Kapitel 90

Halbfertige Häuser

In den nächsten Nächten erkundete ich mit Auri den Untergrund. Ich sah viele interessante Dinge, und auf manche davon werde ich sicherlich später noch zu sprechen kommen, doch vorläufig genügt es wohl, wenn ich sage, dass sie mir in diesen Nächten das ganze riesige und vielgestaltige Unterding zeigte. Sie führte mich in den Tiefgang, nach Hopse, in den Wald, nach Druntdrunt, Grillistan …

Die Namen, die sie diesen Orten gegeben hatte und die zunächst unsinnig wirkten, erwiesen sich als sehr passend, als ich schließlich sah, was sie bezeichneten. Der Wald hatte nichts mit einem Wald zu tun. Es war vielmehr eine Reihe zerfallender Säle und Räume, deren Decken von schweren hölzernen Stützbalken gehalten wurden. In Grillistan lief ein Wasserrinnsal an einer Mauer hinab. Die Feuchtigkeit lockte Grillen an, die den langgestreckten, niedrigen Raum mit ihrem Zirpen erfüllten. Hopse war ein schmaler Korridor, durch dessen Boden drei tiefe Querrisse verliefen. Ich verstand den Namen erst, als ich sah, wie Auri nacheinander über alle drei hinweghüpfte, um ans andere Ende zu gelangen.

Einige Tage später führte mich Auri nach Schwaden, einem Labyrinth aus sich überkreuzenden Gängen. Obwohl wir uns hier mindestens dreißig Meter unter der Erde befanden, wehte ein steter Wind, der den Geruch von Staub und Leder mit sich trug.

Dieser Wind war der Anhaltspunkt, nach dem ich gesucht hatte. Er verriet mir, dass ich meinem eigentlichen Ziel nun ganz nah war. Jetzt musste ich nur noch den Gang finden, der dorthin führte.

Doch es war zum Mäuse melken. Die Gänge schlängelten sich oder führten in weitem Bogen in die Irre. In den wenigen Gängen, die nicht von ihrem Kurs abwichen, kam man irgendwann nicht mehr weiter. Etliche Gänge führten plötzlich senkrecht auf- oder abwärts, so dass ich ihnen nicht mehr folgen konnte. In einem Gang versperrte ein schweres, in den Fels eingelassenes Eisengitter den Weg. Ein anderer Gang wurde immer schmaler, bis er kaum noch eine Handspanne breit war. Ein dritter endete an einer Stelle, an der der Boden eingestürzt war.

Nach tagelanger Suche fanden wir schließlich eine uralte, vermoderte Tür. Das klamme Holz zerfiel, als ich versuchte sie zu öffnen.

Auri rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. »Ich würde mir die Knie aufscheuern.«

Als ich mit meiner Sympathielampe hineinleuchtete, sah ich, was sie meinte. Die Decke des Gangs dahinter senkte sich bis auf die Höhe von etwa einem Meter ab.

»Wartest du hier auf mich?«, fragte ich, zog meinen Umhang aus und krempelte mir die Ärmel hoch. »Ich weiß nicht, ob ich ohne dich wieder aus dem Unterding hinausfinden würde.«

Auri nickte und blickte besorgt. »Rein ist immer einfacher als raus. Es gibt da enge Stellen. Du könntest stecken bleiben.«

Ich gab mir Mühe, nicht daran zu denken. »Ich schau mich nur mal um. In spätestens einer halben Stunde bin ich wieder zurück.«

Sie legte den Kopf auf die Seite. »Und was, wenn nicht?«

Ich lächelte. »Dann musst du kommen und mich retten.«

Sie nickte und sah mich dabei an wie ein ernstes Kind.

Ich klemmte mir den Griff meiner Handlampe zwischen die Zähne und leuchtete mit dem rötlichen Licht in die Finsternis vor mir. Dann ging ich auf alle Viere und rutschte mit den Knien über den unebenen Steinboden.

