Kapitel 61

Eselei

Nachdem die Prüfung nun bestanden war, hatte ich bis zum Beginn des Herbsttrimesters keine weiteren Verpflichtungen mehr. Ich verbrachte die Tage damit, Schlaf nachzuholen, in Kilvins Werkstatt zu arbeiten und meine neue, luxuriöse Unterkunft im Goldenen Ross zu genießen.

Außerdem ging ich oft nach Imre, meist unter dem Vorwand, Threpe zu besuchen oder mich im Eolian mit anderen Musikern zu treffen. In Wirklichkeit aber hoffte ich, Denna zu finden.

Sie war offenbar aus der Stadt verschwunden. Ich erkundigte mich bei einigen Leuten, bei denen ich davon ausgehen konnte, dass sie es nicht weitertratschen würden, aber keiner von ihnen wusste mehr über sie als Deoch. Kurz überlegte ich, Sovoy nach ihr zu fragen, ließ den Gedanken aber schnell wieder fallen.

Nach dem sechsten vergeblichen Ausflug nach Imre entschied ich, es aufzugeben. Nach dem neunten war ich mir sicher, dass die Suche reine Zeitverschwendung war. Nach dem vierzehnten wurde mir endgültig klar, dass ich sie nicht finden würde. Sie war tatsächlich verschwunden. Wieder einmal.

Bei einem dieser Besuche im Eolian überbrachte mir Graf Threpe schlechte Neuigkeiten. Ambrose, der Erstgeborene des reichen und mächtigen Barons Jakis, hatte offenbar die feine Gesellschaft von Imre unermüdlich bearbeitet. Er hatte Gerüchte gestreut, Drohungen ausgesprochen und überhaupt den ganzen Adel gegen mich aufgebracht. Er konnte zwar nicht verhindern, dass mir von meinen Musikerkollegen Achtung entgegengebracht wurde, sehr wohl konnte er aber verhindern, dass ich einen reichen Schirmherrn fand. Zum ersten Mal bekam ich einen Eindruck davon, welche Schwierigkeiten Ambrose mir bereiten konnte.

Threpe war bedrückt und kleinlaut, ich aber schäumte vor Wut. Wir tranken viel zu viel Wein und zeterten gegen Ambrose Jakis. Schließlich wurde Threpe auf die Bühne gerufen, wo er ein ätzendes kleines Lied aus seiner eigenen Feder zum Besten gab, das sich über einen Stadtrat von Tarbean lustig machte. Er erntete viel Gelächter und Applaus.

Nun war es nur noch ein kleiner Schritt, auch über Ambrose ein Lied zu schreiben. Threpe war ein unverbesserliches Klatschmaul mit einem Hang zu geschmacklosen Zweideutigkeiten, und mir war es seit jeher gegeben, eingängige Melodien zu erfinden. Binnen nicht einmal einer Stunde erschufen wir unser Meisterwerk und gaben ihm den liebevollen Titel Esel, dummer Esel.

Oberflächlich betrachtet war es ein zotiges kleines Lied über einen Esel, der Arkanist werden wollte. Das gewitzte Wortspiel mit Ambroses Nachnamen – »Jakis« ist in einem Dialekt dort auch eine Bezeichnung für einen Esel – war das Einzige, was ihn damit in Verbindung brachte. Doch jeder, der auch nur ein bisschen Grips in der Birne hatte, verstand sofort, auf wen das Lied gemünzt war.

Es war schon spät, als Threpe und ich die Bühne erklommen, und wir waren nicht die Einzigen, denen der Wein schon zugesetzt hatte. Es gab tosendes Gelächter und einen Beifallssturm von der Mehrheit des Publikums, das nach einer Zugabe verlangte. Wir trugen das Lied gleich noch einmal vor, und beim Refrain sangen alle mit.

Der Schlüssel zum Erfolg des Lieds war seine Schlichtheit. Man konnte es pfeifen oder summen, und wer auch nur drei Finger hatte, konnte es spielen. Es war ein regelrechter Ohrwurm, dabei vulgär und bösartig. Und es verbreitete sich wie ein Lauffeuer auch an der Universität.

Ich öffnete die Eingangstür der Bibliothek und betrat den Vorraum, wo sich meine Augen erst an das rötliche Licht der Sympathielampen gewöhnen mussten. Die Luft hier war trocken und kühl, und es roch nach Staub, Leder und alter Tinte. Ich atmete tief ein, wie ein Hungernder, der vor einer Bäckerei steht.

