«

Sie zögerte. »Es war blau.«

Eine düstere Ahnung stieg in mir auf. Ich war aufgeregt, weil ich den Chandrian endlich nahe gekommen war, und gleichzeitig jagte mir der Gedanke, dass ich ihnen nahe war, Angst ein. »Wie sahen sie denn aus, die dich angegriffen haben? Und wie bist du entkommen?«

Denna lachte bitter. »Keiner hat mich angegriffen. Ich sah vor dem Feuer dunkle Gestalten und bin weggerannt, so schnell ich konnte.« Sie hob ihren bandagierten Arm und zeigte auf ihre Schläfe. »Dabei muss ich mit dem Kopf an einen Baum geprallt sein. Ich war bewusstlos. Erst heute Morgen in der Stadt bin ich wieder zu mir gekommen.

Und das ist der zweite Grund, warum ich noch einmal herkommen musste«, fügte sie hinzu. »Ich weiß nicht, ob Lord Esche noch irgendwo hier draußen ist. In der Stadt war nichts davon zu hören, dass noch jemand gefunden worden wäre, aber ich konnte auch nicht gezielt danach fragen. Das hätte die Leute nur misstrauisch gemacht …«

»Und ihm hätte das gar nicht gefallen«, sagte ich.

Denna nickte. »Ich habe keinen Zweifel daran, dass er auch aus dieser Sache eine Prüfung machen wird, die zeigen soll, ob ich den Mund halten kann.« Sie warf mir einen bedeutsamen Blick zu. »Apropos …«

»Ich werde vollkommen überrascht sein, wenn wir jemanden finden«, sagte ich. »Sei unbesorgt.«

Sie lächelte nervös. »Danke. Ich hoffe bloß, er ist noch am Leben.« Sie trank noch einen Schluck aus meiner Wasserflasche und gab sie mir dann zurück. »Komm, wir sehen, ob wir etwas finden.«

Denna erhob sich. Sie wirkte noch nicht ganz sicher auf den Beinen. Während ich die Wasserflasche in meinen Reisesack steckte, beobachtete ich sie aus dem Augenwinkel. Ich studierte nun schon fast ein Jahr lang an der Mediho. Denna hatte einen Schlag auf die linke Schläfe abbekommen, der so heftig gewesen war, dass ein blaues Auge und ein Bluterguss bis hinter den Haaransatz zurückgeblieben waren. Ihr rechter Arm war bandagiert, und aus der Art, wie sie sich bewegte, schloss ich, dass sie auch an der linken Seite Prellungen davongetragen hatte, wenn nicht gar ein paar Rippen gebrochen waren.

Wenn sie tatsächlich gegen einen Baum gelaufen war, musste das ein seltsamer Baum gewesen sein.

Trotzdem sprach ich es nicht an.

Wie sollte ich? Ich wusste ja schließlich selbst, wie es ist, wenn man Geheimnisse hat.

Die Farm bot längst keinen so schaurigen Anblick, wie man hätte meinen können. Die Scheune lag in Schutt und Asche. Ein Wasserbottich stand vor einer verkohlten Windmühle. Der Wind versuchte das Windrad zu drehen, aber es hatte nur noch drei Flügel, und diese bewegten sich nur noch mühsam hin und her.

Es waren keine Leichen zu sehen, nur die Reifenfurchen von den Wagen, die die Toten fortgebracht hatten.

»Wie viele Leute waren denn auf der Hochzeit?«, fragte ich.

»Sechsundzwanzig, Braut und Bräutigam mitgezählt.« Denna trat nach einem verkohlten Stück Holz, das neben der Scheunenruine aus der Asche ragte. »Es ist gut, dass es hier abends meistens regnet. Sonst stünde jetzt der ganze Berghang in Flammen …«

»Gab es da irgendwelche alten Familienfehden?«, fragte ich. »Rivalitäten? Einen zweiten Freier vielleicht, der sich rächen wollte?«

»Na klar gab es das«, sagte Denna leichthin. »In so einer Kleinstadt gehört das doch gewissermaßen mit dazu. Da merken sie sich ein halbes Jahrhundert lang, was der Tom von gegenüber mal über unsere Kari gesagt hat.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber da war nichts, was tödlich hätte enden können. Das waren ganz normale Leute.«

Normal, aber wohlhabend, dachte ich und ging zu dem Farmhaus hinüber. Es war ein Haus, dessen Bau sich nur eine wohlhabende Familie leisten konnte. Das Fundament, die Mauern des Erdgeschosses und auch noch die Ecken des Obergeschosses waren aus massivem grauem Stein.

