Kapitel 13

Zwischenspiel: Aus Fleisch und Blut

Im Wirtshaus zum Wegstein herrschte Schweigen. Es umhüllte die beiden Männer, die in dem sonst leeren Raum an einem Tisch saßen. Kvothe war verstummt. Zwar schien er auf seine gefalteten Hände hinabzuschauen, doch in Wirklichkeit war sein Blick ins Nirgendwo gerichtet. Als er ihn schließlich wieder hob, schien er fast erstaunt, den Chronisten ihm gegenüber sitzen zu sehen, der die Feder über dem Tintenfass bereithielt.

Kvothe atmete befangen aus und wies den Chronisten mit einer Geste an, die Feder abzusetzen. Der Chronist wischte die Federspitze an einem sauberen Tuch ab und legte sie dann nieder.

»Ich könnte etwas zu trinken vertragen«, verkündete Kvothe plötzlich, so als würde ihn das in Erstaunen versetzen. »Ich habe in letzter Zeit nicht allzu oft Geschichten erzählt und bin ganz ausgedörrt.« Er erhob sich geschmeidig und ging zwischen den freien Tischen hindurch zum leeren Tresen. »Ich kann Euch fast alles anbieten – dunkles Bier, hellen Wein, würzigen Cidre, heiße Schokolade, Kaffee …«

Der Chronist hob eine Augenbraue. »Eine Schokolade wäre wunderbar. Ich hätte nicht erwartet, dass man hier so etwas bekommt. So weit von …« Er räusperte sich höflich. »Nun ja, von allem …«

»Wir haben alles hier in unserem Wirtshaus«, sagte Kvothe und wies mit einer lässigen Geste in den leeren Saal. »Von Kundschaft einmal abgesehen.«

Er holte einen Steingutkrug hervor und stellte ihn auf den Tresen. Es klang hohl. Er seufzte und rief: »Bast! Holst du bitte etwas Cidre herauf?«

Aus einer Türöffnung hinten im Raum drang eine unverständliche Antwort.

»Bast«, sagte Kvothe tadelnd, aber anscheinend zu leise.

»Komm runter und hol’s dir selber!«, rief die Stimme aus dem Keller. »Ich bin beschäftigt.«

»Ein Gehilfe?«, fragte der Chronist.

Kvothe stützte die Ellenbogen auf den Tresen und lächelte nachsichtig.

Einen Moment später hörte man durch die Türöffnung Stiefelschritte eine Holztreppe heraufkommen. Bast betrat vor sich hin murmelnd den Saal.

Er war ganz schlicht gekleidet: Ein schwarzes, langärmliges Hemd steckte in einer schwarzen Hose, die wiederum in weichen, schwarzen Stiefeln steckte. Sein Gesicht war fein geschnitten und markant, beinahe schön, und er hatte leuchtend blaue Augen.

Er brachte einen Krug zum Tresen und ging dabei mit seltsamer, aber nicht unangenehmer Anmut. »Ein einziger Gast?«, sagte er vorwurfsvoll. »Und da konntest du den Cidre nicht selber holen? Du hast mich aus dem Celum Tinture herausgerissen. Seit fast einem Monat liegst du mir in den Ohren, dass ich das endlich mal lesen soll.«

»Bast, weißt du, was man an der Universität mit Studenten macht, die ihre Lehrer belauschen?«, fragte Kvothe scherzhaft.

Bast legte sich eine Hand aufs Herz und begann seine Unschuld zu beteuern.

»Bast …« Kvothe sah ihn streng an.

Bast machte den Mund zu, sah für einen Moment so aus, als würde er nun versuchen, Erklärungen vorzubringen, ließ dann aber die Schultern hängen. »Woran hast du das gemerkt?«

Kvothe lachte leise. »Um dieses Buch machst du doch schon seit Ewigkeiten einen großen Bogen. Entweder bist du mit einem Mal ein ganz besonders eifriger Schüler geworden, oder du hast irgendwas ausgefressen.«

»Was macht man denn nun an der Universität mit Schülern, die ihre Lehrer belauschen?«, fragte Bast neugierig.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich habe mich nie dabei erwischen lassen. Doch ich glaube, wenn du dir den Rest meiner Geschichte anhören musst, ist das Strafe genug. Aber wie unachtsam von mir«, sagte Kvothe und zeigte in den Schankraum. »Wir vernachlässigen ja unseren Gast.«

Der Chronist wirkte alles andere als gelangweilt. Gleich als Bast hereingekommen war, hatte der Chronist ihn aufmerksam beobachtet. Und je länger sich das Gespräch hinzog, desto verwunderter und forschender blickte der Chronist.

