Kapitel 38

Sympathie im Hauptgebäude

Das Hauptgebäude war das älteste der Universität. Im Laufe der Jahrhunderte war es langsam in alle Himmelsrichtungen gewuchert und hatte sich dabei kleinere Häuser und Höfe einverleibt. Es sah aus wie eine steinerne Flechte, die so viel Fläche wie nur möglich zu bedecken suchte.

Es war nicht leicht, sich dort zurechtzufinden. Flure machten seltsame Schlenker oder endeten unerwartet als Sackgasse. Es konnte durchaus schon einmal zwanzig Minuten dauern, von einem Raum zum anderen zu gelangen, obwohl die beiden nur zwanzig Meter auseinander lagen. Erfahrenere Studenten kannten natürlich Schleichwege und wussten, welche Arbeitsräume und Hörsäle man durchqueren musste, um zu seinem Ziel zu gelangen.

Zumindest einer der Höfe war mittlerweile vollkommen abgeschnitten und ließ sich nur erreichen, indem man aus einem Fenster stieg. Und es ging das Gerücht, dass es Räume gab, die vollkommen zugemauert waren, und in einigen davon befänden sich noch Studenten. Angeblich spukten ihre Geister des Nachts durch die Korridore, bejammerten ihr Schicksal und beklagten sich über das Essen in der Mensa.

Mein erstes Seminar fand im Hauptgebäude statt. Glücklicherweise hatten mich meine Schlafsaalgenossen vor der Undurchschaubarkeit des Gebäudes gewarnt, und so verlief ich mich zwar, traf aber dennoch rechtzeitig ein.

Als ich den Raum endlich gefunden hatte, sah ich zu meinem Erstaunen, dass er einem kleinen Theater ähnelte. Sitzreihen erhoben sich im Halbkreis um eine kleine Bühne. In größeren Städten war meine Truppe in ähnlichen Sälen aufgetreten. Dieser Gedanke wirkte tröstlich, und ich setzte mich auf einen Platz in einer der hinteren Reihen.

Im Geiste ging ich noch einmal die ersten dreißig sympathetischen Verbindungen durch, während sich der Saal allmählich mit Studenten füllte. Sie waren alle mindestens ein paar Jahre älter als ich. Insgesamt waren es etwa fünfzig, und der Hörsaal war nun zu drei Vierteln gefüllt. Einige Studenten hatten Federn und Papier dabei, andere Wachstafeln. Ich hatte nichts mitgebracht, aber das bereitete mir keine allzu großen Sorgen. Ich hatte schon immer ein ausgezeichnetes Gedächtnis gehabt.

Meister Hemme kam herein und trat auf dem Podium hinter einen großen, steinernen Arbeitstisch. In seinem dunklen Talar sah er beeindruckend aus, und binnen Sekunden war das Geflüster der Studenten verstummt.

»Ihr wollt also Arkanisten werden?«, sagte er. »Ihr wollt Magie, wie ihr sie aus Gutenachtgeschichten kennt. Ihr kennt die Lieder über Taborlin den Großen. Flammenwände, magische Ringe, Tarnkappen, Schwerter, die nie stumpf werden, Zaubertränke, die euch fliegen lassen.« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Also, wenn es das ist, worauf ihr aus seid, dann könnt ihr jetzt gehen, denn das werdet ihr hier nicht bekommen. So etwas gibt es nicht.«

In diesem Augenblick kam ein Student herein. Ihm wurde klar, dass er sich verspätet hatte, und er schlüpfte schnell auf einen freien Platz. Hemme entdeckte ihn dennoch. »Hallo, schön, dass du doch noch kommst. Wie ist der werte Name?«

»Gel«, antwortete der Junge ängstlich. »Es tut mir Leid. Ich hatte Schwierigkeiten …«

»Gel«, fiel Hemme ihm ins Wort. »Worum geht es hier?«

Gel starrte ihn einen Moment lang verblüfft an und sagte dann: »Um die Grundlagen der Sympathie?«

