Kapitel 56

Münzen, Mädchen, Metheglin

Ich bespannte meine Laute neu. Das war eine gute Ablenkung, während Stanchion im Publikum Meinungen einholte. Meine Finger lösten routiniert die gerissene Saite, und währenddessen grübelte ich vor mich hin. Als der Beifall verklungen war, kehrten die Zweifel wieder und nagten an mir. Genügte ein Lied überhaupt, um mein Können unter Beweis zu stellen? Was, wenn die Reaktion des Publikums eher der Kraft des Lieds geschuldet war als meiner Interpretation? Und was war mit dem improvisierten Schluss? Erschien womöglich nur mir allein das Lied vollendet und abgeschlossen?

Als ich die gerissene Saite gelöst hatte, warf ich einen beiläufigen Blick darauf, und alle diese Gedanken waren mit einem Mal wie weggefegt.

Die Saite war weder abgenutzt noch fehlerhaft, wie ich geglaubt hatte. Die Bruchstelle war sauber, so als wäre die Saite dort mit einem Messer oder einer Schere angeritzt worden.

Einen Moment lang starrte ich die Saite sprachlos an. Jemand hatte sich an meiner Laute zu schaffen gemacht? Unmöglich. Ich ließ sie nie aus den Augen. Und außerdem hatte ich die Saiten noch überprüft, ehe ich in der Universität aufgebrochen war, und noch ein weiteres Mal, bevor ich die Bühne betreten hatte. Wie also dann?

Ich dachte hektisch nach. Dann bemerkte ich, dass das Publikum leiser wurde. Ich hob den Blick, und in diesem Moment kam Stanchion auf die Bühne. Schnell erhob ich mich.

Seine Miene war freundlich, ansonsten aber nicht zu deuten. Mir krampfte sich der Magen zusammen, als er zu mir kam und mir auf die gleiche Art die Hand entgegenstreckte wie bei den beiden Musikern, die zuvor durchgefallen waren.

Ich setzte mein schönstes Lächeln auf und ergriff seine Hand. Ich war ja schließlich meines Vaters Sohn. Mit der ganzen Würde eines Edema Ruh würde ich diese Zurückweisung entgegennehmen. Eher tat sich die Erde auf und verschlang diesen Glitzerschuppen, als dass ich mir auch nur eine Spur von Enttäuschung anmerken ließ.

Und irgendwo dort im Publikum saß Ambrose. Aber da musste die Erde schon außer dem Eolian auch noch ganz Imre verschlingen, bevor ich ihm diese Genugtuung liefern würde.

Also lächelte ich strahlend und nahm Stanchions Hand. Und als ich sie schüttelte, spürte ich etwas Hartes auf meiner Handfläche. Ich sah hinab und erblickte ein silbernes Schimmern. Mein Abzeichen!

Meine Miene muss ein Bild für die Götter gewesen sein. Ich sah wieder Stanchion an. Seine Augen funkelten, und er zwinkerte mir zu.

Nun wandte ich mich zum Saal und hielt das Abzeichen empor, so dass alle es sehen konnten. Wieder tosender Applaus. Und diesmal hieß er mich willkommen.

»Du musst mir versprechen«, sagte ein rotäugiger Simmon mit ernster Miene, »dass du dieses Lied nie wieder spielen wirst, ohne mich vorher zu warnen. Nie wieder.«

»War es so schlimm?« Ich lächelte ihn aufgekratzt an.

»Nein!«, rief er. »Es ist nur … Ich habe noch nie –« Ihm versagte die Stimme, und dann neigte er den Kopf und weinte hemmungslos in seine Hände.

Wilem legte ihm tröstend einen Arm um die Schultern, und Simmon lehnte sich ungeniert bei ihm an. »Simmon hat ein weiches Herz«, sagte Wilem. »Ich glaube, er wollte einfach nur sagen, dass es ihm sehr gut gefallen hat.«

Ich sah, dass auch Wilems Augen leicht gerötet waren. Simmon legte ich eine Hand auf den Rücken. »Es hat mich auch umgehauen, als ich es das erste Mal gehört habe«, sagte ich. »Meine Eltern haben es bei einem Mittwinterfest aufgeführt, als ich neun Jahre alt war, und danach war ich zwei Stunden lang in Tränen aufgelöst. Sie mussten meinen Part in Der Schweinehirt und die Nachtigall streichen, weil ich nicht in der Lage war aufzutreten.«

Simmon nickte und machte eine Geste, die wohl besagen sollte, dass es ihm schon wieder besser ginge, er aber nicht damit rechnete, in nächster Zeit wieder reden zu können, und dass ich ihn am besten gar nicht beachten sollte.