Trotzdem neigten sich die Wände nach innen, und das Haus war kurz davor einzustürzen. Die Fenster und die Tür klafften, und an allen Kanten leckte Ruß aus dem Haus. Ich spähte in den Hauseingang und sah, dass die grauen Steinmauern drinnen ebenfalls rußgeschwärzt waren. Möbeltrümmer und Steingutscherben lagen über den verkohlten Dielenboden verstreut.

»Wenn deine Sachen da drin waren«, sagte ich zu Denna, »dann haben sie das, glaube ich, nicht überstanden. Ich könnte hineingehen und nachsehen …«

»Mach keine Dummheiten, das Haus kann jeden Moment einstürzen.« Sie klopfte an den Türrahmen. Es klang hohl.

Neugierig geworden, sah ich es mir genauer an. Ich kratzte mit einem Fingernagel am Türrahmen entlang, und ein Splitter, so groß wie meine Hand, löste sich. »Das ist ja eher Treibholz als Bauholz«, sagte ich. »Wenn man so viel Geld für ein Haus ausgibt – warum spart man dann am Türrahmen?«

Denna zuckte die Achseln. »Vielleicht kommt es von der Hitze des Feuers.«

Ich nickte gedankenverloren, ging weiter und sah mich um. Ich hob ein Stück von einer verkohlten Holzschindel auf und murmelte eine Bindungsformel. Kälte fuhr mir die Arme hinauf, und das Schindelstück begann an einer Kante zu brennen.

»So was sieht man auch nicht alle Tage«, sagte Denna. Ihre Stimme klang ganz ruhig, aber das war gespielt.

Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, was sie damit meinte. Simple Sympathie war an der Universität so gang und gäbe, dass ich gar nicht daran gedacht hatte, wie das auf eine Außenstehende wirken musste.

»Nur ein kleiner Zaubertrick«, sagte ich leichthin und hielt das brennende Holzstück empor. »Die Flammen gestern Abend waren blau?«

Sie nickte. »So wie bei Kohlengas. Wie bei diesen Lampen in Anilin.«

Das Schindelstück brannte mit einer ganz normalen, orangefarbenen Flamme, die nichts Blaues an sich hatte, was natürlich nichts über die Farbe der Flammen am Vorabend aussagte. Ich ließ das Holzstück fallen und trat es unter dem Absatz aus.

Dann ging ich noch einmal um das Haus. Irgendetwas ließ mir keine Ruhe, aber ich kam nicht darauf, was es war. Ich wäre gerne hineingegangen, um mich drinnen umzusehen. »Das Feuer war ja eigentlich gar nicht so schlimm«, rief ich Denna zu. »Was hast du denn im Haus zurückgelassen?«

»Nicht so schlimm?«, erwiderte sie ungläubig und kam zu mir. »Das Haus ist vollkommen ausgebrannt.«

»Die Flammen sind nur um den Schornstein herum durchs Dach geschlagen«, sagte ich und zeigte nach oben. »Das bedeutet, dass der Brand im Obergeschoss wahrscheinlich keine größeren Schäden angerichtet hat. Was hattest du denn dabei?«

»Ein paar Kleider und eine Leier, die Lord Esche mir geschenkt hat.«

»Du spielst Leier?«, fragte ich erstaunt. »Wie viele Saiten?«

»Sieben. Und ich habe erst angefangen, es zu lernen.« Sie lachte verlegen. »Für eine Dorfhochzeit bin ich gut genug, aber das war’s dann auch.«

»Du solltest deine Zeit nicht mit einer Leier vergeuden«, sagte ich. »Das ist ein altertümliches Instrument, das keinen Raum für Feinheiten lässt. Es liegt mir natürlich fern, deine Instrumentenwahl zu kritisieren«, fügte ich schnell hinzu. »Ich will damit nur sagen, dass deine Stimme eine bessere Begleitung verdient, als eine Leier sie dir bieten kann. Wenn du ein Saiteninstrument willst, das du überallhin mitnehmen kannst, dann nimm doch eine kleine Harfe.«

