Kapitel 14

Der Name des Windes

Der Winter ist für eine fahrende Theatertruppe keine allzu geschäftige Zeit, und Abenthy wusste das zu nutzen und weihte mich endlich gründlich in die Sympathie ein. Doch wie so oft, zumal bei Kindern, erwies sich die Vorfreude als viel aufregender als die Wirklichkeit.

Es wäre falsch zu sagen, dass ich von der Sympathie enttäuscht war. Aber ehrlich gesagt war ich enttäuscht. Zauberei hatte ich mir anders vorgestellt.

Es war nützlich. Das ließ sich nicht bestreiten. Ben nutzte die Sympathie dazu, unsere Vorstellungen zu beleuchten. Er konnte mit ihrer Hilfe ein Feuer entfachen, ohne zu Feuersteinen greifen zu müssen, und auch ohne umständliche Flaschenzüge schwere Lasten anheben.

Doch als ich Ben zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er auf irgendeine Weise den Wind herbeigerufen. Das ging weit über schlichte Sympathie hinaus. Das war Zauberei wie aus dem Bilderbuch. Das war das Geheimnis, das ich mehr als alle anderen ergründen wollte.

Die Schneeschmelze lag nun schon eine ganze Weile hinter uns, und die Truppe fuhr durch die Wälder und Felder des westlichen Commonwealth. Ich fuhr wie üblich vorn auf Bens Wagen mit. Der Sommer hatte soeben beschlossen, einen kleinen Vorgeschmack von sich zu geben, und alles grünte und gedieh.

Eine ganze Weile war es still gewesen. Ben döste vor sich hin, die Zügel locker in einer Hand, doch dann rumpelten wir über einen Stein und wurden beide aus unserem jeweiligen Tagtraum gerissen.

Ben setzte sich auf dem Kutschbock aufrecht hin und sprach mich in seinem Ich-habe-da-eine-kleine-Aufgabe-für-dich-Tonfall an. »Wie würdest du einen Kessel Wasser zum Kochen bringen?«

Ich sah mich um und entdeckte am Straßenrand einen großen Felsbrocken. Ich zeigte darauf. »Der Stein dort ist warm, weil er in der Sonne gelegen hat. Ich würde ihn mit dem Wasser in dem Kessel verbinden und die Wärme des Steins dazu nutzen, das Wasser zum Kochen zu bringen.«

»Stein mit Wasser zu verbinden ist nicht sehr effektiv«, schalt Ben. »Nur etwa jedes fünfzehnte Teilchen würde das Wasser erwärmen.«

»Aber es würde funktionieren.«

»Zugegeben. Aber es wäre schluderig. Du kannst das besser, E’lir.«

Dann begann er Alpha und Beta anzubrüllen, immer ein Zeichen, dass er bester Laune war. Sie nahmen es wie stets gelassen, obwohl er ihnen Dinge vorhielt, die sicherlich kein Esel je freiwillig getan hat, schon gar nicht Beta, die über einen tadellos sittsamen Charakter verfügte.

Mitten in der Schimpfkanonade hielt er inne und fragte: »Wie würdest du diesen Vogel vom Himmel holen?« Er wies auf einen Habicht, der über einem Weizenfeld seine Runden zog.

»Wahrscheinlich gar nicht. Er hat mir nichts getan.«

»Theoretisch.«

»Theoretisch würde ich ihn nicht vom Himmel holen.«

Ben lachte leise. »Schon verstanden, E’lir. Und wie genau würdest du es nicht tun? Einzelheiten, bitte.«

»Ich würde Teren bitten, ihn abzuschießen.«

Ben nickte nachdenklich. »Gut, gut. Es ist jedoch eine Angelegenheit zwischen dir und diesem Vogel. Dieser Habicht« – er zeigte indigniert auf das Tier – »hat sich in unflätiger Weise über deine Mutter geäußert.«

»Oh. Dann verlangt meine Ehre, dass ich persönlich ihren guten Namen verteidige.«

»Allerdings.«

»Habe ich eine Feder?«

»Nein.«

»Tehlu soll –« Auf seinen missbilligenden Blick hin verkniff ich mir den Rest dessen, was ich sagen wollte. »Du machst es mir aber auch nie leicht, oder?«

»Das ist eine ärgerliche Angewohnheit, die ich mir von einem Schüler abgeschaut habe, der klüger war, als ihm gut tat.« Er lächelte. »Was könntest du denn tun, wenn du eine Feder hättest?«

»Ich könnte sie mit dem Vogel verbinden und sie einseifen.«

Ben runzelte die Stirn. »Was für eine Art von Verbindung?«

»Eine chemische. Wahrscheinlich die zweite katalytische.«

Nachdenkliches Schweigen. »Die zweite katalytische.« Er kratzte sich am Kinn. »Um das Fett aufzulösen, das der Feder Geschmeidigkeit verleiht?«

Ich nickte.