Ich wandte mich an Wilem. »Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass es manchen Leuten so nahe geht«, sagte ich.

»Ich empfehle Scutten«, erwiderte Wilem. »Und ich meine mich zu erinnern, dass du gesagt hast, wenn du dein Abzeichen erringst, wirst du uns heute Abend auf einer Woge von Wein nach Hause schwemmen. Da ist es für dich natürlich bedauerlich, dass ich heute, wie der Zufall es will, meine Trinkschuhe mit den Bleisohlen anhabe.«

Ich hörte Stanchion hinter mir auflachen. »Das sind also die beiden Nicht-Kastraten, hm?« Simmon war so verblüfft, als Nicht-Kastrat bezeichnet zu werden, dass er wieder etwas an Fassung gewann und sich die Nase am Ärmel abwischte.

»Wilem, Simmon – das ist Stanchion.« Simmon nickte. Wilem verneigte sich knapp. »Stanchion, könntet Ihr uns helfen, an den Tresen zu kommen? Ich hatte den beiden versprochen, sie zu einem Gläschen einzuladen.«

»Eher Fässchen als Gläschen«, brummte Wilem.

»Ohne die beiden wäre ich heute nicht hier«, sagte ich.

»Ah«, erwiderte Stanchion und grinste. »Sie sind deine Gönner, jetzt verstehe ich!«

Der Siegeskrug erwies sich als identisch mit dem Trostkrug. Er stand für mich bereit, als es Stanchion schließlich gelungen war, mit uns an unsere neuen Plätze am Tresen vorzudringen. Stanchion bestand sogar darauf, Wilem und Simmon zu Scutten einzuladen, da, wie er sagte, auch die Gönner eines Künstlers einen Anspruch auf die Ausbeute seiner Erfolge hätten. Ich dankte ihm dafür.

Während wir auf die Getränke der beiden warteten, versuchte ich, in meinen hohen Krug zu spähen, und musste einsehen, dass ich dazu auf einen Schemel hätte steigen müssen.

»Metheglin«, teilte mir Stanchion mit. »Das musst du probieren. Dort wo ich herkomme, heißt es, mancher Mann würde von den Toten wiederauferstehen, nur um ein Glas davon zu trinken.«

Ich tippte mir an meine nicht vorhandene Hutkrempe und trank einen Schluck, um wieder zur Besinnung zu kommen, und da geschah etwas Wunderbares in meinem Mund: Honig, Nelke, Kardamom, Zimt, Traubensaft, süße Birnen, klares Quellwasser. Das ist alles, was ich über Metheglin sagen kann. Wenn ihr es nie probiert habt, tut es mir Leid, dass ich es nicht genauer beschreiben kann. Und wenn ihr es je probiert habt, muss ich euch nicht daran erinnern, wie es schmeckt.

Ich war erleichtert, als ich sah, dass der Scutten in recht kleinen Gläsern ausgeschenkt wurde, von denen Stanchion sich auch selbst eines bestellt hatte. Wenn meine Freunde Krüge von diesem schweren Wein bekommen hätten, hätte ich eine Schubkarre gebraucht, um sie wieder ans andere Ufer des Flusses zu befördern.

»Auf Savien!«, toastete Wilem.

»Ja, auf Savien!«, sagte Stanchion und hob sein Glas.

»Savien …«, schluchzte Simmon.

»… und auf Aloine«, fügte ich hinzu und stieß mit meinem Krug mit ihnen an.

