Kapitel 64

Neun Momente Brennen

Am nächsten Tag unternahm ich, wie es der Zufall wollte, einen Ausflug nach Imre. Und da ich gerade in der Gegend war, schaute ich im Gasthof Zur Eiche vorbei.

Der Wirt kannte keine »Denna« oder »Dianne«, aber ein junges, schönes, dunkelhaariges Mädchen namens »Dinnah« hatte bei ihm ein Zimmer gemietet. Sie war gerade nicht da, aber wenn ich eine Nachricht hinterlassen wollte … Ich lehnte dankend ab, froh, dass ich nun wusste, wo Denna wohnte, und dass es relativ einfach sein würde, sie zu finden.

Doch das erwies sich als schwieriger als gedacht. Die nächsten beiden Tage traf ich sie ebenfalls nicht an, und am dritten Tag teilte mir der Wirt mit, dass Denna mitten in der Nacht abgereist war, mitsamt ihrem Gepäck, aber die Rechnung nicht bezahlt hatte. Nachdem ich sie auch in einigen anderen Gasthöfen in der Nähe nicht gefunden hatte, ging ich zurück zur Universität, ratlos, ob ich mir Sorgen machen oder mich ärgern sollte.

Es kostete mich drei weitere Tage und fünf weitere vergebliche Ausflüge nach Imre: Weder Deoch noch Threpe hatten etwas von ihr gehört. Deoch sagte mir, es sei ihre Art, einfach so zu verschwinden, und nach ihr zu suchen sei etwa so sinnvoll, wie nach einer Katze zu rufen. Mir war klar, dass das ein guter Ratschlag war, aber ich beachtete ihn nicht.

Ich saß in Kilvins Büro und gab mir Mühe, ganz ruhig zu wirken, während der große, bärtige Meister meine Sympathielampe in seinen Händen hin und her drehte. Es war meine erste Einzelarbeit als Handwerker. Ich hatte die Linsen selbst geschliffen. Ich hatte den Emitter selbst dotiert, ganz ohne mir dabei eine Arsenvergiftung zuzuziehen. Doch vor allem waren es mein Alar und mein sygaldrisches Können, was aus diesen Einzelteilen eine funktionstüchtige Sympathielampe für den Handbetrieb machte.

Wenn Kilvin mit dem fertigen Produkt zufrieden war, würde er es verkaufen und mir von dem Erlös etwas abgeben. Doch vor allem würde ich damit zu einem selbständig arbeitenden Handwerker. Dann durfte ich eigene Projekte verfolgen und bekam dafür weitreichende Freiheiten eingeräumt. Das wäre ein großer Aufstieg im Handwerkszentrum, ein Schritt hin zur Beförderung zum Re’lar und zu finanzieller Unabhängigkeit.

Schließlich hob Kilvin den Blick. »Das ist sehr gut gemacht, E’lir Kvothe«, sagte er. »Aber es ist nicht die herkömmliche Bauart.«

Ich nickte. »Ich habe einige Änderungen vorgenommen, Sir. Wenn Ihr sie einschaltet, werdet Ihr sehen –«

Kilvin gab ein Geräusch von sich, etwas zwischen einem belustigten Kichern und einem gereizten Grunzen. Er stellte die Lampe auf der Werkbank ab, ging einmal quer durch den Raum und löschte alle Lampen, bis auf eine. »Weißt du, wie viele Sympathielampen mir im Laufe der Jahre schon in den Händen explodiert sind, E’lir Kvothe?«

Ich schluckte und schüttelte den Kopf. »Nein. Wie viele?«

»Keine einzige«, sagte er mit ernster Stimme. »Ich bin nämlich immer vorsichtig. Ich weiß immer ganz genau, was ich da in der Hand halte. Du musst lernen, Geduld zu haben, E’lir Kvothe. Ein Moment Nachdenken ist so viel wert wie neun Momente Brennen.«

Ich senkte den Blick und gab mir Mühe, angemessen getadelt dreinzuschauen.

Kilvin löschte auch die letzte Lampe, und im Raum war es nun fast vollkommen dunkel. Nach einer kurzen Pause begann von der Handlampe das charakteristische rötliche Licht auszugehen und warf seinen Schein an eine Wand. Das Licht war sehr schwach, schwächer als das einer einzelnen Kerze.