Er sah zu dem Vogel empor. »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, sagte er mit gelinder Bewunderung. Ich fasste das als Kompliment auf.

»Nun, wie dem auch sei.« Er sah mich wieder an. »Du hast aber keine Feder. Wie holst du den Habicht vom Himmel?«

Ich dachte einige Minuten lang nach, aber mir fiel nichtsein. Schließlich beschloss ich, gewissermaßen den Spieß umzudrehen.

»Ich würde«, sagte ich ganz beiläufig, »einfach den Wind rufen, und der würde den Habicht dann vom Himmel herabschleudern.«

Ben warf mir einen prüfenden Blick zu, der mir verriet, dass er ganz genau wusste, was ich im Schilde führte. »Und wie würdest du das tun, E’lir?«

Ich spürte, dass er womöglich bereit war, mir das Geheimnis zu offenbaren, das er mir den ganzen Winter über nicht verraten hatte. Und im gleichen Moment kam mir eine Idee.

Ich atmete tief ein und sprach die Worte, die die Luft in meiner Lunge mit der Luft außerhalb verbanden. Ich konzentrierte mich auf das Alar, legte Daumen und Zeigefinger vor meine geschürzten Lippen und blies hindurch.

Von hinten kam ein leichter Windstoß, der mir die Haare zauste und die Plane des Wagens einen Moment lang straffte. Das konnte auch Zufall gewesen sein, aber dennoch spürte ich, wie sich ein frohlockendes Lächeln auf meinem Gesicht breitmachte. Einen kurzen Moment lang grinste ich Ben wie irre an, und er blickte nur ungläubig.

Dann presste mir irgendetwas die Brust zusammen, so als wäre ich tief unter Wasser. Ich versuchte einzuatmen, aber es ging nicht. Leicht verwirrt versuchte ich es weiter. Es war ein Gefühl, als wäre ich gerade mit voller Wucht auf den Rücken geknallt und hätte keine Luft mehr in der Lunge. Plötzlich wurde mir klar, was ich getan hatte. Ich brach am ganzen Leib in kalten Schweiß aus, zerrte verzweifelt an Bens Hemd und zeigte auf meine Brust, meinen Hals, meinen offenstehenden Mund.

Ben blickte mich entsetzt an, alle Farbe wich ihm aus dem Gesicht.

Dann bemerkte ich, wie still es war. Kein Grashalm schien sich zu bewegen. Selbst das Wagengeräusch wirkte gedämpft, wie aus weiter Ferne. Panische Angst packte mich, schob alle Gedanken beiseite. Ich begann meine Kehle zu kratzen, riss mir das Hemd auf. Mein donnernder Herzschlag übertönte das Klingen in meinen Ohren. Ich rang nach Luft, und dabei fuhren mir stechende Schmerzen durch die Brust.

Schneller als ich ihn je gesehen hatte, packte mich Ben bei den Fetzen meines Hemds und sprang vom Kutschbock. Er landete im Gras am Straßenrand und schleuderte mich mit einer Wucht zu Boden, die mir in jedem anderen Fall die letzte Luft aus der Lunge getrieben hätte.

Tränen liefen mir übers Gesicht, und ich warf mich hin und her. Ich wusste, dass ich nun sterben musste. Mit tauben, eiskalten Händen krallte ich mich wie ein Irrer in den Erdboden.

Ich war mir bewusst, dass jemand schrie, aber das schien von sehr weit her zu kommen. Ben kniete über mir, und hinter ihm verdunkelte sich der Himmel. Er wirkte fast abgelenkt, so als lausche er auf etwas, das ich nicht hören konnte.

Dann sah er mich an, und ich erinnere mich nur noch an seine Augen, sie schienen weit entfernt und erfüllt von einer furchtbaren Macht, leidenschaftslos und kalt.

Er sah mich an. Sein Mund bewegte sich. Er rief den Wind.

Wie ein Blatt von einem Blitz – so erbebte ich. Und der Donnerschlag war Schwärze.

Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass Ben mir wieder auf die Beine half. Ich hatte vage mitbekommen, dass die anderen Wagen gehalten hatten und neugierige Gesichter zu uns hinüberspähten. Meine Mutter kam herbei, und Ben ging ihr entgegen, lachte und sagte irgendetwas Beruhigendes. Ich verstand nicht, was sie miteinander sprachen, denn ich konzentrierte mich einzig und allein darauf, tief ein- und auszuatmen.

Die anderen fuhren schließlich weiter, und ich folgte Ben schweigend zu seinem Wagen. Er tat, als müsste er nun die Taue überprüfen, die die Dachplane hielten. Wieder etwas bei Sinnen, half ich ihm dabei, so gut ich konnte. Der letzte Wagen der Truppe überholte uns.

Als ich den Blick hob, sah Ben mich wütend an. »Was hast du dir dabei gedacht?«, zischte er. »Na? Was hast du dir dabei gedacht?« So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er bebte vor Wut. Er holte aus, um mich zu schlagen … und hielt inne. Dann ließ er die Hand wieder sinken.

Er überprüfte auch noch die letzten Taue und stieg wieder auf den Wagen. Da ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen, folgte ich ihm.

Ben ergriff die Zügel, und Alpha und Beta setzten den Wagen in Bewegung. Wir waren jetzt die Letzten. Ben sah stur geradeaus. Ich betastete meine zerrissene Hemdbrust. Zwischen uns herrschte angespanntes Schweigen.

Im Nachhinein betrachtet, war es unfassbar dumm, was ich da getan hatte. Als ich den Atem in meiner Lunge mit der Außenluft verband, machte mir das das Atmen unmöglich. Meine Lunge war nicht stark genug, um so viel Luft zu bewegen. Dafür hätte ich eine Brust wie einen eisernen Blasebalg gebraucht. Ich hätte genauso gut versuchen können, einen Fluss auszutrinken oder einen Berg in die Höhe zu heben.

Wir fuhren gut zwei Stunden lang in diesem beklommenen Schweigen weiter. Die Sonne berührte schon die Baumwipfel, als Ben schließlich tief Luft holte und dann in einem lauten Seufzer ausatmete. Er gab mir die Zügel.

Als ich mich zu ihm umsah, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie alt er war. Ich hatte zwar immer gewusst, dass er wohl auf die sechzig zuging, hatte ihm das bisher aber nie angesehen.

»Ich habe deine Mutter vorhin angelogen, Kvothe. Sie hat nur gesehen, was ganz zum Schluss geschah, und hat sich Sorgen um dich gemacht.« Während er sprach, wich sein Blick nicht von dem Wagen vor uns. »Ich habe ihr gesagt, dass wir etwas für eine Vorführung einstudieren. Sie ist eine gute Frau. Sie hat es nicht verdient, angelogen zu werden.«

Wir fuhren in peinigendem Schweigen weiter. Eine ganze Weile vor Sonnenuntergang erschollen vor uns in der Kolonne plötzlich »Graustein!«-Rufe. Unser Wagen bog ruckelnd aufs Gras am Straßenrand, und das rüttelte Ben aus seinen tiefen Grübeleien.

Er blickte sich um und sah, dass die Sonne noch am Himmel stand. »Warum halten wir so früh? Liegt ein Baum auf der Straße?«

»Graustein.« Ich wies auf den großen Stein, der über den Wagen vor uns aufragte.

»Was?«

»Hin und wieder kommen wir auf der Straße an einem vorbei.« Ich zeigte wieder auf den Graustein, der hinter kleineren Bäumen am Straßenrand aufragte. Wie die meisten Grausteine war es ein grob behauener Quader von etwa vier Meter Höhe. Die Wagen, die sich ringsherum versammelten, wirkten neben der Masse des Steins ziemlich zerbrechlich. »Ich habe auch schon gehört, dass sie stehende Steine genannt werden, aber andererseits habe ich schon viele gesehen, die gar nicht standen, sondern auf der Seite lagen. Wenn wir zu so einem Stein kommen, schlagen wir dort immer unser Nachtlager auf, es sei denn, wir haben es sehr eilig.« Ich verstummte, da ich merkte, dass ich ins Plappern geriet.

»Ich kenne sie unter einem anderen Namen. Wegsteine«, sagte Ben leise. Er sah alt und müde aus. »Und warum haltet ihr, wenn ihr zu so einem Stein kommt?«

»Einfach nur so. Das ist mal was anderes.« Ich überlegte. »Ich glaube, diese Steine sollen Glück bringen.« Ich wünschte, ich hätte noch mehr zu sagen gehabt und hätte das Gespräch am Laufen halten können, da sein Interesse nun einmal geweckt war, aber weiter fiel mir nichts ein.