Stanchion leerte sein Glas in atemberaubender Geschwindigkeit. »Also«, sagte er, »bevor ich dich der allgemeinen Verherrlichung überlasse, muss ich dich etwas fragen. Wo hast du das gelernt? Mit einer Saite weniger zu spielen, meine ich.«

Ich überlegte. »Wollt Ihr die kurze oder die lange Fassung hören?«

»Fürs Erste würde ich mich mit der kurzen begnügen.«

Ich lächelte. »Das habe ich mir irgendwo abgeguckt.« Ich machte eine wegwerfende Geste. »Es ist mir aus meiner ansonsten vergeudeten Jugend geblieben.«

Stanchion sah mich einen Moment lang mit belustigtem Blick an. »Nun, ich hab’s wohl nicht besser verdient. Beim nächsten Mal dann die lange Fassung bitte.« Er atmete tief durch und sah sich im Saal um, und sein goldener Ohrring funkelte im Licht. »Dann werde ich mich mal unter die Leute mischen. Ich muss verhindern, dass sie sich alle gleichzeitig auf dich stürzen.«

Ich lachte. »Vielen Dank, Sir.«

Er schüttelte den Kopf und gab jemandem hinter dem Tresen einen Wink, der ihm daraufhin schnell seinen Humpen reichte. »Vorhin war ›Sir‹ in Ordnung. Aber ab jetzt bitte nur noch Stanchion.« Er sah mich an, und ich lächelte und nickte. »Und wie darf ich dich nennen?«

»Kvothe«, sagte ich. »Einfach nur Kvothe.«

»Auf Kvothe«, toastete Wilem hinter mir.

»Und auf Aloine«, fügte Simmon hinzu und weinte dann wieder leise in seine Armbeuge.

Graf Threpe war einer der Ersten, die zu mir kamen. Aus der Nähe besehen, war er kleiner und wirkte älter. Er war aber quietschfidel, als er über mein Lied sprach.

»Und dann riss die Saite!«, sagte er mit wilder Geste. »Und ich dachte nur noch: Nicht jetzt! Nicht so kurz vor dem Ende! Dann sah ich das Blut an deiner Hand, und mir zog sich der Magen zusammen. Du sahst uns an, dann die Saiten, und es wurde immer stiller im Saal. Und als du dann weitergespielt hast, dachte ich nur: Was für ein tapferer Junge. Aber er ist zu tapfer. Ihm ist nicht klar, dass er das Lied nicht mehr retten kann. Und dennoch hast du es geschafft!« Er lachte, als hätte ich der ganzen Welt ein Schnippchen geschlagen.

Simmon, der nun nicht mehr weinte und mittlerweile schon recht angetüddelt war, lachte mit dem Grafen. Wilem schien nicht so recht zu wissen, was er von dem Mann halten sollte, und beäugte ihn ernst.

»Du musst unbedingt mal bei mir zu Hause auftreten«, sagte Threpe und hob dann schnell eine Hand. »Aber darüber sprechen wir vielleicht später einmal. Und ich werde dich nun auch nicht den ganzen Abend mit Beschlag belegen.« Er lächelte. »Doch bevor ich gehe, muss ich dir noch eine letzte Frage stellen. Wie viele Jahre war Savien bei den Amyr?«

Da musste ich nicht groß überlegen. »Sechs. Drei Jahre sich zu erproben und drei Jahre der Ausbildung.«

»Erscheint dir sechs als eine gute Zahl?«

Ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte. »Sechs ist nicht gerade eine Glückszahl«, sagte ich ausweichend. »Wenn es um eine gute Zahl geht, würde ich eher die Sieben nehmen.« Ich zuckte die Achseln. »Oder die drei.«

Threpe dachte darüber nach und tippte sich dabei mit einem Finger ans Kinn. »Da hast du recht. Aber sechs Jahre bei den Amyr bedeutet auch, dass er im siebten Jahr zu Aloine zurückkehrte.« Er zog eine Hand voll Münzen in mindestens drei unterschiedlichen Währungen aus der Tasche, zählte sieben Silbertalente ab und drückte sie mir in die Hand.

Ich war völlig überrascht. »Mylord«, stammelte ich. »Das kann ich nicht annehmen.« Mich verblüffte weniger, dass er mir Geld gab – mich verblüffte die Summe.

Threpe blickte verwirrt. »Und warum nicht?«

Ich öffnete den Mund, doch mir fehlten die Worte.