»Du bist nett«, sagte sie. »Aber ich habe sie mir nicht ausgesucht. Lord Esche hat sie für mich ausgesucht. Beim nächsten Mal werde ich ihn um eine Harfe bitten.« Sie sah sich um und seufzte. »Wenn er überhaupt noch am Leben ist.«

Ich spähte in eines der Fenster, doch als ich mich auf der Fensterbank aufstützte, brach ein großes Stück davon ab. »Das hier ist auch alles völlig morsch«, sagte ich. Das Holz zerfiel buchstäblich unter meinen Fingern.

»Allerdings.« Denna nahm meinen Arm und zog mich von dem Fenster fort. »Das Haus kann jeden Moment über dir einstürzen. Es ist es nicht wert, hineinzugehen. Wie du schon sagtest: Es ist doch nur eine Leier.«

Ich ließ mich von ihr fortführen. »Die Leiche deines Gönners könnte noch im Haus liegen.«

Denna schüttelte den Kopf. »Er ist nicht der Typ, der in ein brennendes Haus läuft.« Sie sah mich ernst an. »Was glaubst du denn überhaupt dort zu finden?«

»Ich weiß es nicht«, gestand ich. »Aber wo sollte ich sonst nach Anhaltspunkten dafür suchen, was hier wirklich geschehen ist?«

»Was sind das denn für Gerüchte, von denen du gehört hast?«, fragte Denna.

»Sie gaben nicht sehr viel her«, erwiderte ich und dachte daran, was der Flussschiffer erzählt hatte. »Eine Hochzeitsgesellschaft wurde ermordet. Alle Mann tot. Hin und her geschleudert wie Puppen. Blaue Flammen.«

»Hin und her geschleudert wie Puppen stimmt nicht«, erwiderte Denna. »Nach dem, was ich in der Stadt gehört habe, wurden die meisten mit Schwertern erschlagen oder erdolcht.«

In der Stadt hatte ich niemanden auch nur ein Messer am Gürtel tragen sehen. Das einzige, was mir dazu einfiel, waren die Bauern mit ihren Sicheln und Sensen. Ich betrachtete wieder das ausgebrannte Farmhaus und war mir sicher, dass ich irgendetwas übersah.

»Was glaubst denn du, was hier geschehen ist?«, fragte Denna.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich habe fast damit gerechnet, gar nichts zu vorzufinden. Du weißt ja, wie manche Gerüchte aufgebauscht werden.« Ich sah mich zu ihr um. »Ich hätte auch die blauen Flammen als Gerücht abgetan, wenn du es nicht bestätigt hättest.«

»Das haben gestern Abend auch noch andere Leute gesehen«, erwiderte sie. »Das Feuer glomm noch, als sie heraufkamen, um die Toten zu bergen, und mich fanden.«

Ich sah mich weiter um. Immer noch hatte ich das Gefühl, dass ich etwas übersah, kam aber auf Biegen und Brechen nicht drauf, was es war. »Was glauben sie denn in der Stadt?«, fragte ich.

»Mir gegenüber waren sie nicht sehr gesprächig«, erwiderte sie bitter. »Aber ich habe ein Gespräch zwischen dem Bürgermeister und einem Wachtmeister aufgeschnappt. Die Leute sprechen hinter vorgehaltener Hand von Dämonen. Daran sind sicher die blauen Flammen schuld. Manche sprechen von Butzemännern. Das Erntedankfest wird dieses Jahr sicher sehr traditionell ausfallen. Viele Feuer, viel Apfelwein, viele Strohmänner …«

Ich sah mich noch einmal um: Der Trümmerhaufen, der einmal die Scheune gewesen war, eine Windmühle mit nur noch drei Flügeln und das ausgebrannte Farmhaus. Frustriert fuhr ich mir mit den Fingern durchs Haar. Ich war mir immer noch sicher, dass ich etwas übersah. Ich hatte erwartet, … irgendetwas zu finden.