»Der Schalter hat mehrere Stufen«, erläuterte ich schnell. »Es ist eigentlich eher ein Rheostat als ein Schalter.«

Kilvin nickte. »Das ist gut gemacht. Nur die Wenigsten würden bei einer so kleinen Lampe etwas derartiges einbauen.« Das Licht wurde heller, dann wieder schwächer, dann wieder heller. »Auch die Sygaldrie macht einen sehr guten Eindruck«, sagte Kilvin und stellte die Lampe wieder vorsichtig auf der Werkbank ab. »Aber die Linse ist schlecht geschliffen. Das Licht wird kaum gestreut.«

Das stimmte. Statt den ganzen Raum zu erleuchten, wie bei einer solchen Lampe sonst üblich, beleuchtete meine Lampe nur einen kleinen Ausschnitt: eine Ecke der Werkbank und eine Hälfte der schwarzen Tafel, die dahinter an der Wand stand. Der restliche Raum blieb dunkel.

»Das ist Absicht«, sagte ich. »Es gibt solche Laternen – sie werden Blendlaternen genannt.«

Kilvin war nur noch eine dunkle Gestalt auf der anderen Seite des Tisches. »Das ist mir bekannt, E’lir Kvothe«, sagte er in leicht tadelndem Ton. »Diese Laternen werden hauptsächlich für zwielichtige Dinge genutzt. Dinge, mit denen ein Arkanist nichts zu tun haben sollte.«

»Ich dachte, Seeleute nutzen solche Laternen«, sagte ich.

»Einbrecher nutzen sie«, erwiderte Kilvin. »Und Spione, Leute, die im Dunkeln nicht erwischt werden wollen.«

Ich fühlte mich immer unwohler. Ich hatte dieses Gespräch für eine Formalität gehalten. Schließlich wusste ich, dass ich ein fähiger Handwerker war, besser als viele, die viel länger in Kilvins Werkstatt gearbeitet hatten. Doch nun machte ich mir plötzlich Sorgen, dass ich womöglich einen Fehler begangen und fast dreißig Stunden Arbeit an dieser Lampe vergeudet hatte, ganz zu schweigen von über einem Talent meines eigenen Geldes, das ich für das Material ausgegeben hatte.

Kilvin murmelte etwas, und die sechs Öllampen entflammten sich wieder und erfüllten den Raum erneut mit Licht. Ich staunte, wie der Meister so beiläufig eine sechsfache Bindung hinbekam. Und es war für mich ein Rätsel, woher er die Energie dafür genommen hatte.

»Es ist nur, dass eben jeder als erstes Projekt eine Sympathielampe baut«, sagte ich, um die Stille zu überbrücken. »Und jeder folgt dabei dem gleichen alten Schema. Ich wollte etwas anderes machen. Ich wollte sehen, ob ich etwas Neues hinbekomme.«

»Ich glaube, du wolltest unter Beweis stellen, wie überaus klug du bist«, erwiderte Kilvin sachlich-nüchtern. »Du wolltest nicht nur deine Lehre in der Hälfte der üblichen Zeit abschließen, sondern mir auch eine Lampe von einer neuen, verbesserten Bauart präsentieren. Lass uns offen miteinander reden, E’lir Kvothe. Durch diese Lampe wolltest du beweisen, dass du besser bist als der durchschnittliche Lehrling, nicht wahr?« Als er das sagte, sah Kilvin mir direkt in die Augen, und für einen Moment war seine sonst übliche Zerstreutheit wie weggeblasen.

Ich bekam einen trockenen Mund. Dieser Mann hatte einen Geist wie ein Diamant. Wie war ich bloß auf die Idee verfallen, ich könnte ihm etwas vormachen?

»Natürlich wollte ich Euch beeindrucken, Meister Kilvin«, sagte ich und sah zu Boden. »Das versteht sich doch von selbst.«

»Kein Katzbuckeln«, sagte er. »Falsche Bescheidenheit beeindruckt mich nicht.«

Ich hob den Blick und setzte mich aufrecht hin. »Wenn das so ist, Meister Kilvin: Ja, ich bin besser. Ich lerne schneller. Ich arbeite härter. Meine Hände sind geschickter. Mein Geist ist wissbegieriger. Ich bin jedoch davon ausgegangen, dass Ihr das ohnehin wisst und dass ich es Euch nicht sagen muss.«

Kilvin nickte. »So ist es schon besser. Und du hast recht. Ich weiß das.« Er schaltete die Lampe an und richtete sie auf unterschiedliche Dinge im Raum. »Und fairerweise sollte ich sagen, dass ich von deinem Können wirklich beeindruckt bin. Die Lampe ist sauber gearbeitet. Die Sygaldrie ist sehr geschickt. Die Gravuren sind perfekt ausgeführt. Ein sehr cleveres Werk.«

Diese Komplimente ließen mich erröten.