»Aha.« Ben lenkte Alpha und Beta zu einer Stelle an der Rückseite des Steins, fort vom Gros der anderen Wagen. »Komm zum Abendessen wieder oder gleich anschließend. Wir müssen reden.« Ohne mich noch einmal anzusehen, wandte er sich ab und begann Alpha auszuspannen.

In einer solchen Stimmung hatte ich Ben noch nie erlebt. Ich hatte Angst, dass ich zwischen uns alles kaputtgemacht hatte, und lief zum Wagen meiner Eltern.

Meine Mutter saß vor einem frisch entfachten Feuer und legte mit Bedacht Zweige hinein. Mein Vater saß hinter ihr und massierte ihr den Nacken und die Schultern. Sie sahen auf, als sie mich kommen hörten.

»Darf ich heute Abend bei Ben essen?«

Meine Mutter sah meinen Vater an, dann wieder mich. »Du sollst ihm aber nicht zur Last fallen, Schatz.«

»Er hat mich eingeladen. Und wenn ich jetzt gleich zu ihm gehe, kann ich ihm noch helfen, sein Lager aufzuschlagen.«

Sie bewegte die Schultern, und mein Vater massierte sie weiter. Sie lächelte mich an. »Na gut, aber halt ihn nicht die halbe Nacht wach. Und gib mir einen Kuss.« Sie streckte die Arme aus, und ich umarmte sie und gab ihr einen Kuss.

Mein Vater gab mir auch einen Kuss. »Gib mir mal dein Hemd. Dann habe ich etwas zu tun, während deine Mutter das Abendessen zubereitet.« Er schälte mich heraus und betastete die zerrissenen Stellen. »Dieses Hemd ist ja vollkommen löchrig.«

Ich begann eine Erklärung zu stammeln, aber er winkte ab. »Ich weiß, ich weiß, es geschah alles im Dienste der Kunst. Aber sei künftig bitte vorsichtiger, sonst darfst du es beim nächsten Mal selber flicken. In deiner Truhe liegt ein frisches Hemd. Und sei bitte so nett und bring mir Nadel und Faden mit.«

Ich lief zum Wagen und zog mir ein frisches Hemd über. Während ich Nadel und Faden suchte, hörte ich meine Mutter singen:

Am Abend, wenn die Sonne untergeht,

Schau ich von oben nach dir aus.

Für deine Heimkehr ist’s schon viel zu spät,

Doch liebend treu hüt’ ich das Haus.

Mein Vater antwortete:

Am Abend, wenn das Licht muss scheiden,

Wird’s Zeit, dass ich mich heimwärts wend’.

Der Wind seufzt durch die Trauerweiden.

Wenn nur daheim das Feuer brennt!

Als ich aus dem Wagen stieg, hielt er sie in einer verwegenen Umarmung und küsste sie. Ich legte Nadel und Faden neben mein Hemd und wartete. Es schien ein schöner Kuss zu sein. Ich beobachtete die beiden und war mir vage bewusst, dass ich irgendwann einmal auch selber eine Frau würde küssen wollen und dass ich es, wenn es so weit war, richtig gut machen wollte.

Mein Vater bemerkte mich und setzte meine Mutter wieder auf den Füßen ab. »Das macht dann einen halben Penny fürs Zuschauen, du kleiner Voyeur«, lachte er. »Was machst du denn überhaupt noch hier, Junge? Ich wette den nämlichen halben Penny, dass eine Frage dich aufgehalten hat.«

»Warum halten wir, wenn wir zu einem Graustein kommen?«

»Ein alter Brauch«, sagte er und breitete mit großer Geste die Arme aus. »Und Aberglaube. Was übrigens das gleiche ist. Wir halten, weil es Glück bringen soll und weil alle sich freuen, wenn sie unerwarteterweise mal ein paar Stunden frei haben.« Er hielt inne. »Ich kannte mal ein kleines Gedicht über diese Steine. Wie ging das noch …?

Wie ein Ziehstein selbst im Schlaf so führt

An der alten Straße wohl ein steh’nder Stein

Immer tiefer uns nach Fae hinein.

Und ein Raststein, macht man irgend Rast,

Und ein Graustein führt zu ... irgendwas mit »-ast«.