»Ich dulde keine Verspätungen. Für morgen bereitest du ein Referat vor über die Entwicklung der Sympathie-Uhr und die Unterschiede zu früheren, ungenaueren Uhren, die auf periodischen Schwingungen beruhten.«

Der Junge wand sich auf seinem Sitz. »Jawohl, Sir.«

Hemme schien mit der Reaktion zufrieden. »Ausgezeichnet. Also: Was ist denn nun Sympathie?«

Ein weiterer Junge eilte herein, einen Block Papier in der Hand. Er war jung, sah höchstens zwei Jahre älter aus als ich. Hemme hielt ihn auf, ehe er es zu einem Sitz schaffte. »Hallo«, sagte er in übertrieben höflichem Ton. »Wer bist denn du?«

»Basil, Sir.« Der Junge stand beklommen auf dem Gang. Ich erkannte ihn wieder. Ich hatte seine Zulassungsprüfung belauscht.

»Basil, du stammst nicht zufällig aus Yll?«, fragte Hemme mit einem Grinsen.

»Nein, Sir.«

»Ahhh«, sagte Hemme mit gespielter Enttäuschung. »Ich habe nämlich gehört, dass einige Stämme dort die Zeit anhand des Sonnenstandes messen und ihnen daher jegliches Gespür für Pünktlichkeit abgeht. Doch da du nicht aus Yll stammst, kann ich für dein Zuspätkommen keine Rechtfertigung erkennen. Und du?«

Basil bewegte stumm den Mund, als wollte er eine Entschuldigung formulieren, überlegte es sich dann aber offenbar anders. »Nein, Sir.«

»Gut. Du hältst morgen ein Referat über den Mondkalender von Yll – verglichen mit dem genaueren, zivilisierten aturischen Kalender, mit dem du mittlerweile vertraut sein solltest. Setzen.«

Basil schlich wie ein geprügelter Hund zum nächstbesten Sitz.

Hemme tat nun nicht einmal mehr so, als würde er mit dem Unterricht beginnen, und lauerte nur noch auf den nächsten verspäteten Studenten. Daher herrschte gespannte Stille im Saal, als sie zögernd hereinkam.

Es war eine junge Frau von etwa achtzehn Jahren. Gewissermaßen eine Rarität. Der Frauenanteil der Studentenschaft lag bei nur etwa zehn Prozent.

Hemme setzte ein Lächeln auf und eilte die Treppe empor, ihr entgegen. »Oh, meine Liebe, nun freut es mich doch sehr, dass wir mit dem heutigen Unterricht noch nicht begonnen haben.« Er geleitete sie am Ellenbogen einige Treppenstufen hinab zu einem freien Platz.

Seine Aufmerksamkeit brachte sie offensichtlich in Verlegenheit. »Es tut mir sehr Leid, Meister Hemme. Das Hauptgebäude ist größer, als ich dachte.«

»Kein Problem«, sagte Hemme freundlich. »Jetzt bist du hier, und allein darauf kommt es an.« Er versorgte sie noch mit Papier und Tinte und kehrte erst dann aufs Podium zurück.

Dort angelangt, schien es, als würde er nun tatsächlich mit seinem Vortrag beginnen. Doch dann sah er sich doch noch einmal zu dem Mädchen um. »Verzeihung, Miss.« Sie war die einzige Frau im Saal. »Wo habe ich nur meine Manieren? Wie heißt du?«

»Ria.«

»Ria – ist das eine Kurzform von Rian?«

»Ja, das ist es«, sagte sie mit einem Lächeln.

»Rian, würdest du bitte die Beine übereinander schlagen?«

Diese Aufforderung erfolgte in so strengem Ton, dass dem Saal nicht einmal ein Kichern entwich. Rian blickte verblüfft und schlug die Beine übereinander.

»Da die Pforten der Hölle nunmehr verschlossen sind«, sagte Hemme in seinem normalen, schrofferen Ton, »können wir beginnen.«

Und das tat er dann tatsächlich und beachtete sie den ganzen Vortrag über nicht mehr, meinem Empfinden nach eher aus Versehen als aus Freundlichkeit.