Wilem hatte Dienst am Empfang. Das hatte ich gewusst. Ambrose war nicht da. »Ich möchte mit Meister Lorren sprechen«, sagte ich schnell.

»Es ist gerade jemand bei ihm. Das könnte noch eine Weile dauern.«

Ein großer, schlanker Kealde öffnete die Tür hinter dem Empfang. Anders als die meisten Kealden war er bartlos und hatte langes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Er trug mehrfach geflicktes Lederzeug, wie für die Jagd, einen verblichenen Reiseumhang und hohe Stiefel, die noch staubig von der Straße waren. Als er die Tür hinter sich schloss, hielt er unwillkürlich den Griff seines Schwerts, damit es nicht an die Wand oder das Pult schlug.

»Tetalia tu Kiaure edan A’siath«, sagte er auf Siaru und klopfte Wilem auf die Schulter, als er um den Empfang herumging. »Vorelan tua tetam.«

Wil lächelte und zuckte die Achseln. »Lhinsatva. Tua kverein.«

Der Mann lachte, und als er hinter dem Empfang hervortrat, sah ich, dass er außer dem Schwert auch noch einen langen Dolch trug. Ich hatte hier an der Universität noch nie einen Bewaffneten gesehen. Im Vorraum der Bibliothek wirkte er so fehl am Platz wie ein Schaf im Thronsaal eines Königs. Doch er gab sich, als fühle er sich hier wie zu Hause.

Als er mich dort stehen sah, hielt er inne und legte den Kopf ein wenig auf die Seite. »Cyae tsien?«

Ich erkannte die Sprache nicht. »Wie bitte?«

»Oh, entschuldige«, erwiderte er in akzentfreiem Aturisch. »Du siehst yllisch aus. Das rote Haar hat mich getäuscht.« Er musterte mich. »Aber das bist du nicht. Du bist ein Ruh, nicht wahr?« Er trat vor und gab mir die Hand. »Eine Familie.«

Ich schüttelte ihm die Hand, ohne weiter nachzudenken. Sein Griff war steinhart, und seine dunkle Kealdenhaut war noch zusätzlich sonnengebräunt, daher stachen ein paar blasse Narben hervor, die über die Fingerknöchel und die Arme verliefen. »Eine Familie«, wiederholte ich, zu verblüfft, um etwas anderes zu sagen.

»Man trifft nur sehr selten jemanden von der Familie hier«, sagte er leichthin und ging an mir vorbei zum Ausgang. »Ich würde gerne noch bleiben und ein wenig plaudern, aber ich muss noch vor Sonnenuntergang in Evesdown sein, sonst verpasse ich mein Schiff.« Er öffnete die Tür, und Sonnenschein strömte herein. »Wir sehen uns, wenn ich das nächste Mal hier in der Gegend bin«, sagte er, winkte und verschwand.

Ich wandte mich an Wilem. »Wer war denn das?«

»Einer von Lorrens Gillern. Er heißt Viari.«

»Der ist Bibliothekar?«, sagte ich ungläubig und dachte an die bleichen, stillen Studenten, die hier sonst den Bibliotheksdienst verrichteten.

Wil schüttelte den Kopf. »Er ist in der Inkasso-Abteilung. Die holen aus der ganzen Welt Bücher zurück. Das ist ein ganz anderer Menschenschlag.«

»Den Eindruck habe ich auch«, sagte ich und sah mich noch einmal zur Tür um.

»Er war der, mit dem Lorren gesprochen hat, also kannst du jetzt zu ihm«, sagte Wilem, stand auf und öffnete mir die Tür hinter dem Empfangspult. »Am Ende des Korridors. An der Tür ist ein Messingschild. Ich würde dich begleiten, aber wir sind gerade unterbesetzt, und ich darf den Empfang nicht verlassen.«

Ich nickte und ging den Korridor entlang. Ich lächelte, als ich Wil leise die Melodie von Esel, dummer Esel summen hörte. Dann fiel die Tür mit einem gedämpften Laut hinter mir ins Schloss. Auf dem Korridor war es so still, dass ich nur meinen eigenen Atem hörte. Als ich an der richtigen Tür angelangt war, hatte ich schweißfeuchte Hände. Ich klopfte an.