»Aber beim Handwerk geht es um mehr als nur um das Können«, sagte Kilvin und stellte die Lampe wieder ab. »Ich kann diese Lampe nicht verkaufen. Sie würde den falschen Leuten in die Hände geraten. Wenn man einen Einbrecher mit dieser Lampe erwischt, würde das ein schlechtes Licht auf alle Arkanisten werfen. Du hast deine Lehre abgeschlossen und dein Können unter Beweis gestellt.« Ich atmete ein wenig auf. »Aber was dein Urteilsvermögen angeht, hege ich noch gewisse Zweifel. Die Lampe werden wir einschmelzen, denke ich mal.«

»Ihr wollt meine Lampe einschmelzen?« Ich hatte fast eine Spanne lang an der Lampe gearbeitet und beinahe das gesamte Geld, das ich besaß, für das Material ausgegeben. Ich hatte darauf gebaut, dass ich einen schönen Gewinn erzielen würde, wenn Kilvin sie verkaufte, aber nun …

Kilvin sah streng drein. »Wir alle sind dafür verantwortlich, den guten Ruf der Universität zu wahren, E’lir Kvothe. Wenn diese Lampe in die falschen Hände geriete, würde es ein schlechtes Licht auf uns alle werfen.«

Ich überlegte hektisch, wie ich ihn noch umstimmen könnte, aber er scheuchte mich mit einer Handbewegung hinaus. »Los, berichte Manet von den guten Neuigkeiten.«

Entmutigt ging ich in die Werkstatt. Dort empfing mich der Lärm von hundert Händen, die Holz und Stein behauten und auf Metall einhämmerten. Es roch nach Säuren, heißem Eisen und Schweiß. Ich sah Manet in einer Ecke. Er schob gerade Ziegel in einen Brennofen. Ich wartete ab, bis er die Ofentür geschlossen hatte, ein Stück zurückgetreten war und sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn gewischt hatte.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte er. »Hast du bestanden, oder muss ich noch ein Trimester lang bei dir Händchen halten?«

»Ich habe bestanden«, sagte ich. »Aber du hattest recht mit den Modifikationen. Sie haben ihn nicht beeindruckt.«

»Hab ich’s dir doch gesagt«, erwiderte Manet. »Du musst immer bedenken, dass ich schon länger hier bin als zehn andere Studenten zusammen. Wenn ich dir sage, dass die Meister im Grunde ihres Herzens konservativ eingestellt sind, dann rede ich nicht nur so daher. Dann weiß ich das.« Manet fuhr sich mit der Hand durch den struppigen grauen Bart. »Und weißt du schon, was du machen willst, jetzt wo du dein eigener Herr bist?«

»Ich dachte daran, ein paar Emitter für blaue Lampen herzustellen«, sagte ich.

»Damit lässt sich gutes Geld verdienen«, erwiderte Manet. »Aber es ist riskant.«

»Du weißt doch, dass ich vorsichtig bin«, gab ich zurück.

»Riskant bleibt riskant«, sagte Manet. »Ich hatte vor zehn Jahren mal einen Lehrling, wie hieß er noch?« Er überlegte und zuckte dann die Achseln. »Der ist nur einmal kurz ausgerutscht.« Manet schnippte mit den Fingern. »Aber mehr brauchte es nicht. Er hat sich schwere Verbrennungen zugezogen und dabei ein paar Finger verloren. Und danach war er kein großer Handwerker mehr.«

Ich sah mich zu Cammar um. Ihm fehlte ein Auge, und sein Gesicht war von Narben überzogen. »Ich habe verstanden.« Dann sah ich zu dem bräunlichen Metallbehälter hinüber. In den ersten Tagen nach Kilvins Vorführung hatten die Leute einen großen Bogen darum gemacht, aber bald schon hatte er zum Inventar dazugehört. Denn es war doch so: Wenn man achtlos war, gab es im Handwerkszentrum zehntausend verschiedene Möglichkeiten, ums Leben zu kommen. Und der Knochenteer war nur die neuste und aufregendste davon.

Ich beschloss, das Thema zu wechseln. »Darf ich dir eine Frage stellen?«

»Schieß los«, sagte Manet und sah zu dem Brennofen hinüber.