Es waren lange zweieinhalb Stunden. Ich hörte aufmerksam zu, immer in der Hoffnung, dass er etwas erwähnen würde, was ich nicht schon von Abenthy erfahren hatte. Doch dazu kam es nicht. Bald wurde mir klar, dass Hemme zwar durchaus über die Grundlagen der Sympathie sprach, das jedoch auf einem sehr, sehr einfachen Niveau. Dieses Seminar war für mich reine Zeitverschwendung.

Nach dem Ende der Veranstaltung lief ich die Treppe hinab und fing ihn ab, als er gerade durch eine Hintertür hinausgehen wollte. »Meister Hemme?«

Er sah sich zu mir um. »Oh, unser Wunderkind. Ich wusste ja gar nicht, dass du an meinem Seminar teilnimmst. Es ging dir doch hoffentlich heute nicht zu schnell, oder?«

Ich hütete mich, die Frage aufrichtig zu beantworten. »Ihr habt die Grundlagen wirklich sehr klar und deutlich dargelegt, Sir. Das wird den anderen Studenten einen ausgezeichneten Grundstock an Kenntnissen liefern.« Diplomatie lernt man bei einer Theatertruppe schon als Kind.

Er nahm es als Kompliment und blies sich ein wenig auf. Dann stutzte er. »Den anderen Studenten?«

»Ich fürchte, die Grundlagen sind mir bereits vertraut, Sir. Ich kenne die drei Gesetze, die vierzehn Korollarien und auch die ersten neunzig –«

»Ja, ja, ich verstehe«, schnitt er mir das Wort ab. »Ich habe jetzt zu tun. Wir können morgen darüber sprechen, vor dem Seminar.« Er machte kehrt und ging eiligen Schrittes davon.

Ich machte mich achselzuckend auf den Weg zur Bibliothek. Wenn ich aus Hemmes Vorträgen nichts lernte, konnte ich ebenso gut anfangen, mich selbst fortzubilden.

Als ich diesmal die Bibliothek betrat, saß eine junge Frau am Empfang. Sie war wunderschön, hatte langes, dunkles Haar und strahlende Augen. Eine eindeutige Verbesserung gegenüber Ambrose.

Sie lächelte, als ich näher trat. »Wie ist dein Name?«

»Kvothe«, sagte ich. »Sohn des Arliden.«

Sie nickte und blätterte im Register.

»Und wie heißt du?«, fragte ich, um das Schweigen zu überbrücken.

»Fela«, sagte sie, ohne hochzusehen. Dann nickte sie. »Da bist du ja. Geh nur hinein.«

Zwei Flügeltüren führten aus diesem Vorraum hinaus, die eine mit MAGAZIN, die andere mit PRÄSENZ beschriftet. Da ich den Unterschied nicht kannte, ging ich zu der Tür mit der Aufschrift MAGAZIN.

Ich hatte die Hand schon auf der Türklinke, als Felas Stimme mich zurückhielt. »Entschuldige bitte. Du bist zum ersten Mal hier, nicht wahr?«

Ich nickte, ließ aber die Klinke nicht los. Ich stand so kurz vor dem Ziel meiner Wünsche. Was würde jetzt geschehen?

»Zum Magazin haben nur Mitglieder des Arkanums Zutritt«, sagte sie entschuldigend. Sie erhob sich und ging zu der anderen Flügeltür. »Komm, ich zeige es dir.«

Ich ließ die Türklinke widerstrebend los und ging zu ihr hinüber.

Mit beiden Händen zog sie die schwere, hölzerne Tür auf und gab den Blick frei in einen hohen Saal, in dem lange Tische standen. Dort saßen etwa ein Dutzend Studenten und lasen. Der Raum war vom Licht Dutzender Sympathielampen hell erleuchtet.