Einige Biegungen später wurde die Decke noch niedriger, zu niedrig, um auf allen Vieren weiter zu gehen. Ich überlegte eine ganze Weile, legte mich dann auf den Bauch und robbte weiter, die Lampe vor mir her schiebend. Jede Bewegung riss jetzt an den frischen Stichen auf meinem Rücken.

Wenn ihr noch nie tief unter der Erde wart, könnt ihr vermutlich nicht nachempfinden, wie das ist. Die Dunkelheit ist vollkommen und beinahe mit Händen zu greifen. Sie lauert außerhalb des Lichtscheins, stets bereit, hereinzuströmen wie eine plötzliche Flut. Die Luft ist unbewegt und abgestanden. Es gibt keine anderen Geräusche außer denen, die man selber macht. Der eigene Atem klingt laut in den Ohren. Das Herz pocht. Und die ganze Zeit ist man sich nur allzu bewusst, wie Tausende Tonnen Erde und Stein über einem lasten.

Dennoch schlängelte ich mich weiter, auch wenn ich jetzt nur noch sehr mühsam vorankam. Meine Hände waren dreckig, und Schweiß lief mir in die Augen. Der Durchgang wurde noch schmaler, und ungeschickterweise nahm ich eine Hand nach hinten und musste dann feststellen, dass ich sie nicht mehr nach vorne durchbekam. Kalter Schweiß brach mir aus, und ich geriet in Panik. Ich versuchte auf Biegen und Brechen, meine Hand wieder nach vorne zu bekommen …

Und etliche schreckliche Minuten später gelang es mir auch. Nachdem ich einen Moment lang dort zitternd in der Dunkelheit gelegen hatte, schlängelte ich mich weiter.

Und fand, was ich gesucht hatte …

Nach dem Ausstieg aus dem Unterding begab ich mich zum Mews. Ich stieg durch ein Fenster ein und knackte eine abgeschlossene Tür im Frauenflügel. Dann klopfte ich ganz leise bei Fela an, damit ich auch ja niemanden versehentlich aufweckte. Männer durften den Frauenflügel des Gebäudes nur in weiblicher Begleitung betreten, und nach Einbruch der Dunkelheit war ihnen der Zutritt gänzlich verboten.

Ich klopfte dreimal, und dann hörte ich, dass sich in Felas Zimmer etwas regte. Einen Moment später öffnete sie die Tür, ihr langes Haar wild durcheinander. Mit verschlafenen Augen spähte sie in den Flur hinaus. Als sie mich erblickte, blinzelte sie ungläubig.

Sie war nackt, das war nicht zu übersehen, und hatte sich nur schnell ein Laken umgeworfen. Ich gebe zu, dass der Anblick der halbnackten Fela, wie sie mit ihren prachtvollen Brüsten dort vor mir stand, einer der bestürzendsten erotischen Momente meines jungen Lebens war.

»Kvothe?«, sagte sie und wahrte bemerkenswert die Fassung. Sie versuchte sich weiter zu verhüllen, was sich aber als schwierig erwies, denn als sie das Laken bis an den Hals emporzog, entblößte sie dabei ihre langen, wohlgeformten Schenkel. »Wie spät ist es? Wie bist du hier reingekommen?«

»Du hast gesagt, wenn ich einmal etwas bräuchte, könnte ich jederzeit zu dir kommen«, setzte ich an. »Hast du das ernst gemeint?«

»Ja, natürlich«, erwiderte sie. »Wie siehst du denn aus? Was ist mit dir passiert?«

Ich sah an mir hinab und bemerkte erst jetzt, in welchem Zustand ich mich befand. Ich war vollkommen verdreckt, zumal die Vorderseite meiner Kleidung, mit der ich über den Boden gekrochen war. An einem Knie hatte ich mir die Hose aufgerissen, und es sah aus, als blutete ich dort. Ich war so aufgeregt, dass ich es überhaupt nicht bemerkt hatte, und auch nicht daran gedacht hatte, mir meine neuen Kleider anzuziehen.