Mein Vater stand ein, zwei Sekunden lang da, den Blick in die Ferne gerichtet, und zupfte sich die Unterlippe. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Mir fällt nicht mehr ein, wie der letzte Vers endet. O Mann, wie ich Gedichte hasse. Wie soll sich irgendjemand denn einen Text merken, der nicht vertont wurde?« Er zog vor Konzentration die Stirn in Falten und probierte die Worte lautlos auf der Zunge.

»Was ist denn ein Ziehstein?«, fragte ich.

»Das ist eine alte Bezeichnung für einen Magneteisenstein«, erklärte meine Mutter. »Das sind Sterneisenbrocken, die alle anderen Arten von Eisen anziehen. Ich habe so einen vor Jahren mal in einem Kuriositätenkabinett gesehen.« Sie sah zu meinem Vater empor, der immer noch vor sich hin murmelte. »Den Magneteisenstein haben wir in Peleresin gesehen, nicht wahr?«

»Hm? Wie bitte?« Die Frage riss ihn aus seinen Gedanken. »Ja. In Peleresin.« Er zupfte sich wieder die Unterlippe und runzelte die Stirn. »Merk dir eines, mein Sohn, wenn du auch alles andere vergisst. Ein Dichter ist ein Musiker, der nicht singen kann. Worte müssen in den Geist eines Menschen dringen, ehe sie sein Herz rühren können, und der Geist mancher Menschen ist eine elend kleine Zielscheibe. Musik aber rührt das Herz direkt, ganz egal, wie klein oder widerspenstig der Geist des Menschen ist, der ihr lauscht.«

Meine Mutter schnaubte auf nicht ganz damenhafte Weise. »Elitärer Quatsch. Du wirst doch bloß alt.«

Mein Vater blies sich zu einer Pose der Entrüstung auf, doch meine Mutter beachtete ihn gar nicht und sagte zu mir: »Und außerdem ist die einzige Tradition, die fahrende Schauspieler bei Grausteinen halten lässt, die Faulheit. Das Gedicht müsste eigentlich lauten:

Wann immer im Jahre

Ich übers Land fahre,

Such ich einen Grund,

Magnet- oder Raststein,

Dass rasten ich kunnt.

Mein Vater hatte ein dunkles Glimmen in den Augen, als er sich wieder hinter sie setzte. »Alt?«, sagte er leise und begann wieder ihre Schultern zu massieren. »Weib, ich hätte nicht übel Lust, dir zu beweisen, wie sehr du dich irrst.«

Sie lächelte. »Und ich hätte nicht übel Lust, dich nicht daran zu hindern.«

Ich beschloss, sie alleinzulassen, und wollte gerade zu Bens Wagen zurücklaufen, als mein Vater mir nachrief: »Tonleitern morgen nach dem Mittagessen? Und Tinbertin, zweiter Akt?«

»Okay.«

Als ich zu Ben zurückkam, hatte er Alpha und Beta schon ausgespannt und striegelte sie. Ich bereitete das Lagerfeuer vor, schichtete über trockenem Laub pyramidenförmig Zweige und Äste auf. Als ich damit fertig war, sah ich mich nach der Stelle um, an der Ben saß.

Wieder Schweigen. Ich konnte förmlich sehen, wie er die Worte wählte. »Was weißt du über das neue Lied deines Vaters?«

»Das über Lanre?«, fragte ich. »Nicht viel. Du weißt ja, wie er ist. Solange es nicht fertig ist, bekommt es keiner zu hören. Nicht mal ich.«

»Ich meine eigentlich nicht das Lied selbst«, sagte Ben. »Ich meine die Geschichte dahinter. Lanres Geschichte.«

Ich dachte an die Dutzende von Geschichten, die mein Vater im Laufe des vergangenen Jahres gesammelt hatte, und versuchte sie grob zusammenzufassen. »Lanre war ein Prinz«, sagte ich. »Oder ein König. Jedenfalls eine bedeutende Persönlichkeit. Und er wollte mächtiger sein als jedermann sonst auf der Welt. Um der Macht willen verkaufte er seine Seele, aber dann ging irgendetwas schief, und anschließend wurde er dann glaube ich verrückt, oder er konnte nicht mehr schlafen, oder …« Ich verstummte, als ich sah, dass Ben den Kopf schüttelte.