Während ich dort stand, wurde mir klar, wie töricht diese Hoffnung war. Was hatte ich denn zu finden gehofft? Einen Fußabdruck? Einen Fetzen von einem Gewand? Einen zusammengeknüllten Zettel mit einer entscheidenden Information, praktischerweise für mich aufgeschrieben? So etwas gab es doch nur in Geschichten.

Ich zog meine Wasserflasche hervor und trank den letzten Schluck. »Also, ich wäre dann fertig hier«, sagte ich und ging zu dem Wasserbottich. »Was hast du jetzt vor?«

»Ich muss mich noch ein bisschen umsehen«, erwiderte sie. »Es besteht die Möglichkeit, dass mein adliger Freund verletzt ist und irgendwo dort draußen liegt.«

Ich ließ den Blick über die Hügel schweifen, die gold gefärbt waren von dem Herbstlaub und den Weizenfeldern und grün von den Wiesen und den Kiefern- und Tannenwäldern. Dazwischen ragten dunkle Felsen und Steilhänge auf. »Es ist ein ziemlich großes Gebiet, das man da absuchen müsste …«, sagte ich.

Denna nickte resigniert. »Ich muss es wenigstens versuchen.«

»Soll ich dir helfen?«, fragte ich. »Ich finde mich im Wald ganz gut zurecht …«

»Ich habe bestimmt nichts dagegen, dass du mich begleitest«, sagte sie. »Besonders da hier offenbar eine Horde von Dämonen ihr Unwesen treibt. Und du hast außerdem angeboten, heute Abend etwas für mich zu kochen.«

»Ja, das stimmt.« Ich ging an der verkohlten Windmühle vorbei zu der Wasserpumpe und ergriff den eisernen Schwengel, drückte ihn hinunter und wäre fast hingefallen, als er am anderen Ende abbrach.

Ich starrte den abgebrochenen Pumpenschwengel an. Er war vollkommen durchgerostet und zerbröckelte mir buchstäblich in der Hand.

Da fiel mir mit einem Mal wieder ein, wie ich an jenem Abend vor vielen Jahren ins Lager zurückgekommen war und meine Truppe ermordet vorgefunden hatte. Ich erinnerte mich daran, dass ich mich an einem Wagenrad abgestützt hatte und mir der dicke Eisenreifen buchstäblich unter den Händen weggerostet war.

»Kvothe?« Dennas Gesicht war meinem ganz nah, und sie blickte besorgt. »Alles in Ordnung mit dir? Setz dich hin, sonst kippst du noch um. Hast du dich verletzt?«

Ich setzte mich auf den Rand des Wasserbottichs, doch die dicken Bretter brachen unter mir weg, als wären sie vollkommen morsch. Ich plumpste ins Gras.

Ich hielt Denna den durchgerosteten Pumpenschwengel hin, und sie runzelte die Stirn. »Die Pumpe war neu. Der Brautvater hat damit geprahlt, was es ihn gekostet habe, hier oben auf dem Hügel einen Brunnen bauen zu lassen. Er sagte, seine Tochter müsste so nicht dreimal am Tag eimerweise Wasser hier herauf schleppen.«

»Was glaubst du, was hier geschehen ist?«, fragte ich. »Im Ernst.«

Sie sah sich um, und der Bluterguss an ihrer Schläfe bildete einen scharfen Kontrast zu ihrem blassen Teint. »Ich glaube, wenn ich nach meinem Schirmherrn in spe gesucht habe, werde ich mir diese Asche hier von den Händen waschen und nie mehr hierher zurückkehren.«

»Das ist keine Antwort«, sagte ich. »Was glaubst du, was hier geschehen ist?«

Sie sah mich eine ganze Weile an, bevor sie antwortete. »Etwas Schlimmes. Ich habe noch nie einen Dämon gesehen. Und ich rechne auch nicht damit, dass ich je einen sehen werde. Aber den König von Vint habe ich ja schließlich auch noch nie gesehen …«

»Kennst du das Kinderlied?« Denna sah mich verständnislos an, also begann ich es zu singen:

Nimmt das Feuer Blauton an,

Oh, was dann? Oh, was dann?

Aus dem Haus. Schnell hinaus.