Fela trat einen Schritt beiseite und hielt mir die Tür auf. Ein leichter Luftzug drückte das Laken an ihren Leib und ließ für einen Moment all ihre Kurven erkennen. »Magst du reinkommen?«

»Ich kann nicht bleiben«, sagte ich, ohne darüber nachzudenken, und kämpfte mit dem Verlangen, sie anzugaffen. »Du musst dich morgen Nachmittag mit einem Freund von mir in der Bibliothek treffen. Um fünf Uhr. Vor der Tür mit den vier Kupferplatten. Geht das?«

»Da habe ich ein Seminar«, sagte sie. »Aber wenn es wichtig ist, kann ich es schwänzen.«

»Danke«, sagte ich leise und verschwand.

Es besagt eine ganze Menge über das, was ich in den Gängen unter der Universität entdeckt hatte, dass mir erst auf halber Strecke zu meinem Zimmer im Anker’s klar wurde: dass ich soeben die Einladung der halbnackten Fela ausgeschlagen hatte, mit auf ihr Zimmer zu kommen.

Am nächsten Tag schwänzte Fela ihr Seminar über Höhere Geometrie und machte sich stattdessen auf den Weg in die Bibliothek. Sie ging etliche Treppen hinab und dann durch ein Labyrinth aus Korridoren und Regalen, um schließlich zu der einzigen Steinwand im ganzen Gebäude zu gelangen, vor der kein Bücherregal stand. Dort befand sich, unbeweglich wie ein Berg, die Tür mit den vier Kupferplatten und der Aufschrift Valaritas.

Fela sah sich nervös um und trat von einem Fuß auf den anderen.

Nach einer Weile trat eine Gestalt aus der Dunkelheit in den rötlichen Lichtschein ihrer Handlampe. Die Gestalt trug einen Umhang mit Kapuze.

Fela lächelte nervös. »Hallo«, sagte sie leise. »Ein Freund hat mich gebeten …« Sie hielt inne und versuchte das Gesicht unter dem Kapuzenschatten zu erkennen.

Ihr ahnt schon, wen sie da sah.

»Kvothe«, sagte sie ungläubig und blickte sich in plötzlicher Panik um. »Mein Gott, was machst du denn hier?«

»Hausfriedensbruch«, erwiderte ich ein wenig unernst.

Sie packte mich und zerrte mich durch ein Labyrinth aus Regalwänden in einen der kleinen Leseräume, die es in der ganzen Bibliothek gab. Sie stieß mich hinein, schloss die Tür hinter uns und lehnte sich dagegen. »Wie bist du hier reingekommen? Lorren kriegt einen Tobsuchtsanfall, wenn er das erfährt! Willst du, dass sie uns beide rausschmeißen?«

»Dich würden sie nicht rausschmeißen«, erwiderte ich leichthin. »Du hast dich allenfalls der Verschleierung schuldig gemacht. Dafür kann man nicht rausgeschmissen werden. Du würdest wahrscheinlich mit einer Geldstrafe davonkommen, Frauen werden hier ja nicht ausgepeitscht.« Ich bewegte die Schultern ein wenig und spürte die Stiche auf meinem Rücken. »Was ich übrigens ein bisschen unfair finde.«

»Wie bist du hier reingekommen?«, fragte sie noch einmal. »Hast du dich am Empfang vorbeigeschlichen?«

»Es ist besser für dich, wenn du das nicht weißt«, sagte ich.

Es war natürlich in Schwaden gewesen. Als ich den Geruch von altem Leder und Staub bemerkt hatte, den der Wind dort mit sich trug, hatte ich gewusst, dass ich schon ganz nahe war. In dem Labyrinth der unterirdischen Gänge gab es eine Tür, durch die man direkt ins unterste Geschoss des Magazins gelangte. Durch sie hatten die Mitarbeiter der Bibliothek Zugang zum Belüftungssystem. Die Tür war natürlich abgeschlossen gewesen, aber abgeschlossene Türen hatten für mich nie ein großes Hindernis dargestellt.