»Er hat seine Seele nicht verkauft«, sagte Ben. »Das ist Unsinn.« Er seufzte tief. »Ich habe das ganz falsch angefangen. Also, lassen wir das mit dem Lied deines Vaters. Wir werden darüber sprechen, wenn es fertig ist.«

Ben atmete tief durch und setzte neu an. »Stell dir einmal vor, du hast da einen leichtsinnigen sechsjährigen Jungen. Was für einen Schaden könnte der anrichten?«

Ich zögerte, da ich nicht wusste, was für eine Antwort er darauf erwartete. Eine freimütige war wahrscheinlich am besten. »Keinen allzu großen.«

»Und nehmen wir mal an, er ist jetzt zwanzig Jahre alt und immer noch leichtsinnig. Wie gefährlich ist er?«

Ich beschloss, mich an die naheliegenden Antworten zu halten. »Immer noch nicht sonderlich, aber schon gefährlicher als zuvor.«

»Und was wäre, wenn du ihm ein Schwert gäbest?«

Mir begann etwas zu dämmern, und ich schloss die Augen. »Dann wäre er sehr viel gefährlicher. Ich verstehe, worauf du hinauswillst, Ben. Ich verstehe es wirklich. Macht an sich ist nichts Schlimmes, und Dummheit ist normalerweise harmlos. Macht und Dummheit zusammen aber – das ist gefährlich.«

»Von Dummheit habe ich nicht gesprochen«, berichtigte mich Ben. »Du bist klug. Das wissen wir beide. Aber auch du kannst gedankenlos sein. Und ein kluger, aber leichtsinniger Mensch ist etwas ausgesprochen Beängstigendes. Und was noch schlimmer ist: Ich habe dir ein paar gefährliche Dinge beigebracht.«

Ben betrachtete das Lagerfeuer, das ich aufgeschichtet hatte, nahm dann ein Blatt, murmelte ein paar Worte und sah zu, wie inmitten des Reisigs und Zunders eine kleine Flamme emporzüngelte. Dann sah er wieder mich an. »Du könntest dich dabei versehentlich umbringen, wenn du auch nur etwas so Simples tätest.« Er lächelte matt. »Oder indem du nach dem Namen des Windes suchst.«

Er wollte noch etwas sagen, hielt dann aber inne und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Er seufzte laut. Als er die Hände fortnahm, sah sein Gesicht müde aus. »Wie alt bist du noch mal?«

»Nächsten Monat werde ich zwölf.«

Er schüttelte den Kopf. »Man vergisst das so leicht. Du verhältst dich nicht wie jemand deines Alters.« Er stocherte mit einem Stock im Feuer herum. »Ich war achtzehn, als ich an die Universität kam«, sagte er. »Und ich war zwanzig, als ich so viel wusste, wie du jetzt schon weißt.« Er starrte ins Feuer. »Es tut mir Leid, Kvothe. Ich muss heute Abend alleine sein. Ich muss nachdenken.«

Ich nickte stumm. Dann holte ich Dreifuß und Kessel, Wasser und Tee aus seinem Wagen und stellte alles bei ihm ab. Er starrte immer noch ins Feuer.

Da ich wusste, dass mich meine Eltern nicht so bald zurückerwarteten, ging ich in den Wald. Ich hatte selber auch viel nachzudenken. Das war ich Ben schuldig. Ich wünschte, ich hätte mehr tun können.

Es dauerte eine ganze Spanne, bis Ben wieder so frohgemut war wie ehedem. Dennoch war es zwischen uns nicht mehr wie zuvor. Wir waren immer noch Freunde, aber es stand etwas zwischen uns, und ich merkte, dass er bewusst einen gewissen Abstand zu mir hielt.

Der Unterricht kam fast zum Erliegen. Ben gebot meinen beginnenden Alchemiestudien Einhalt und schränkte mich auf die normale Chemie ein. Er weigerte sich, mir irgendetwas über die Sygaldrie beizubringen, und beschränkte mich noch darüber hinaus in der Sympathie auf das wenige, das er für ungefährlich hielt.

Ich ärgerte mich über diese Verzögerungen, hielt aber den Mund, in dem Vertrauen darauf, dass er, wenn ich mich nur als verantwortungsbewusst und überaus vorsichtig erwies, sich irgendwann wieder beruhigen würde und es dann so weiterginge wie zuvor. Wir waren eine Familie, und ich wusste, dass Schwierigkeiten zwischen uns letztendlich irgendwann ausgeräumt werden würden. Es brauchte nur Zeit.

Ich ahnte ja nicht, dass unsere Zeit schon zu Ende ging.

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