Threpe lachte leise und schloss meine Hand um die Münzen. »Das ist keine Belohnung für deinen Auftritt. Also gut, das ist es auch. Aber vor allem soll es dich dazu anspornen, weiter zu üben und noch besser zu werden. Es geht mir um die Förderung der Musik.«

Er zuckte die Achseln. »Weißt du, ein Lorbeer braucht Regen, damit er wachsen kann. Dazu kann ich nicht viel beitragen. Ich kann aber dafür sorgen, dass ein paar Musiker vor dem Regen geschützt sind, nicht wahr?« Er lächelte vielsagend. »Und so kümmert sich Gott um den Lorbeer, und ich kümmere mich um die Musiker. Und klügere Köpfe als ich werden entscheiden, wann die beiden zusammenkommen.«

Ich schwieg einen Moment lang. Dann sagte ich: »Ihr seid mit Sicherheit klüger, als Ihr Euch jetzt darstellt.«

»Nun«, sagte er und gab sich Mühe, nicht geschmeichelt zu wirken. »Dann kann ich nur hoffen, dass sich das nicht herumspricht, denn sonst fangen die Leute noch an, irgendwelche Wunderdinge von mir zu erwarten.« Er machte kehrt und verschwand in der Menge.

Ich steckte die sieben Talente ein und spürte, wie mir eine große Last von den Schultern genommen war. Es war, als wäre meine Hinrichtung aufgeschoben worden. Und das vielleicht buchstäblich, denn ich wusste ja nicht, mit welchen Mitteln Devi mich dazu ermuntern würde, meine Schulden zu begleichen. Ich tat den ersten sorgenfreien Atemzug seit zwei Monaten, und es war ein schönes Gefühl.

Als Threpe gegangen war, kam einer der ausgezeichneten Musiker zu mir und beglückwünschte mich. Anschließend folgte ein kealdischer Geldverleiher, der mir die Hand schüttelte und mir ein Glas spendierte.

Dann kamen ein weiterer Edelmann, ein weiterer Musiker und eine hübsche junge Dame, die ich für meine Aloine hielt, bis ich ihre Stimme hörte. Sie war die Tochter eines örtlichen Geldverleihers, und wir plauderten kurz miteinander, ehe sie dann weiterging. Fast zu spät schon besann ich mich auf meine guten Manieren und küsste ihr die Hand.

Einer nach dem anderen kamen sie, um mich zu begrüßen, mich zu beglückwünschen, mir die Hand zu schütteln, Ratschläge zu geben und ihrem Neid oder ihrer Bewunderung Ausdruck zu verleihen. Obwohl Stanchion Wort hielt und dafür sorgte, dass sie sich nicht alle gleichzeitig auf mich stürzten, bekam ich doch bald Schwierigkeiten, die einzelnen Personen auseinander zu halten. Und der Metheglin machte es nicht einfacher.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich daran dachte, mich nach Ambrose umzusehen. Ich ließ den Blick durch den Saal schweifen, und als ich ihn nicht entdeckte, stupste ich Simmon an. »Wo ist denn unser bester Freund?«, fragte ich.

Simmon blickte mich verständnislos an, und mir wurde klar, dass er schon zu tief ins Glas geschaut hatte, um meinen Sarkasmus noch zu verstehen. »Ambrose«, sagte ich. »Wo ist Ambrose?«

»Der hat sich davon gestohlen«, verkündete Wilem. »Als du mit dem Lied fertig warst, und noch bevor du dein Abzeichen bekommen hast.«

»Er wusste es. Er wusste es«, sagte Simmon triumphierend. »Er wusste, dass du es kriegst, und er konnte es nicht ertragen, es mit anzusehen.«

»Er sah nicht gut aus, als er ging«, erwiderte Wilem mit einer gewissen Gehässigkeit. »Blass und zitternd. Als hätte er gerade herausgefunden, dass ihm den ganzen Abend über einer ins Bier gepinkelt hat.«

»Vielleicht war es ja so«, sagte Simmon mit einer für ihn untypischen Bösartigkeit. »Ich hätte es gern getan.«

»Zitternd?«, fragte ich.

Wilem nickte. »Zitternd. Als ob er einen Schlag in die Magengrube abbekommen hätte. Linten musste ihn auf dem Weg nach draußen sogar stützen.«

Die Symptome kamen mir bekannt vor. Das klang nach Binderfrost. Mir kam ein Verdacht. Ich stellte mir Ambrose vor, wie er mich das schönste Lied spielen sah, das er je gehört hatte, und wie ihm klar wurde, dass ich kurz davor stand, mein Abzeichen zu erringen.