Freilich muss auch etwas über Bast gesagt werden. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein ganz normaler, wenn auch attraktiver junger Mann. Etwas an ihm jedoch war anders. Er trug zum Beispiel diese weichen schwarzen Stiefel. Erhaschte man allerdings einen Blick aus dem Augenwinkel auf ihn und stand er in diesem Moment gerade in der richtigen Art von Schatten, so sah man statt der Stiefel womöglich etwas gänzlich anderes.

Und verfügte man über den entsprechenden Verstand, einen Verstand, der tatsächlich sah, was er erblickte, fiel einem womöglich auf, dass etwas an seinen Augen merkwürdig war. Und hatte der Verstand die seltene Gabe, sich nicht von seinen Erwartungen täuschen zu lassen, so entdeckte man womöglich noch etwas weiteres an ihnen, das seltsam und wunderbar war.

Deshalb hatte der Chronist Kvothes Schüler angestarrt und festzustellen versucht, was an ihm anders war. Als ihr kurzes Gespräch dann endete, hätte man den Blick des Chronisten zumindest als sehr aufmerksam, unter Umständen sogar als eher unhöflich bezeichnet. Als Bast sich schließlich am Tresen umwandte, bekam der Chronist große Augen, und aus seinem ohnehin blassen Gesicht wich der letzte Rest Farbe.

Er griff sich in den Hemdausschnitt und zog etwas hervor, das ihm am Hals gehangen hatte. Er legte es eine Armeslänge von sich entfernt auf den Tisch, zwischen Bast und sich. Das alles geschah binnen einer halben Sekunde, und er ließ den dunkelhaarigen jungen Mann am Tresen dabei nicht aus dem Blick. Die Miene des Chronisten war ganz ruhig, als er das Metallscheibchen mit zwei Fingern auf den Tisch drückte.

»Eisen«, sagte er. Seine Stimme hatte einen seltsam vollen Klang, so als wäre das ein Befehl, dem Folge zu leisten war.

Bast krümmte sich, wie von einem Schlag in die Magengrube, bleckte die Zähne und stieß ein Geräusch aus, das halb Knurren, halb Schrei war. Mit unnatürlicher Schnelligkeit und Geschmeidigkeit legte er sich eine Hand an die Schläfe und spannte sich zum Sprung.

Das alles geschah so schnell wie ein scharfer Atemzug. Dennoch gelang es Kvothe irgendwie, Basts Handgelenk zu packen. Ohne es wahrzunehmen oder sich darum zu kümmern, stürzte Bast auf den Chronisten zu, wobei er von Kvothes Hand wie von einer Fessel zurückgehalten wurde. Bast versuchte sich mit aller Kraft loszureißen, doch Kvothe stand hinter dem Tresen, den Arm ausgestreckt, reglos wie Stahl oder Stein.

»Halt!« Kvothes Stimme peitschte die Luft wie ein Gebot, und in die Stille, die nun folgte, drangen seine scharfen, ärgerlichen Worte. »Ich dulde keine Kämpfe unter meinen Freunden. Ich habe auch so schon viel zu viele verloren.« Sein Blick traf den Chronisten. »Löst das, oder ich werde es zerstören.«

Der Chronist hielt erschüttert inne. Dann bewegte er stumm den Mund und nahm mit leichtem Zittern die Finger von der stumpfen Metallscheibe, die auf dem Tisch lag.

Alle Anspannung wich aus Bast, und einen Moment lang hing er schlaff wie eine Stoffpuppe an dem Handgelenk, das der hinter dem Tresen stehende Kvothe immer noch hielt. Dann fasste er sich und lehnte sich an den Tresen. Nach einem langen, forschenden Blick ließ Kvothe sein Handgelenk los.

Bast sank auf einen Hocker, ohne den Chronisten dabei aus den Augen zu lassen. Er bewegte sich vorsichtig, wie jemand, der eine empfindliche Wunde hat.