»Herein!«, rief Lorren. Seine Stimme glich in ihrer Emotionslosigkeit einer glatten, grauen Schiefertafel.

Ich öffnete die Tür. Lorren saß hinter einem riesigen, halbkreisförmigen Schreibtisch. Sämtliche Wände waren mit Bücherregalen zugestellt.

Er sah mich kühl an. Selbst im Sitzen war er fast so groß wie ich. »Guten Morgen.«

»Ich weiß, dass ich hier in der Bibliothek Hausverbot habe, Meister«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich hoffe, ich verstoße nicht dagegen, wenn ich zu Euch komme, um mit Euch zu sprechen.«

»Nicht, wenn du mit lauteren Absichten kommst.«

»Ich habe ein wenig Geld verdient«, sagte ich und griff nach meinem Geldbeutel. »Und ich hoffte, ich könnte mein Exemplar von Rhetorik und Logik zurückkaufen.«

Loren nickte und erhob sich. Groß, glatt rasiert und in seinem dunklen Talar erinnerte er mich an die Figur des rätselhaften schweigsamen Doktors, die in vielen modeganischen Theaterstücken eine Rolle spielt. Ein leichtes Schaudern überlief mich, und ich versuchte nicht daran zu denken, dass das Auftauchen des Doktors stets bedeutete, dass es im nächsten Akt zu einer Katastrophe kam.

Lorren ging zu einem Regal und zog ein kleines Buch hervor. Ich erkannte es auf Anhieb. Auf dem Einband war ein dunkler Fleck noch aus der Zeit, als es in Tarbean bei einem Gewitter feucht geworden war.

Ich nestelte an den Schnüren meines Geldbeutels herum und stellte fest, dass mir die Hände ein wenig zitterten. »Zwei Silberpennys waren es, glaube ich.«

Lorren nickte.

»Darf ich Euch ein wenig mehr bezahlen? Wenn Ihr es nicht für mich gekauft hättet, hätte ich es nie wiederbekommen. Ganz zu schweigen davon, dass Ihr mir mit diesem Kauf die Zulassung sehr erleichtert habt.«

»Zwei Silberpennys genügen vollauf.«

Ich legte die Münzen auf den Tisch. Sie klirrten ein wenig, weil mir die Hände zitterten. Lorren hielt mir das Buch hin, und ich wischte mir die feuchten Handflächen am Hemd ab, bevor ich es nahm. Ich schlug es bei Bens Widmung auf und lächelte. »Vielen Dank, dass Ihr es aufbewahrt habt, Meister Lorren. Es ist mir sehr lieb und teuer.«

»Ein einzelnes Buch aufzubewahren macht keine Mühe«, erwiderte er und kehrte auf seinen Platz zurück. Ich wartete ab, ob er noch etwas sagen würde. Er tat es nicht.

»Ich …« Ich hatte einen Kloß im Hals und musste mich räuspern. »Ich wollte Euch außerdem sagen, dass es mir sehr Leid tut …« Ich scheute davor zurück, die offene Flamme zu erwähnen. »… was ich damals getan habe.«

»Ich nehme deine Entschuldigung an, Kvothe«, sagte Lorren und versenkte sich wieder in das Buch, das er gelesen hatte, als ich hereingekommen war. »Guten Morgen.«

Ich schluckte gegen die Trockenheit in meinem Mund an. »Und ich habe mich außerdem gefragt, ob ich eines Tages wohl wieder Zugang zur Bibliothek erlangen könnte.«

Lorren sah mich an. »Man hat dich mit einer offenen Flamme inmitten meiner Bücher erwischt«, sagte er, und in seinem Tonfall leuchtete ein klein wenig Emotion auf, wie die Ahnung eines Sonnenuntergangs hinter einer schiefergrauen Wolkenwand.