Wird dein blankes Schwert rostbraun,

Oh, wem trau’n? Oh, wem trau’n?

Steh allein. Steh’nder Stein.

Als Denna begriff, was ich damit sagen wollte, wurde sie noch blasser. Sie nickte und sang den Refrain leise mit:

Bleich die Frauen, seht ihr sie?

Lautlos komm’n und gehen die.

Was treibt, was treibt sie wohl an?

Chandrian. Chandrian.

Denna und ich saßen im herbstlichen Laubschatten, außerhalb der Sicht auf die niedergebrannte Farm. Chandrian. Die Chandrian waren tatsächlich hier gewesen. Ich ordnete immer noch meine Gedanken, als Denna das Wort ergriff.

»Ist es das, was du erwartet hattest, hier zu finden?«, fragte sie.

»Es ist das, wonach ich gesucht habe«, erwiderte ich. Die Chandrian waren vor nicht einmal einem Tag hier. »Aber ich hatte nicht erwartet, es zu finden. Ich meine, wenn man als Kind nach vergrabenen Schätzen gesucht hat, hat man ja auch nicht erwartet, etwas zu finden. Als Kind hat man im Wald nach irgendwelchen Märchengestalten gesucht, aber man hat sie nicht gefunden.« Sie haben meine Truppe ermordet, und jetzt haben sie diese Hochzeitsgesellschaft ermordet. »Als ich das letzte Mal in Imre nach dir gesucht habe, habe ich auch nicht erwartet, dich zu finden …« Ich verstummte, da ich merkte, dass ich ins Schwafeln geriet.

Denna lachte, und ihre Anspannung löste sich etwas. Ihr Lachen klang nicht spöttisch, nur belustigt. »Dann bin ich also ein verborgener Schatz oder eine Märchengestalt?«

»Du bist beides. Verborgen und wertvoll, oft gesucht und schwer zu finden.« Ich hob den Blick und sah sie an und bemerkte kaum, was ich da sagte. »Und du hast auch viel von einer Märchengestalt an dir.« Es gibt sie tatsächlich. Es gibt die Chandrian tatsächlich. »Du bist nie da, wo ich nach dir suche. Und dann tauchst du ganz unerwartet auf. Wie ein Regenbogen.«

Im Laufe des vergangenen Jahres hatte mich insgeheim eine Angst nicht losgelassen. Ich hatte die Sorge, dass meine Erinnerungen an den Tod meiner Truppe und die Chandrian nur ein seltsamer Trauertraum gewesen waren, den mein Geist zusammengesponnen hatte, um mir über den Verlust meiner ganzen Welt hinwegzuhelfen. Doch nun hatte ich so etwas wie einen Beweis. Es gab sie tatsächlich. Meine Erinnerungen trogen nicht. Ich war nicht verrückt.

»Als kleiner Junge bin ich einmal eine Stunde lang einem Regenbogen nachgelaufen und habe mich dabei im Wald verirrt. Meine Eltern machten sich schreckliche Sorgen. Ich dachte wirklich, ich könnte ihn einholen. Ich konnte die Stelle sehen, wo er den Boden berühren musste. So bist auch du …«

Denna berührte meinen Arm. Ich spürte ihre Wärme durch mein Hemd. Ich sog den Duft ihres sonnenwarmen Haars auf. Es duftete nach grünem Gras und nach ihrem sauberen Schweiß und nach Äpfeln. Der Wind seufzte in den Bäumen und wehte mir ihr Haar ins Gesicht. Erst als plötzlich Stille die Lichtung erfüllte, bemerkte ich, dass ich minutenlang vor mich hin geplappert hatte. Ich wurde rot und sah mich um und wusste mit einem Mal wieder, wo ich war.

»Du hattest gerade einen ganz wirren Blick«, sagte Denna liebevoll. »Ich glaube, so entrückt habe ich dich noch nie gesehen.«

Ich atmete noch einmal tief durch. »Ich bin meistens nicht ganz bei mir«, sagte ich. »Ich lasse es mir bloß nicht anmerken.«

»Soso.« Sie trat einen Schritt zurück und ließ die Hand langsam meinen Arm hinab gleiten, bis sie sich löste. »Und was jetzt?«

»Keine Ahnung«, sagte ich und sah mich ratlos um.