Und er hatte sich verwandelt. Die Augen, die den Chronisten im Blick behielten, waren immer noch von einem leuchtenden Meeresblau, zeigten sich nun aber ganz von einer Farbe, wie Edelsteine oder tiefe Waldseen, und statt der weichen Lederstiefel kamen nun anmutige Pferdefüße zum Vorschein.

Kvothe winkte den Chronisten mit einer gebieterischen Geste herbei, nahm dann zwei Gläser und eine offenbar aufs Geratewohl gewählte Flasche. Er stellte die Gläser auf den Tresen. Bast und der Chronist beäugten einander beklommen.

»Also«, sagte Kvothe verärgert, »wie ihr euch gerade verhalten habt, ist nachvollziehbar, aber das bedeutet keineswegs, dass ihr euch gut verhalten habt. Daher müssen wir jetzt noch einmal ganz von vorne anfangen.«

Er atmete tief durch. »Bast, ich darf dir vorstellen: Devan Lochees, auch der Chronist genannt. Nach allem, was man hört, ein großer Geschichtenerzähler, -erinnerer und -aufzeichner. Darüber hinaus, es sei denn, ich täusche mich komplett, ein erfahrenes Mitglied des Arkanums, mindestens Re’lar, und einer von vielleicht drei Dutzend Menschen auf der Welt, die den Namen des Eisens kennen.

Trotz alledem«, fuhr Kvothe fort, »ist er in manchen praktischen Belangen offenbar ein wenig unbeleckt. Das zeigt sich etwa an der Riesendummheit, einen beinahe selbstmörderischen Angriff zu wagen auf den vermutlich ersten deiner Art, dem er das Glück hatte zu begegnen.«

Der Chronist stand während dieser ganzen Vorstellung reglos da und beäugte Bast, als wäre der eine Schlange.

»Chronist, ich möchte Euch Bastas vorstellen, Sohn des Remmen, Fürst des Dämmerlichts und Prinz von Telwyth Mael. Der klügste, will sagen, der einzige Schüler, den ich je das Pech hatte zu unterrichten. Zauberer, Schankkellner und nicht zuletzt auch mein Freund.

Dem es im Laufe seiner einhundertfünfzig Lebensjahre, von zwei Jahren persönlicher Unterweisung durch mich ganz zu schweigen, gelungen ist, das Erlernen einiger wichtiger Dinge zu vermeiden. Als da erstens wäre: Ein Mitglied des Arkanums anzugreifen, das über die Fähigkeit verfügt, Eisen zu binden, ist ausgesprochen töricht.«

»Er hat mich angegriffen«, sagte Bast hitzig.

Kvothe musterte ihn kühl. »Ich sagte nicht, dass es nicht gerechtfertigt gewesen wäre. Ich sagte, es sei töricht gewesen.«

»Ich hätte gesiegt.«

»Höchstwahrscheinlich. Aber du hättest dir dabei schwere Verletzungen zugezogen, und er wäre jetzt ebenfalls schwer verwundet oder gar tot. Weißt du nicht mehr? Ich habe ihn als meinen Gast vorgestellt.«

Bast schwieg. Seine Miene blieb streitlustig.

»Also«, sagte Kvothe mit spröder Fröhlichkeit. »Nun habe ich euch miteinander bekannt gemacht.«

»Freut mich«, sagte Bast in eisigem Ton.

»Ganz meinerseits«, erwiderte der Chronist.

»Es gibt für euch beide keinen Grund, etwas anderes als Freunde zu sein«, fuhr Kvothe fort, und eine gewisse Gereiztheit schlich sich in seinen Ton. »Und Freunde begrüßen einander anders.«

Bast und der Chronist starrten einander an, und keiner der beiden regte sich.

Kvothe sagte ganz leise: »Wenn ihr mit diesem Blödsinn nicht aufhört, könnt ihr beide gehen. Der eine hat dann nur einen kleinen Bruchteil einer Geschichte, und der andere kann sich einen neuen Lehrer suchen. Wenn es etwas gibt, das ich nicht dulden werde, so ist es törichter, halsstarriger Stolz.«

Etwas an der leisen Eindringlichkeit, mit der Kvothe sprach, ließ sie den Blick voneinander lösen. Und als sie sich zu ihm umsahen, schien es, als stünde dort ein ganz anderer Mensch hinter dem Tresen. Der fröhliche Wirt war verschwunden, und an seiner Stelle stand dort nun eine dunkle, grimmige Gestalt.