Er konnte nichts Auffälliges unternehmen, aber vielleicht fand er ja einen Faden oder einen langen Holzsplitter vom Tisch. Mit beiden hätte er eine sehr schwache sympathetische Verbindung zu meiner Lautensaite herstellen können – bestenfalls ein Prozent Wirkungsgrad, wahrscheinlich eher nur ein Promille.

Ich stellte mir vor, wie Ambrose seine eigene Körperwärme anzapfte, wie er sich konzentrierte und die Kälte ihm langsam die Arme und Beine hinaufkroch. Ich stellte ihn mir vor, wie er zitterte und immer schwerer atmete, bis schließlich die Saite riss …

… Und ich das Lied all seinen Anstrengungen zum Trotz zu Ende spielte. Bei diesem Gedanken musste ich grinsen. Es war natürlich nur reine Spekulation, aber irgendetwas hatte meine Lautensaite ja schließlich zum Reißen gebracht, und ich zweifelte keine Sekunde, dass Ambrose zu so etwas im Stande war. Ich wandte mich wieder an Simmon, aus dem es förmlich heraussprudelte:

»… es ihm hinstellen und würde sagen: Ich nehm’s dir nicht mehr übel, dass du damals in Chemie meine Salze vertauscht hast und ich anschließend einen Tag lang so gut wie blind war. Nein, wirklich nicht. Vergessen und vergeben! Prost! Ha!« Simmon lachte, ganz aufgekratzt von seinen Vergeltungsphantasien.

Der Strom der Gratulanten ebbte allmählich ab: ein Lautenist, der ausgezeichnete Flötenspieler, den ich auf der Bühne gesehen hatte, ein ortsansässiger Kaufmann. Ein stark parfümierter Herr mit langem, eingeöltem Haar und vintischem Akzent klopfte mir auf den Rücken und drückte mir einen Geldbeutel in die Hand. »Für neue Saiten«, sagte er. Der Mann gefiel mir nicht. Aber den Geldbeutel behielt ich.

»Warum fangen die denn alle wieder damit an?«, fragte mich Wilem.

»Womit?«

»Die Hälfte der Leute, die herkommt, um dir die Hand zu schütteln, kriegt sich gar nicht mehr ein, wie schön doch das Lied gewesen wäre, und die andere Hälfte erwähnt das Lied mit keiner Silbe und redet nur darüber, wie du es geschafft hast, mit einer gerissenen Saite zu spielen. Als ob sie das Lied überhaupt nicht gehört hätten.«

»Die erste Hälfte versteht nichts von Musik«, sagte Simmon. »Nur jemand, der etwas von Musik versteht, kann wirklich würdigen, was unser junger E’lir hier heute Abend geleistet hat.«

Willem brummte nachdenklich. »Dann ist es wirklich so schwer?«

»Ich habe nie gesehen, dass jemand auch nur ein Kinderlied auf einer Laute mit einer gerissenen Saite gespielt hätte«, sagte Simmon.

»Nun ja«, erwiderte Wilem. »Bei dir sah es jedenfalls ganz einfach aus. Und da du jetzt zur Vernunft gekommen bist und von diesem yllischen Obstsaft Abstand genommen hast – darf ich dich zu einem Glas vom feinsten Scutten einladen, dem Getränk der Könige der Kealden?«

Ich wusste das Kompliment zu schätzen, zögerte aber, das Angebot anzunehmen, denn ich hatte erst gerade wieder einen einigermaßen klaren Kopf.

Glücklicherweise blieb es mir erspart, mir eine Ausrede ausdenken zu müssen, denn nun kam Marea zu mir, um mir zu gratulieren. Sie war die wunderschöne Harfenistin mit dem goldblonden Haar, die sich vergeblich um ein Abzeichen beworben hatte. Kurz dachte ich, dass sie vielleicht die Stimme meiner Aloine gewesen war, doch als ich ihr einen Moment lang zugehört hatte, wurde mir klar, dass das nicht sein konnte.

Aber sie war schön, sogar noch schöner als auf der Bühne – was selten genug der Fall ist. Im Gespräch erfuhr ich, dass sie die Tochter eines Stadtrats von Imre war. In dem tiefen Blau ihrer Augen spiegelte sich wunderbar das Blau ihres Kleids wider.