»Meister Lorren«, sagte ich flehend. »Ich wurde an diesem Tag ausgepeitscht und war nicht ganz bei Sinnen. Und Ambrose –«

Lorren hob die langfingrige Hand. Diese bedachtsame Geste schnitt mir schneller das Wort ab, als eine Ohrfeige es vermocht hätte. Sein Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos. »Wem soll ich glauben? Einem Re’lar im dritten Jahr oder einem E’lir im zweiten Monat? Einem Bibliothekar in meinen Diensten oder einem unbekannten Studenten, der des unbefugten Einsatzes der Sympathie für schuldig befunden wurde?«

Ich gewann ein wenig meine Fassung zurück. »Ich habe vollstes Verständnis für Eure Entscheidung, Meister Lorren. Aber gibt es irgendetwas, das ich tun könnte, um mir die Wiederzulassung zu verdienen?«, fragte ich und konnte meine Stimme dabei nicht völlig frei von Verzweiflung halten. »Ich würde mich lieber noch einmal auspeitschen lassen als für ein weiteres Trimester aus der Bibliothek verbannt zu sein. Ich würde Euch alles Geld geben, das ich besitze, obwohl es nicht viel ist. Ich würde unbezahlt hier in der Bibliothek die niedersten Dienste verrichten, um mich würdig zu erweisen. Ich weiß, dass Ihr in der Prüfungszeit unter Personalmangel leidet …«

Lorren sah mich an, seine ruhigen Augen wirkten beinahe neugierig. Ich hatte den Eindruck, dass mein Flehen ihn nicht kalt ließ. »All das würdest du tun?«

»Ja, all das würde ich tun«, sagte ich in vollem Ernst, und Hoffnung blähte mir die Brust. »All das und jede weitere Buße, die Ihr verlangt.«

»Es ist nur eines erforderlich, damit das Hausverbot aufgehoben wird«, sagte Lorren.

Es kostete mich große Mühe, ein wildes Grinsen zu unterdrücken. »Ich tue alles, was Ihr wollt.«

»Beweise die Geduld und Besonnenheit, an der es dir bisher gemangelt hat«, sagte Lorren mit ausdrucksloser Stimme und senkte den Blick wieder auf das Buch, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lag. »Guten Morgen.«

Am nächsten Morgen weckte mich einer von Jamisons Laufburschen in meinem riesigen Bett im Goldenen Ross aus tiefem Schlaf. Er teilte mir mit, dass ich um Viertel vor zwölf auf die Hörner genommen werden sollte. Man beschuldigte mich des ungebührlichen Verhaltens gegenüber einem Mitglied des Arkanums. Ambrose hatte Wind von meinem Lied bekommen.

Die nächsten Stunden plagte mich eine leichte Übelkeit. Genau das hatte ich vermeiden wollen: Eine Gelegenheit sowohl für Hemme als auch für Ambrose, alte Rechnungen mit mir zu begleichen. Und noch schlimmer, wegen dieser Sache würde mein Ansehen bei Lorren noch weiter sinken – was auch immer dabei herauskam.

Ich traf zu früh im Meistersaal ein und war erleichtert, als ich sah, dass dort eine viel entspanntere Atmosphäre herrschte als damals, als man mich wegen des Vergehens gegen Hemme auf die Hörner genommen hatte. Arwyl und Elxa Dal lächelten mir zu. Kilvin nickte. Ich war froh, dass ich unter den Meistern auch Freunde hatte, die einen Ausgleich zu meinen Feinden bildeten.

»Also gut«, sagte der Rektor in geschäftsmäßigem Ton. »Wir haben zehn Minuten bis zur nächsten Prüfung. Ich möchte nicht hinter den Terminplan zurückfallen, also werden wir das jetzt schnell abhandeln.« Er sah sich unter den Meistern um, und alle nickten. »Re’lar Ambrose, begründe deine Beschwerde. Du hast eine Minute.«

»Ihr habt eine Abschrift des Liedes vorliegen«, sagte Ambrose hitzig. »Es ist verleumderisch. Es zieht meinen guten Namen in den Schmutz. Für ein Mitglied des Arkanums ist es eine Schande, etwas Derartiges zu tun.« Er schluckte und biss die Zähne zusammen. »Das ist alles.«

Der Rektor wandte sich an mich. »Hast du irgendetwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?«

»Das Lied ist geschmacklos, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass es sich herumsprechen würde. Ich habe es auch nur ein einziges Mal gesungen.«

»Na gut.« Der Rektor überflog das Blatt vor ihm und räusperte sich. »Re’lar Ambrose, bist du ein Esel?«

Ambrose erstarrte. »Nein, Sir«, sagte er.

»Besitzt du«, er räusperte sich erneut und las nun von dem Blatt ab, »ich zitiere, ›ein ellenlanges Gemächt‹?« Einige Meister konnten sich ein Grinsen kaum verkneifen. Elodin versuchte es erst gar nicht.