Fela beugte sich zu mir und flüsterte: »Das ist der Lesesaal. Hier findest du die nötige Literatur für die meisten Grundkurse.« Mit einem Fuß hielt sie die Tür auf. Sie zeigte auf ein langes Regal mit drei- oder vierhundert Büchern darauf. Es waren mehr Bücher, als ich überhaupt jemals gesehen hatte.

Fela flüsterte weiter: »Es ist ein Ort der Stille. Hier darf allerhöchstens geflüstert werden.« Mir war schon aufgefallen, dass es im Saal beinahe unnatürlich still war. »Wenn du ein Buch haben möchtest, das hier nicht steht, kannst du dort an dem Pult eine Bestellung aufgeben«, sagte sie und zeigte hinüber. »Die suchen das Buch dann heraus und bringen es dir.«

Ich wandte mich um, um ihr eine Frage zu stellen, und da erst bemerkte ich, wie nah sie mir stand. Ich war so gebannt vom Anblick dieses Saals, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass eine der hübschesten Frauen der Universität direkt neben mir stand. »Wie lange dauert es denn normalerweise, bis sie ein Buch gefunden haben?«, fragte ich im Flüsterton und bemühte mich, sie nicht anzustarren.

»Das kommt darauf an«, sagte sie und strich sich das dunkle Haar zurück. »Manchmal ist viel zu tun und manchmal nicht. Und manche sind im Finden von Büchern schneller als andere.« Sie zuckte die Achseln, und ihr Haar strich mir über den Arm. »Normalerweise höchstens eine Stunde.«

Ich nickte, enttäuscht, dass ich keinen Zutritt zur ganzen Bibliothek hatte, aber dennoch aufgeregt, überhaupt dort zu sein. »Danke, Fela.« Ich ging hinein, und sie schloss hinter mir die Tür. Einen Augenblick später kam sie mir jedoch hinterher. »Eins noch«, sagte sie leise. »Das versteht sich eigentlich von selbst, aber da du zum ersten Mal hier bist …« Sie blickte ernst. »Kein Buch verlässt diesen Saal.«

»Natürlich«, sagte ich. »Selbstverständlich.« Das hatte ich nicht gewusst.

Fela lächelte und nickte. »Ich wollte nur sicher gehen, dass du das weißt. Vor ein paar Jahren hatten wir hier einen jungen Herrn, der es gewöhnt war, sich Bücher aus der Bibliothek seines Vaters mitzunehmen. Bis dahin hatte ich nie gesehen, dass Lorren mal die Stirn gerunzelt oder lauter als mit Flüsterstimme gesprochen hätte. Aber als er den Jungen mit einem seiner Bücher auf der Straße erwischte …« Sie schüttelte den Kopf und blickte betreten.

Ich versuchte mir den großgewachsenen, düsteren Meister wütend vorzustellen, aber es gelang mir nicht. »Danke für die Warnung.«

»Gern geschehen.« Fela ging zurück in den Vorraum.

Ich ging zu dem Pult, das sie mir gezeigt hatte. »Wie bestellt man denn hier ein Buch?«, fragte ich den Bibliothekar leise.

Er zeigte mir ein großes Registrierbuch, zur Hälfte gefüllt mit den Namen von Studenten und ihren Bestellungen. Manche Bestellungen benannten genau Titel und Autoren, andere waren eher allgemein gehalten. Ein Eintrag fiel mir ins Auge: »Basil – Yllischer Mondkalender. Geschichte des aturischen Kalenders.« Ich sah mich im Saal um und entdeckte den Jungen aus Hemmes Seminar, wie er sich über ein Buch beugte und Notizen machte.

Ich schrieb: »Kvothe – Die Geschichte der Chandrian. Berichte über die Chandrian und ihre Zeichen: Schwarze Augen, blaue Flammen usw.«

Anschließend ging ich zu den Regalen und betrachtete die Bücher. Ein oder zwei kannte ich von meinen Studien mit Ben. Das Einzige, was man im Saal hörte, war das gelegentliche Schaben einer Feder auf Papier oder das leise, vogelschwingenartige Geräusch, mit dem eine Buchseite umgeblättert wurde. Ich empfand diese Stille nicht als störend, sondern eher als beruhigend.