Doch so schön sie auch war, vermochte ich mich ihr doch nicht mit der Konzentration zu widmen, die ihr eigentlich gebührte. Ich wollte dringend vom Tresen fort und die Stimme finden, die bei meinem Lied die Aloine gesungen hatte. Wir plauderten ein wenig, lächelten einander an und gingen dann mit netten Worten auseinander. Als ein Bild sich anmutig bewegender Kurven verschwand sie in der Menge.

»Was war denn das für eine peinliche Nummer?«, fragte Wilem, nachdem sie gegangen war.

»Was?«

»Was?«, äffte er mich nach. »Wie kann man denn dermaßen blind sein? Wenn ein so schönes Mädchen mich auch nur mit einem Auge so angeguckt hätte, wie sie dich mit beiden Augen angeguckt hat … dann hätten wir uns vorsichtig gesagt schon längst ein Zimmer genommen.«

»Sie war nur freundlich zu mir«, protestierte ich. »Und wir haben uns unterhalten. Sie hat mich gefragt, ob ich ihr ein paar Harfengriffe beibringen könnte, aber es ist schon lange her, dass ich das letzte Mal Harfe gespielt habe.«

»Und es wird auch so bald nicht wieder dazu kommen, wenn du weiterhin derartige Avancen ignorierst«, entgegnete Wilem. »Es hätte ja nur noch gefehlt, dass sie allein für dich ihr Dekolleté noch weiter aufgeknöpft hätte.«

Sim beugte sich herüber und legte mir eine Hand auf die Schulter, ganz der besorgte Freund. »Kvothe, genau darüber wollte ich mit dir sprechen. Wenn du tatsächlich nicht bemerkt haben solltest, dass sie an dir interessiert war, solltest du dir vielleicht mal eingestehen, dass du mit Frauen einfach überhaupt nichts anzufangen weißt. Vielleicht wäre die Priesterlaufbahn das Richtige für dich.«

»Ihr seid doch beide besoffen«, wehrte ich mich, wurde aber trotzdem rot. »Habt ihr das mitgekriegt? Sie ist die Tochter eines Stadtrats.«

»Hast du das mitgekriegt«, entgegnete Wilem im gleichen Ton, »wie sie dich angesehen hat?«

Mir war klar, dass ich was Frauen anging, völlig unerfahren war, aber gestehen wollte ich das nicht. Also wischte ich diese Bemerkung mit einer Geste beiseite und stieg von meinem Hocker. »Ich bezweifle irgendwie, dass sie auf eine schnelle Nummer hinterm Tresen aus war.« Ich trank einen Schluck Wasser und richtete meinen Umhang. »Jetzt muss ich endlich meine Aloine finden und mich von ganzem Herzen bei ihr bedanken. Wie sehe ich aus?«

»Was spielt das schon für eine Rolle?«, entgegnete Wilem.

Simmon berührte ihn am Ellenbogen. »Siehst du denn nicht? Er ist auf größere Beute aus als auf irgend so eine tief dekolletierte Stadtratstochter.«

Ich wandte mich mit einer verständnislosen Geste ab und mischte mich unter das Publikum.

Im Grunde hatte ich keine Ahnung, wie ich sie finden sollte. Eine töricht-romantische innere Stimme flüsterte mir ein, dass ich sie schon erkennen würde, wenn ich sie sah. Wenn sie auch nur halb so viel Ausstrahlung hätte wie ihre Stimme, würde sie wie eine Kerze in der Dunkelheit aufleuchten.

Doch als ich darüber nachdachte, flüsterte eine klügere innere Stimme mir etwas anderes ein. Setz bloß keine Hoffnungen darauf, dass irgendeine Frau so sein kann wie die Stimme, die den Part der Aloine gesungen hat. Diese Stimme war zwar nicht tröstlich, aber ich wusste, dass sie klug war. Ich hatte auf den Straßen von Tarbean gelernt, auf sie zu hören, und dort hatte sie mir oft das Leben gerettet.

Ich ging im Eolian umher und suchte, ohne zu wissen, nach wem ich suchen sollte. Einige Leute lächelten oder winkten mir zu. Nach fünf Minuten hatte ich alle Gesichter gesehen, die es hier zu sehen gab, und stieg in den ersten Rang hinauf.