»Das klingt gar nicht nach dir«, erwiderte sie.

»Ich will einen Schluck Wasser«, sagte ich und lächelte verlegen, weil das so kindlich klang.

Sie erwiderte mein Lächeln. »Das wäre doch immerhin mal ein Anfang«, sagte sie. »Und dann?«

»Würde ich gerne erfahren, warum die Chandrian diese Hochzeitsgesellschaft überfallen haben.«

»Was treibt, was treibt sie wohl an?« Sie blickte ernst. »Irgendwas dazwischen gibt es bei dir wohl nicht? Du willst einen Schluck Wasser und anschließend willst du ein Rätsel lösen, das die Menschen seit … seit Urzeiten beschäftigt.«

»Was glaubst du denn, was hier geschehen ist?«, fragte ich. »Wer, glaubst du, hat diese Leute umgebracht?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Es könnten doch alle möglichen …« Sie verstummte und kaute sich auf der Unterlippe herum. »Nein, das wäre gelogen«, fügte sie schließlich hinzu. »Es klingt komisch, wenn ich das sage, aber ich glaube, sie waren es. Es klingt wie etwas aus irgend einer Geschichte, und deshalb sträube ich mich dagegen, es zu glauben. Aber ich glaube es dennoch.« Sie sah mich nervös an.

»Jetzt geht es mir besser«, sagte ich und stand auf. »Ich dachte schon, ich wäre ein wenig verrückt geworden.«

»Das ist damit nicht gesagt«, sagte sie. »Ich bin kein guter Prüfstein für deine geistige Gesundheit.«

»Kommst du dir verrückt vor?«

Sie schüttelte den Kopf, und ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Nein. Und du?«

»Nicht sonderlich.«

»Das kann etwas Gutes oder etwas Schlechtes bedeuten, je nachdem«, sagte sie. »Wie sollen wir denn nun dieses uralte Rätsel lösen?«

»Darüber muss ich erst noch ein wenig nachdenken«, erwiderte ich. »Lass uns doch in der Zwischenzeit Lord Esche suchen. Ich würde ihn sehr gerne fragen, was er auf der Mauthen-Farm gesehen hat.«

Denna nickte. »Ich dachte, ich gehe zurück zu der Stelle, an der er mich stehen ließ, hinter diesem Hang, und dann suche ich das Gelände von dort bis zur Farm ab.« Sie zuckte die Achseln. »Es ist kein besonders origineller Plan, aber …«

»Damit wissen wir immerhin, wo wir mit der Suche beginnen sollten«, sagte ich. »Wenn er dorthin zurückgekommen ist und dich nicht mehr angetroffen hat, hat er vielleicht eine Spur hinterlassen, die wir verfolgen könnten.«

Denna führte mich durch den Wald. Hier war es wärmer. Die Bäume hielten den Wind ab, und da die meisten Wipfel schon kahl waren, drang die Sonne bis auf den Waldboden. Nur die alten Eichen standen noch in vollem Laub.

Während wir so gingen, dachte ich darüber nach, welches Motiv die Chandrian gehabt haben mochten, diese Leute zu ermorden. Gab es irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen dieser Hochzeitsgesellschaft und meiner Truppe?

Die Eltern von irgendwem haben die falschen Lieder gesungen

»Was hast du denn gestern Abend gesungen?«, fragte ich. »Auf der Hochzeit?«

»Das Übliche«, sagte Denna und stapfte durchs Laub. »Fröhliche Lieder. Die Blechflöte, Wir waschen uns im Fluss, Der Kupferkessel.« Sie kicherte. »Tante Emmes Badewanne.«

»Ist nicht wahr«, sagte ich. »Auf einer Hochzeit

»Ein betrunkener Großvater hat es sich gewünscht«, sagte sie mit einem Achselzucken und zwängte sich durch ein Gestrüpp. »Es hat ein wenig Stirnrunzeln hervorgerufen, aber nicht viel. Die Leute hier sind derben Humor gewöhnt.«

Wir trotteten schweigend weiter. Der Wind ächzte in den Baumwipfeln, aber dort, wo wir gingen, war er nur ein Flüstern. »Ich glaube, Wir waschen uns im Fluss kenne ich überhaupt nicht …«