Schließlich entdeckte ich ein Buch mit dem Titel Das Paarungsverhalten des gemeinen Draccus und nahm es mit an einen der Lesetische. Es gefiel mir, weil auf dem Umschlag ein prächtiger Drache prangte, doch als ich zu lesen begann, stellte ich fest, dass es sich um eine gelehrte Untersuchung einiger weit verbreiteter Mythen handelte.

Ich hatte das erste Kapitel halb durch, in dem erklärt wurde, dass der Mythos des Drachen aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem viel profaneren Draccus beruhte, als ein Bibliothekar an meiner Seite auftauchte. »Kvothe?« Ich nickte, und er reichte mir ein kleines Buch mit blauem Leineneinband.

Als ich es aufschlug, war ich enttäuscht. Es war eine Märchensammlung. Ich blätterte es durch, in der Hoffnung, irgendetwas Nützliches zu finden, aber es enthielt nur süßliche Abenteuergeschichten, die zur Unterhaltung von Kindern bestimmt waren. Man kennt das ja: Tapfere Waisen überlisten die Chandrian, erringen Reichtümer und heiraten Prinzessinnen, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Ich seufzte und schlug das Buch wieder zu. Ich hatte fast so etwas erwartet. Bis die Chandrian meine Familie ermordeten, hatte ich sie auch für weiter nichts als Märchengestalten gehalten. Diese Art der Recherche brachte mich nicht weiter.

Ich ging zurück zur Bestellannahme und überlegte lange, ehe ich einen neuen Eintrag in das Buch schrieb: »Kvothe – Die Geschichte des Amyr-Ordens. Die Herkunft der Amyr. Die Bräuche der Amyr.« Ich war am Ende der Zeile angelangt, und statt eine neue Zeile zu beginnen, hielt ich inne und sah den Bibliothekar an, der hinter dem Pult stand. »Ich nehme alles über die Amyr«, sagte ich.

»Wir haben gerade sehr viel zu tun«, sagte er mit Blick auf den Saal. Seit meiner Ankunft war ein gutes Dutzend weiterer Studenten hereingekommen. »Aber sobald wir dazu kommen, bringen wir dir etwas.«

Ich kehrte an den Tisch zurück, blätterte noch einmal in dem Kinderbuch und widmete mich dann wieder dem Bestiarium. Diesmal musste ich länger warten, und ich las gerade etwas über den seltsamen Sommerschlaf der Susquiner, als ich eine leichte Berührung an meiner Schulter spürte. Ich sah mich um, erwartete, einen Bibliothekar mit einem Arm voller Bücher zu sehen, oder vielleicht Basil, der gekommen war, um Hallo zu sagen. Daher erschreckte mich der Anblick Meister Lorrens, der in seinem dunklen Talar vor mir aufragte.

»Komm mit«, sagte er leise und gab mir einen Wink.

Ohne zu wissen, worum es ging, folgte ich ihm aus dem Lesesaal hinaus. Wir gingen hinter der Bestellannahme eine Treppe hinunter in einen kleinen, unscheinbaren Raum, in dem ein Tisch und zwei Stühle standen. In der Bibliothek gab es viele solche kleine Zimmer, in denen die Mitglieder des Arkanums ungestört studieren konnten.

Lorren legte das Bestellbuch auf den Tisch. »Mir ist deine Bestellung aufgefallen, als ich einem der neueren Bibliothekare zur Hand ging«, sagte er. »Du interessierst dich für die Chandrian und die Amyr?«

Ich nickte.

»Hat das etwas mit einer Aufgabe für einen deiner Lehrer zu tun?«

Einen Moment lang war ich drauf und dran, ihm die Wahrheit zu sagen. Das, was mit meiner Familie geschehen war. Die Geschichte, die ich in Tarbean gehört hatte.