Ambrose wurde rot. »Äh, nein, Sir.«

»Dann verstehe ich nicht, was das Problem sein soll«, sagte der Rektor knapp angebunden und ließ das Blatt auf den Tisch fallen. »Ich beantrage, dass der Vorwurf des ungebührlichen Verhaltens in den Vorwurf des groben Unfugs umgewandelt wird.«

»Ich unterstütze den Antrag«, sagte Kilvin.

»Sind alle dafür?« Bis auf Hemme und Brandeur hoben alle die Hand. »Antrag angenomen. Als Strafe wird festgesetzt: Ein förmliches Entschuldigungsschreiben an –«

»Um Himmels willen, Arthur«, unterbrach Hemme ihn. »Verlange doch wenigstens eine öffentliche Entschuldigung.«

Der Rektor funkelte Hemme an und zuckte dann die Achseln. »… ein förmliches Entschuldigungsschreiben, das noch vor Beginn des Herbsttrimesters zu veröffentlichen ist. Sind alle dafür?« Alle hoben die Hand. »Antrag angenommen.«

Der Rektor stützte sich mit den Ellenbogen auf und sah zu Ambrose hinab. »Re’lar Ambrose, du wirst künftig davon absehen, unsere Zeit mit derlei belanglosen Beschwerden zu vergeuden.«

Ambrose kochte vor Wut. Es war, als stünde ich neben einem Ofen. »Jawohl, Sir.«

Dann wandte sich der Rektor an mich. »Und du, E’lir Kvothe, wirst dich in Zukunft anständiger betragen.« Seine strengen Worte wurden dadurch konterkariert, dass Elodin direkt neben ihm begonnen hatte, die Melodie von Esel, dummer Esel zu summen.

Ich schlug den Blick nieder und zwang mich, ein ernstes Gesicht zu wahren. »Jawohl, Sir.«

»Ihr dürft jetzt gehen.«

Ambrose machte auf dem Absatz kehrt und stürmte hinaus, doch noch bevor er durch die Tür war, begann Elodin zu singen:

Er ist ein feiner Esel, man sieht’s am stolzen Schreiten.

Und für ’nen roten Heller darf jeder auf ihm reiten.

Der Gedanke, dass ich mich öffentlich entschuldigen musste, ging mir gewaltig gegen den Strich, aber wie heißt es doch so schön: Ein gutes Leben ist die beste Rache. Und so beschloss ich, nicht mehr an Ambrose zu denken und meinen neuen luxuriösen Lebensstil im Goldenen Ross zu genießen.

Das gelang mir jedoch nur zwei Tage lang. Am dritten Tag hatte das Wirtshaus plötzlich einen neuen Besitzer. Der kleine, stets vergnügte Caverin war durch einen großen, schlanken Herrn ersetzt worden, der mir mitteilte, meine Dienste würden nicht mehr benötigt. Er forderte mich auf, bis zum Einbruch der Dunkelheit meine Gemächer zu räumen.

Das war ärgerlich, aber ich kannte auf dieser Seite des Flusses mindestens vier oder fünf ähnlich gute Wirtshäuser, die jederzeit die Gelegenheit ergreifen würden, einen Musiker zu engagieren, der das Abzeichen des Eolian errungen hatte.

Doch der Wirt des Rosenhof weigerte sich, auch nur mit mir zu sprechen. Der Weiße Hirsch und der Gasthof Zum Kronjuwel waren mit ihren gegenwärtigen Musikern zufrieden und benötigten sonst niemanden. Im Fahlen Pony ließ man mich über eine Stunde lang warten, bis mir klar wurde, dass man mich auf höfliche Weise ignorierte. Als man mich dann auch in der Königseiche abwies, schäumte ich vor Wut.

Das war Ambrose. Ich wusste zwar nicht, wie er das geschafft hatte, aber ich wusste, dass er dahinter steckte. Vielleicht hatte er die Leute bestochen, oder er hatte das Gerücht verbreiten lassen, dass jedes Wirthaus, das einen bestimmten rothaarigen Musiker beschäftigte, künftig von einem großen Kreis reicher Adliger gemieden würde.

So fing ich also an, die übrigen Wirtshäuser auf dieser Seite des Flusses abzuklappern. Die Nobeladressen hatten mich abgewiesen, aber es gab ja auch noch zahlreiche schlichtere Schenken. Im Laufe der nächsten Stunden versuchte ich es im Hirtenruh, im Keiler, in der Fassdaube und im Herold. Ambrose hatte ganze Arbeit geleistet: Niemand war interessiert.