Statt Sitzreihen standen hier auf mehreren Ebenen Tische und Stühle, von denen man einen guten Blick auf die Bühne hatte. Und während ich mich zwischen den Tischen hindurch schlängelte und nach meiner Aloine Ausschau hielt, flüsterte meine klügere innere Stimme: Mach dir keine Hoffnungen. Du erntest weiter nichts als Enttäuschungen. Sie wird nicht so schön sein, wie du sie dir vorstellst, und dann wirst du verzweifeln.

Als ich auch den ersten Rang abgesucht hatte, meldete sich eine neue Furcht. Womöglich war sie gegangen, als ich am Tresen saß und Metheglin und Lob aufsog. Ich hätte unverzüglich zu ihr gehen, vor ihr auf die Knie fallen und ihr von ganzem Herzen danken sollen. Was, wenn sie fort war? Was, wenn niemand wusste, wer sie war oder wohin sie gegangen war? Große Nervosität packte mich, als ich die Treppe zum zweiten Rang erklomm.

Jetzt schau dir an, wohin dich deine Hoffnungen gebracht haben, flüsterte die Stimme. Sie ist fort, und dir bleibt einzig und allein ein Trugbild, mit dem du dich nun peinigen kannst.

Der zweite Rang war recht schmal, kaum mehr als ein Saum an drei Seiten des Saals entlang, hoch über der Bühne. Hier standen die Tische und Bänke weiter auseinander, und es war längst nicht so viel los. Größtenteils saßen hier Pärchen, und ich kam mir wie ein Störenfried vor, als ich von Tisch zu Tisch ging.

Betont beiläufig musterte ich die Gesichter derer, die hier saßen, sich unterhielten und tranken. Je näher ich dem letzten Tisch kam, desto nervöser wurde ich. Diesen konnte ich nicht beiläufig betrachten, denn er stand in einer Ecke. Und das Paar, das dort saß, blond und dunkelhaarig, hatte mir den Rücken zugewandt.

Als ich näher kam, lachte der Blonde auf, und ich erhaschte einen Blick auf ein stolzes, fein geschnittenes Gesicht. Ein Mann. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Frau mit den langen dunklen Haaren. Es war meine letzte Hoffnung. Sie musste meine Aloine sein.

Doch als ich den Tisch umrundet hatte, erblickte ich ihr Gesicht. Oder eher: seines. Es waren zwei Männer. Meine Aloine war fort. Ich hatte sie verloren, und bei dieser Einsicht wurde mir sehr schwer ums Herz.

Die beiden sahen zu mir hoch, und der Blonde lächelte mir zu. »Schau mal, Thria, der junge Lautenvirtuose kommt uns seine Aufwartung machen.« Er beäugte mich von Kopf bis Fuß. »Du bist hübsch. Trinkst du ein Glas mit uns?«

»Nein«, murmelte ich verlegen. »Ich suche jemanden.«

»Du hast jemanden gefunden«, sagte der Mann leichthin und legte mir eine Hand auf den Arm. »Ich heiße Fallon, und das ist Thria. Komm, trink etwas mit uns. Ich verspreche dir, ich werde nicht zulassen, dass Thria dich abzuschleppen versucht. Er hat eine Schwäche für Musiker.« Er warf mir ein charmantes Lächeln zu.

Ich murmelte eine Entschuldigung und machte kehrt, zu verzweifelt, um mir darüber Gedanken zu machen, ob ich mich gerade blamiert hatte oder nicht.

Und als ich zurück zur Treppe ging, ergriff meine klügere innere Stimme die Gelegenheit, mich auszuschelten. Das kommt dabei heraus, wenn man Hoffnungen hegt, sagte sie. Nichts Gutes. Aber dennoch ist es besser, dass du sie verpasst hast. Sie hätte niemals so sein können wie ihre Stimme. Diese Stimme – so schön und schrecklich wie brennendes Silber, wie der Mondschein auf den Steinen im Fluss, wie eine Feder auf deinen Lippen.

Ich ging zur Treppe, den Blick zu Boden gerichtet, damit mich niemand ansprach.

Dann hörte ich eine Stimme. Eine Stimme wie brennendes Silber. Eine Stimme, die mir die Ohren liebkoste. Und als ich hochsah, wurde mir leicht ums Herz, und ich wusste, sie war meine Aloine. Ich schaute sie richtig an, und mein einziger Gedanke war: Schön.

Schön.

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