Manets Reaktion darauf, als ich die Chandrian erwähnt hatte, hatte mir jedoch gezeigt, wie töricht das gewesen wäre. Bevor ich die Chandrian mit eigenen Augen gesehen hatte, hatte ich auch nicht an sie geglaubt. Wenn jemand behauptet hätte, sie gesehen zu haben, hätte ich ihn für verrückt gehalten.

Lorren hätte bestenfalls geglaubt, dass ich an Wahnvorstellungen litt, und schlimmstenfalls, dass ich ein dummer kleiner Junge wäre. Ich war mir mit einem Mal sehr bewusst, dass ich mich hier an einem Eckpfeiler der Zivilisation befand und mit dem leitenden Bibliothekar der Universität sprach.

Das rückte die Dinge in ein anderes Licht. Die Erzählungen eines alten Mannes in einer Hafenschenke waren mit einem Mal ganz weit weg und vollkommen belanglos.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Es ist bloß Neugier.«

»Ich habe großen Respekt vor Neugier«, sagte Lorren in ausdruckslosem Ton. »Vielleicht kann ich deine Neugier stillen. Die Amyr waren ein Teil der Kirche, als das Aturische Reich noch stark und mächtig war. Ihr Credo lautete: Ivare Enim Euge – was sich grob mit ›zur Ehre Gottes‹ übersetzen lässt. Sie waren fahrende Ritter, aber auch eine unabhängige Streitmacht. Sie durften in geistlichen wie in weltlichen Verfahren als Richter fungieren. Und sie alle waren, in unterschiedlichem Grade, dem Gesetz selbst nicht unterworfen.«

Das wusste ich größtenteils bereits. »Aber woher kamen sie?«, fragte ich.

»Sie entstanden aus einer Gruppe reisender Richter«, sagte Lorren. »Männern, die von Stadt zu Stadt zogen und den kleineren Ortschaften des Aturischen Reichs die Herrschaft des Rechts brachten.«

»Dann stammten sie aus Atur?«

Er sah mich an. »Woher sollten sie denn sonst stammen?«

Ich brachte es nicht fertig, ihm die Wahrheit zu sagen: dass ich den Erzählungen eines alten Mannes wegen die Vermutung hegte, dass die Amyr Wurzeln hatten, die weit älter waren als das Aturische Reich. Und dass ich hoffte, es gebe sie irgendwo auf der Welt immer noch.

Lorren nahm mein Schweigen als eine Antwort. »Ich gebe dir einen Rat«, sagte er freundlich. »Die Amyr sind dramatische Gestalten. Wenn wir jung sind, tun wir alle so, als wären wir Amyr, und schlagen Schlachten mit Schwertern aus Weidenruten. Es ist ganz natürlich, dass sich Jungen von diesen Geschichten angezogen fühlen.« Er sah mir in die Augen. »Ein Mann jedoch, ein Arkanist, muss sich auf die Gegenwart konzentrieren. Und er muss sich um praktische Belange kümmern.«

Er sah mir weiter in die Augen. »Du bist jung. Viele werden dich allein danach beurteilen.« Ich atmete scharf ein, doch er hob eine Hand. »Ich unterstelle dir nicht, dass du dich kindischen Fantasien hingibst. Ich rate dir vielmehr, nicht so zu wirken, als würdest du dich kindischen Fantasien hingeben.« Er sah mich mit festem Blick an, und sein Gesichtsausdruck war dabei so ruhig wie eh und je.

Ich dachte daran, wie Ambrose mich behandelt hatte, und nickte, und ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg.

Lorren nahm eine Feder und strich meine Bestellung durch. »Ich habe großen Respekt vor Neugier«, sagte er noch einmal. »Andere sehen das jedoch anders. Ich möchte nicht, dass dein erstes Trimester von derlei Dingen unnötig kompliziert wird. Es wird für dich vermutlich auch so schon schwierig genug.«

Ich schlug den Blick nieder und kam mir vor, als hätte ich ihn irgendwie enttäuscht. »Ich verstehe. Vielen Dank, Sir.«

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