»Würdest du sagen, dass du die Universität so gut kennst wie nur irgend jemand?«

»Könnte man so sagen. Die ganzen schmutzigen kleinen Geheimnisse.«

Ich senkte die Stimme ein wenig. »Also wenn du wolltest, könntest du dich in die Bibliothek einschleichen, ohne dass irgend jemand es mitbekommt?«

Manet kniff die Augen zusammen. »Das könnte ich«, sagte er. »Aber das würde ich natürlich nie tun.«

Ich wollte etwas erwidern, aber er schnitt mir das Wort ab, mehr als nur ein wenig wütend. »Hör mal, mein Junge, darüber haben wir doch schon gesprochen. Du musst einfach Geduld haben. Du musst Lorren Zeit lassen, sich zu beruhigen. Es ist doch erst ein Trimester her …«

»Es ist ein halbes Jahr her!«

Er schüttelte den Kopf. »Das kommt dir nur so lange vor, weil du noch so jung bist. Glaub mir, für Lorren ist es immer noch, als wäre es erst gerade eben geschehen. Du solltest noch versuchen, ein Trimester lang einen guten Eindruck bei Kilvin zu machen, und ihn dann bitten, dass er sich für dich einsetzt. Glaub mir, das wird funktionieren.«

Ich setzte meine beste Armesündermiene auf. »Du müsstest mir einfach nur …«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nein. Nein. Ich werde es dir nicht zeigen. Ich werde es dir nicht erzählen. Ich werde dir keinen Plan zeichnen.« Seine Miene wurde wieder ein wenig milder, und er legte mir eine Hand auf die Schulter, als wollte er etwas von der Schärfe seiner Weigerung zurücknehmen. »Gütiger Tehlu, wozu die Eile? Du bist jung. Du hast alle Zeit der Welt.« Er richtete einen Zeigefinger auf mich. »Aber wenn sie dich rausschmeißen, dann ist das endgültig. Und das werden sie tun, wenn sie dich dabei erwischen, wie du dich in die Bibliothek einschleichst.«

Ich ließ entmutigt die Schultern hängen. »Ja, da hast du wohl recht.«

»Stimmt, ich habe recht«, sagte Manet und drehte sich wieder zu dem Brennofen um. »Und jetzt hau ab. Wegen dir kriege ich noch ein Magengeschwür.«

Ich ging und dachte dabei aufgeregt darüber nach, was Manet mir geraten hatte und was er sich in dem Gespräch hatte entlocken lassen. Mir war klar, dass es im Allgemeinen ein guter Ratschlag war. Wenn ich mich ein oder zwei Trimester lang brav aufführte, würde ich wieder Zugang zur Bibliothek erhalten. Das war der einfache und sichere Weg zum Ziel.

Doch leider konnte ich mir keine Geduld leisten. Ich war mir der Tatsache schmerzlich bewusst, dass dieses Trimester mein letztes sein würde, wenn ich keine Möglichkeit fand, schnell an einen größeren Geldbetrag zu kommen. Nein. Auf Geduld konnte ich nicht setzen.

Auf dem Weg nach draußen warf ich einen Blick in Kilvins Büro und sah ihn dort an seiner Werkbank sitzen und immer wieder meine Lampe an- und ausschalten. Er wirkte wieder zerstreut, und ich hatte keinen Zweifel, dass in der Riesenmaschine seines Hirns gerade ein halbes Dutzend Dinge gleichzeitig abliefen.

Ich klopfte an den Türrahmen. »Meister Kilvin?«

Er wandte sich nicht zu mir um. »Ja?«

»Könnte ich die Lampe vielleicht kaufen?«, fragte ich. »Ich könnte sie gut gebrauchen, wenn ich nachts noch lese. Gegenwärtig gebe ich Geld für Kerzen aus.« Ich überlegte kurz, die Hände zu ringen, ließ es dann aber bleiben, da es allzu melodramatisch gewirkt hätte.

Kilvin überlegte eine ganze Weile. Die Lampe in seiner Hand klickte leise beim An- und Ausschalten. »Du kannst nichts kaufen, was du mit eigenen Händen erschaffen hast«, sagte er. »Die Arbeitszeit und das Material gehören dir.« Er hielt mir die Lampe hin.

Ich betrat sein Büro, um sie entgegenzunehmen, aber er zog die Hand wieder zurück und sah mir in die Augen. »Aber eines muss klar sein«, sagte er mit ernster Miene. »Du darfst sie weder verkaufen noch verleihen. Auch nicht an jemanden, dem du vertraust. Wenn diese Lampe verloren geht, landet sie irgendwann in den falschen Händen und wird dazu genutzt werden, in der Dunkelheit herumzuschleichen und zwielichtige Dinge zu treiben.«

»Darauf gebe ich Euch mein Wort, Meister Kilvin. Niemand außer mir wird sie benutzen.«

Als ich aus der Werkstatt ging, ließ ich mir nichts anmerken, aber innerlich jubilierte ich. Manet hatte mir verraten, was ich wissen musste. Es gab noch einen anderen Zugang zur Bibliothek. Einen geheimen Zugang. Und wenn es ihn gab, konnte ich ihn finden.

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