Kapitel 45

Zwischenspiel: Eine Kneipengeschichte

Auf einen Wink von Kvothe hin wischte der Chronist die Spitze seiner Feder an einem Lappen ab und schüttelte sich die Schreibhand aus. Bast streckte sich.

»Ich hatte schon fast vergessen, wie schnell das alles geschah«, sagte Kvothe nachdenklich. »Das waren wahrscheinlich die ersten Geschichten, die über mich erzählt wurden.«

»An der Universität erzählt man sie sich immer noch«, sagte der Chronist. »Über das Seminar, das Ihr unterrichtet habt, kursieren mindestens drei verschiedene Versionen. Und mit der Auspeitschung ist es ebenso. Fing man damals an, Euch Kvothe den Blutlosen zu nennen?«

Kvothe nickte. »Wahrscheinlich.«

»Wenn wir schon Fragen stellen, Reshi«, sagte Bast etwas kleinlaut. »Ich habe mich gefragt, warum du nicht auf die Suche nach Skarpi gegangen bist.«

»Was hätte ich denn tun sollen, Bast? Mir das Gesicht mit Lampenruß einschmieren und eine nächtliche Befreiungsaktion starten?« Kvothe lachte freudlos auf. »Sie hatten ihn wegen Ketzerei festgenommen. Ich konnte weiter nichts tun als zu hoffen, dass er tatsächlich Freunde in der Kirche hatte.«

Kvothe atmete tief durch und seufzte. »Aber der einfachste Grund dafür ist wohl auch der unbefriedigendste. Die Wahrheit ist doch: Ich lebte nicht in einer Geschichte.«

»Ich kann dir gerade nicht ganz folgen, Reshi«, sagte Bast.

»Denk doch mal an all die Geschichten, die du gehört hast, Bast. Da hast du einen kleinen Jungen, den Helden. Seine Eltern werden ermordet. Er bricht auf, um Rache zu nehmen. Was geschieht als Nächstes?«

Bast zögerte verwirrt. An seiner Statt antwortete der Chronist: »Er findet Hilfe. Ein kluges, sprechendes Eichhörnchen. Einen alten, betrunkenen Schwertkämpfer. Einen verrückten Einsiedler.«

Kvothe nickte. »Genau. Er stößt auf den verrückten Einsiedler, erweist sich als würdig und lernt die Namen aller Dinge, genau wie Taborlin der Große. Und wenn ihm dieser mächtige Zauber dann zu Gebote steht – was tut er dann?«

Der Chronist zuckte die Achseln. »Er findet die Bösewichte und bringt sie zur Strecke.«

»Aber selbstverständlich«, sagte Kvothe mit großer Geste. »Wir wissen praktisch schon am Anfang, wie es ausgehen wird. Das gefällt uns so an Geschichten. Sie sind so klar und einfach, wie unser wahres Leben das niemals ist.«

Kvothe beugte sich vor. »Wenn das hier eine Kneipengeschichte wäre, bestehend aus den üblichen Halbwahrheiten und sinnlosen Abenteuern, würde ich euch erzählen, dass ich meine Zeit an der Universität in einem Zustand reiner Hingabe verbrachte. Ich hätte den stets sich ändernden Namen des Windes gelernt, wäre dann losgeritten und hätte Rache an den Chandrian genommen.« Kvothe schnippte mit den Fingern. »Einfach so. Das wäre zwar unterhaltsam, aber es entspräche nicht der Wahrheit. Die Wahrheit ist: Ich hatte drei Jahre lang um meine Eltern getrauert, und allmählich ließ der Schmerz nach.«

Kvothe machte eine versöhnliche Geste und lächelte gezwungen. »Ich will euch nichts vormachen. Es gab Nächte, in denen ich schlaflos und schrecklich einsam in meinem schmalen Bett im Schlafsaal des Mews lag, Nächte, in denen mir ein Kummer die Kehle zuschnürte, der so übermächtig war, dass ich dachte, ich würde daran ersticken.

Und manchmal, wenn ich eine Mutter mit einem Kind auf dem Arm sah oder einen Vater, der mit seinem Sohn scherzte, wallte eine mächtige Wut in mir auf, und ich nahm wieder den Geruch von Blut und versengtem Haar wahr.«

Kvothe zuckte die Achseln. »Aber in meinem Leben ging es um mehr als nur um Rache. Ich musste viele Hindernisse überwinden. Meine Armut. Meine niedere Herkunft. Und die Feinde, die ich mir an der Universität machte, stellten eine weit größere Gefahr für mich dar als die Chandrian.«

Er bedeutete dem Chronisten mit einer Geste, wieder zur Feder zu greifen. »Aber daran sehen wir, dass selbst die fantastischste Geschichte ein Fünkchen Wahrheit enthält, denn ich stieß tatsächlich auf jemanden, der diesem verrückten Einsiedler sehr nahe kam.« Kvothe lächelte. »Und ich war fest entschlossen, den Namen des Windes zu lernen.«

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