Es war schon früher Abend, als ich zum Anker’s kam, mittlerweile nur noch angetrieben von blanker Wut. Ich war fest entschlossen, es in jedem einzelnen Wirtshaus auf dieser Seite des Flusses zu versuchen.

Anker persönlich stand auf einer Leiter und nagelte außen am Haus ein Brett fest. Ich ging zu ihm, und er sah zu mir hinab.

»Du bist das«, sagte er.

»Wie bitte?«, fragte ich verwirrt.

»Da kam einer vorbei und hat gesagt, wenn man einen rothaarigen Jungen engagierte, hätte das jede Menge Unannehmlichkeiten zur Folge.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf meine Laute. »Das bist doch wohl du.«

»Nun«, sagte ich und richtete den Tragegurt meines Lautenkastens. »Dann will ich deine Zeit nicht vergeuden.«

»Noch vergeudest du sie nicht«, sagte Anker, kam von der Leiter herunter und wischte sich die Hände am Hemd ab. »Der Laden könnte ein bisschen Musik gut vertragen.«

Ich sah ihn forschend an. »Hast du denn gar keine Angst?«

Er spie aus. »Dieses verdammte Geschmeiß bildet sich ein, es könnte die Sonne aufkaufen.«

»Dieser hier könnte sich das wahrscheinlich sogar leisten«, sagte ich grimmig. »Und den Mond noch dazu, und dann würde er beide als Buchstützen verwenden.«

Anker schnaubte verächtlich. »Der kann mir gar nichts anhaben. Solche Leute verkehren hier nicht, also kann er mir auch nicht die Kundschaft vergraulen. Und der Laden gehört mir, also kann er ihn nicht aufkaufen und mich dann rausschmeißen wie den armen alten Caverin …«

»Jemand hat das Goldene Ross aufgekauft?«

Anker sah mich forschend an. »Wusstest du das nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. Es dauerte einen Moment, bis ich diese Neuigkeit verdaut hatte. Ambrose hatte das Goldene Ross gekauft, nur damit ich mein Engagement verlor. Nein, dazu war er zu gerissen. Er hatte die Kaufsumme wahrscheinlich einem Freund geliehen und das Ganze als Unternehmenshandel getarnt.

Wie viel hatte das Wirtshaus gekostet? Tausend Talente? Fünftausend? Ich hatte keine Ahnung, wie viel ein Wirtshaus wie das Goldene Ross wert war. Und noch bestürzender war, wie schnell er das alles auf die Beine gestellt hatte.

Das ließ mich die Dinge mit anderen Augen sehen. Ich wusste zwar, dass Ambrose reich war, doch ehrlich gesagt, war verglichen mit mir jedermann reich. Aber ich hatte nie darüber nachgedacht, wie reich er wohl wirklich war, oder wie er diesen Reichtum dazu einsetzen konnte, mir zu schaden. Ich bekam vorgeführt, welche Macht der Erstgeborene eines reichen Barons ausüben konnte.

Zum ersten Mal war ich froh über den strikten Verhaltenskodex an der Universität. Wenn Ambrose willens war, so weit zu gehen, konnte ich mir nur vage ausmalen, zu welch drastischen Maßnahmen er greifen würde, wäre er nicht gezwungen, den äußeren Schein zu wahren.

Eine junge Frau stieß die Eingangstür des Wirtshauses auf. »Verdammt noch mal, Anker!«, rief sie. »Ich schufte mir hier drin den Rücken krumm, und du faulenzt da draußen. Komm sofort rein!«

Anker murmelte etwas, nahm die Leiter und verstaute sie seitlich am Haus. »Was hast du dem Kerl denn eigentlich getan?«, fragte er. »Seine Mutter geknallt?«

»Ich habe ein Lied über ihn geschrieben.«

Anker öffnete die Tür des Wirtshauses, und das Stimmengewirr aus dem Schankraum drang auf die Straße. »Na, das Lied würde ich ja gerne mal hören.« Er grinste. »Spiel es uns doch mal vor.«

»Wenn du meinst«, sagte ich und konnte mein Glück noch gar nicht fassen. »Aber das gäbe bestimmt Ärger.«