»Das wundert mich aber.« Denna sah sich zu mir um. »Willst du mich dazu bringen, dass ich es für dich singe?«

»Natürlich.«

Sie wandte sich zu mir um und lächelte, und das Haar fiel ihr ins Gesicht. »Vielleicht später. Nach dem Abendessen.« Sie führte mich hinter einen dunklen Felshang. Dort im Schatten war es kälter. »Ich glaube, hier war es. Hier hat er mich stehen lassen«, sagte sie und sah sich unsicher um. »Tagsüber sieht alles ganz anders aus.«

»Sollen wir den Weg zurück zur Farm absuchen oder von hier aus im Kreis gehen?«

»Im Kreis. Aber du musst mir zeigen, worauf ich achten soll. Ich bin ein Mädchen aus der Stadt.«

Ich erklärte ihr, auf welchem Boden ein Schuh einen Abdruck hinterließ, machte sie darauf aufmerksam, dass man dem Laubhaufen, durch den sie eben geschlurft war, das ansah, und zeigte ihr, wo die Zweige des Gestrüpps, durch das sie sich hindurchgekämpft hatte, abgebrochen waren.

Wir blieben nah beieinander, denn vier Augen sehen mehr als zwei, und keiner von uns wollte alleine suchen. Wir streiften in immer größeren Kreisen rund um den Felshang durch den Wald.

Nach fünf Minuten wurde mir klar, dass es vollkommen sinnlos war. Denna kam zu dem gleichen Schluss, das merkte ich. Die aus den Märchenbüchern bekannten Anhaltspunkte wollten wieder mal einfach nicht auftauchen. Wir fanden keine in den Zweigen hängenden Kleiderfetzen, keine tiefen Schuhabdrücke, keine verlassenen Lagerplätze. Wir stießen nur auf Pilze, Eicheln, Mücken und unter Kiefernadeln verborgenen Waschbärenkot.

»Hörst du auch das Wassergeplätscher?«, fragte Denna.

Ich nickte. »Ich würde wirklich gerne was trinken«, sagte ich. »Und eine kleine Katzenwäsche wäre auch nicht schlecht.«

Wortlos gaben wir unsere Suche auf. Wir folgten dem Geräusch des Wassers den Hügel hinab und kamen schließlich hinter einem Kiefernwäldchen an einen schönen, Bach, der etwa sechs, sieben Meter breit war.

Das Wasser roch sauber, und so tranken wir davon, und ich füllte meine Wasserflasche.

Ich kannte mich mit Geschichten aus. Wenn ein junges Pärchen an einen Bach kommt, dann steht schon ganz genau fest, was als Nächstes geschieht. Denna würde an einem sandigen Uferabschnitt hinter dem nächsten dichten Nadelbaum baden. Ich würde diskret Abstand halten, außer Sicht, aber in Rufweite. Dann … würde irgendetwas passieren. Sie würde ausrutschen und sich den Fußknöchel verdrehen oder sich an einem scharfen Stein den Fuß verletzen, und ich würde hinübereilen müssen. Und dann …

Doch dies war keine Geschichte über ein junges Liebespaar, das an einem Bach zueinander findet. Also klatschte ich mir etwas Wasser ins Gesicht und wechselte hinter einem Baum das Hemd. Denna tauchte ihren Kopf ins Wasser, um sich abzukühlen.

Anschließend setzten wir uns auf einen Stein und ließen die Füße ins Wasser baumeln. Wir teilten uns einen Apfel, bissen abwechselnd davon ab, was, wenn man nie geküsst hat, dem Küssen schon recht nahe kommt.

Und nachdem ich sie noch einmal darum gebeten hatte, sang Denna für mich. Eine Strophe aus Wir waschen uns im Fluss, einem Lied, das ich nie zuvor gehört hatte, improvisierte sie, glaube ich, an Ort und Stelle. Ich werde diese Strophe hier nicht wiederholen, denn sie sang sie für mich und nicht für euch. Und da dies keine Geschichte über ein Liebespaar ist, das an einem Bach zueinander findet, gehört sie eigentlich auch nicht hierher, und ich werde sie für mich behalten.

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