Er ist noch so jung, staunte der Chronist. Er ist doch höchstens fünfundzwanzig. Wieso habe ich das bisher übersehen? Und er könnte mich mit bloßen Händen entzweibrechen wie ein Stöckchen. Wie konnte ich ihn denn auch nur einen einzigen Moment für einen Gastwirt halten?

Dann erblickte er Kvothes Augen. Sie waren so tiefgrün geworden, dass sie schon fast schwarz waren. Das ist der Mann, dessentwegen ich hier bin, dachte der Chronist. Das ist der Mann, der Könige beriet und auf alten Pfaden wandelte, wobei er sich einzig und allein von seinem Verstand leiten ließ. Das ist der Mann, dessen Name an der Universität ebenso gepriesen wie verwünscht wird.

Kvothe fixierte erst den Chronisten, dann Bast. Keiner der beiden konnte seinem Blick lange standhalten. Es folgte ein beklommener Moment, und dann streckte Bast eine Hand aus. Der Chronist zögerte noch kurz und schlug dann schnell ein, so als würde er seine Hand in ein Feuer strecken.

Nichts geschah – zur Verwunderung beider.

»Erstaunlich, nicht wahr?«, wandte sich Kvothe in sarkastischem Ton an die beiden. »Fünf Finger – aus Fleisch und Blut. Man könnte fast auf den Gedanken kommen, am anderen Ende dieser Hand befände sich ein Mensch.«

Den beiden Männern war ihr schlechtes Gewissen anzusehen. Sie lösten den Handschlag.

Kvothe schenkte aus der grünen Flasche die Gläser voll. Diese schlichte Geste verwandelte ihn. Er schien in sein altes Selbst zurückzuschlüpfen, bis von dem dunkeläugigen Mann, der noch einen Augenblick zuvor hinter dem Tresen gestanden hatte, kaum noch etwas übrig war. Der Chronist empfand ein plötzliches Gefühl des Verlusts, als er den Wirt anstarrte, der in einer Hand einen Leinenlappen hielt.

»Also.« Kvothe schob ihnen die Gläser hin. »Nehmt etwas zu trinken, setzt euch an den Tisch und sprecht miteinander. Wenn ich wiederkomme, will ich keinen von euch beiden tot vorfinden, und das Haus sollte auch nicht in Flammen stehen. Abgemacht?«

Bast lächelte verlegen, und der Chronist nahm die Gläser und ging damit zurück an seinen Tisch. Bast folgte ihm, kehrte dann aber noch einmal an den Tresen zurück, um auch die Flasche zu holen.

»Nicht zu viel davon«, mahnte Kvothe, ehe er dann im Hinterzimmer verschwand. »Ich will nicht, dass ihr nur noch am Kichern seid, wenn ich weitererzähle.«

Die beiden Männer am Tisch begannen ein angespanntes, stockendes Gespräch, und Kvothe ging derweil in die Küche. Einige Minuten später kam er wieder und brachte Käse und Vollkornbrot, kaltes Hühnchen und Wurst, Butter und Honig.

Als Kvothe diese Platten brachte, setzten sie sich an einen größeren Tisch. Er eilte geschäftig hin und her und war wieder ganz der Gastwirt. Der Chronist beobachtete ihn verstohlen und konnte kaum glauben, dass dieser Mann, der hier vor sich hin summend Wurst aufschnitt, derselbe Mensch war, der nur wenige Minuten zuvor mit dunklen Augen und schrecklichem Blick hinter dem Tresen gestanden hatte.

Während der Chronist seine Papiere und Federn herüberholte, betrachtete Kvothe durchs Fenster den Stand der Sonne. Schließlich wandte er sich an Bast. »Wie viel hast du mit angehört?«

»Das meiste, Reshi«, sagte Bast und lächelte. »Ich habe gute Ohren.«

»Das ist gut. Wir haben keine Zeit, irgendetwas zu wiederholen.« Er atmete tief durch. »Dann wollen wir mal weitermachen. Aber macht euch auf etwas gefasst. Die Geschichte kommt jetzt an einen Wendepunkt. Es geht jetzt abwärts, wird finsterer. Wolken ziehen auf.«

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