»Ärger«, sagte er und lachte. »Was weiß ein Junge wie du denn schon von Ärger? Ich hatte schon Ärger, da warst du noch gar nicht auf der Welt. Ich hatte schon Ärger, wie du ihn dir überhaupt nicht vorstellen kannst.« Er wandte sich zu mir um, immer noch in der Tür stehend. »Wir hatten lange keine Musik mehr hier. Und ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt. Zu einer anständigen Schenke gehört Musik.«

Ich lächelte. »Das sehe ich genauso.«

»Ehrlich gesagt, würde ich dich auch bloß engagieren, um diesem reichen Schnösel eins auszuwischen«, sagte Anker. »Aber wenn du auch noch gut spielst …« Er zog die Tür weiter auf und verwandelte die Geste in eine Einladung. Ich roch Sägemehl und Arbeiterschweiß und frisches Brot.

Bis zum Ende des Abends war alles geregelt. Ich spielte an vier Abenden die Spanne in dem Wirtshaus und erhielt dafür ein kleines Zimmer im zweiten Stock. Wenn ich zu den Mahlzeiten da war, bekam ich einen Teller von dem, was gerade auf den Tisch kam. Zugegeben, Anker sicherte sich die Dienste eines ausgezeichneten Musikers zum Schleuderpreis, aber es war ein Geschäft, auf das ich mich gerne einließ. Alles war besser, als ins Mews zurückkehren zu müssen und von meinen Schlafsaalgenossen insgeheim verachtet zu werden.

Mein kleines Zimmer befand sich unter zwei Dachschrägen und war nur mit einem kleinen Schreibpult, einem Stuhl und einem einzelnen Regalbrett möbliert. Das Bett war flach und schmal wie mein Bett im Schlafsaal im Mews.

Ich legte mein etwas ramponiertes Exemplar von Rhetorik und Logik auf das Regal. Die Laute stellte ich in eine Ecke. Durch das Fenster sah ich die Lichter der Universität. Ich hatte ein neues Zuhause.

Im Nachhinein schätze ich mich glücklich, dass ich schließlich im Anker’s landete. Das Publikum dort war zwar nicht so zahlungskräftig wie im Goldenen Ross, wusste mich aber viel mehr zu schätzen.

Und während meine Gemächer im Goldenen Ross luxuriös gewesen waren, war mein Zimmer im Anker’s gemütlich. Das ist so wie mit Schuhen. Da will man ja auch nicht die größten, die es gibt. Man will die, die einem passen. Im Laufe der Zeit fühlte ich mich in dem kleinen Zimmer im Anker’s heimischer als irgendwo sonst auf der Welt.

In diesem Augenblick jedoch war ich immer noch außer mir vor Wut darüber, was Ambrose mir alles genommen hatte. Als ich mich also hinsetzte, um mein öffentliches Entschuldigungsschreiben zu verfassen, triefte es förmlich vor giftiger Aufrichtigkeit. Es war ein Kabinettstückchen. Ich schlug mir vor Reue mit Fäusten vor die Brust. Ich war ganz Heulen und Zähneklappern, weil ich einen Kommilitonen verleumdet hatte. Ich fügte den Text des Liedes bei, inklusive zweier neuer Strophen und der vollständigen Noten. Dann entschuldigte ich mich bis ins Detail für jede einzelne vulgäre Andeutung, die in dem Lied versteckt war.

Schließlich gab ich vier kostbare Jots von meinem Ersparten für Papier und Druckerschwärze aus und löste den Gefallen ein, den Jaxim mir noch schuldete. Ein Freund von ihm arbeitete in einer Druckerei, und mit seiner Hilfe stellten wir über hundert Exemplare des Schreibens her.

In der Nacht vor dem Trimesterbeginn brachten Wil, Sim und ich diese dann auf jeder glatten Oberfläche an, die wir beiderseits des Flusses finden konnten. Wir nutzten dazu einen fabelhaften alchemischen Klebstoff, den Simmon eigens für diesen Anlass zusammengebraut hatte. Er ließ sich wie Farbe verstreichen, war nach dem Trocknen aber glasklar und stahlhart. Unsere Anschläge hätte man nur mit Hammer und Meißel wieder wegbekommen.

Im Nachhinein betrachtet war es so töricht, wie wenn man einen schon wütenden Stier noch weiter reizt. Und vermutlich war diese Eselei der Hauptgrund dafür, dass Ambrose mich schließlich zu töten versuchte.

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