Davon verriet ich Fela jedoch nichts. Mir war klar, dass ich diesen geheimen Zugang nur nutzen konnte, solange er geheim blieb. Es einer Mitarbeiterin der Bibliothek zu verraten, selbst einer, die mir einen Gefallen schuldig war, wäre keine gute Idee gewesen.

»Hör zu«, sagte ich schnell. »Es besteht keinerlei Gefahr. Ich bin schon seit Stunden hier, und niemand ist auch nur in meine Nähe gekommen. Jeder hier trägt eine Lampe mit sich herum, und so ist es ganz einfach, den Leuten aus dem Weg zu gehen.«

»Ich war bloß überrascht, dich hier zu sehen«, sagte Fela und strich sich das dunkle Haar zurück. »Aber du hast recht, es ist wahrscheinlich sicherer da draußen.« Sie öffnete die Tür und schaute, ob die Luft rein war. »In diesen Lesezimmern wird stichprobenmäßig nachgesehen, damit hier keiner schläft oder ein Schäferstündchen hält.«

»Wie bitte?«

»Es gibt vieles, was du über die Bibliothek noch nicht weißt«, sagte sie mit einem Lächeln und hielt mir die Tür auf.

»Deshalb brauche ich deine Hilfe«, sagte ich, als wir zurück ins Magazin gingen. »Ich finde mich hier überhaupt nicht zurecht.«

»Was suchst du denn?«

»Ach, tausenderlei. Aber wir könnten mit der Geschichte der Amyr anfangen. Oder mit Sachliteratur über die Chandrian. Eigentlich interessiert mich alles über diese beiden Themen. Und ich habe bisher nichts dazu gefunden.«

Ich versuchte erst gar nicht, meine Frustration zu verhehlen. Dass ich nach so langer Zeit nun endlich Zugang zur Bibliothek hatte, hier aber keine der Antworten finden konnte, nach denen ich suchte, war wirklich zum Verrücktwerden. »Ich hätte gedacht, hier wäre alles besser geordnet«, sagte ich.

Fela kicherte. »Und wie würdest du das machen? Das hier ordnen, meine ich.«

»Darüber habe ich in den letzten Stunden auch nachgedacht«, sagte ich. »Am besten wäre es wohl, man würde es nach Kategorien ordnen. Also: Geschichtsbücher, Memoiren, Grammatiken …«

Fela blieb stehen und seufzte. »Dann bringen wir das mal schnell hinter uns«, sagte sie und zog auf gut Glück einen schmalen Band aus einem Regal. »Zu welcher Kategorie gehört dieses Buch?«

Ich blätterte darin herum. Es war in einer alten, schwer zu entziffernden Handschrift abgefasst. »Das scheinen Memoiren zu sein.«

»Was für Memoiren? Und in welcher Beziehung stehen sie zu anderen Memoiren?«

Ich blätterte weiter und stieß auf eine sorgfältig gezeichnete Landkarte. »Eigentlich sieht es eher wie ein Reisebericht aus.«

»Gut«, sagte sie. »Und wo würdest du es jetzt in der Abteilung Memoiren und Reiseberichte einordnen?«

»Die würde ich geographisch sortieren«, sagte ich. Das Spiel fing an, mir Spaß zu machen. Ich blätterte weiter. »Atur, Modeg und … Vint?« Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich den Rücken des Buchs. »Wie alt ist denn das? Das Aturische Reich hat Vint doch schon vor über dreihundert Jahren geschluckt.«

»Vor über vierhundert Jahren«, berichtigte sie mich. »Wo würdest du also einen Reisebericht einordnen, der von einem Land berichtet, das es gar nicht mehr gibt?«

»Dann wäre es ja eigentlich eher ein Geschichtswerk«, sagte ich etwas bedächtiger.

»Aber wenn es nicht so ganz den Tatsachen entspricht?«, fragte Fela. »Wenn es eher auf Hörensagen als auf eigenen Erlebnissen beruht? Was ist, wenn der Bericht frei erfunden ist? Als Reisebericht ausgegebene Romane waren in Modeg vor einigen Jahrhunderten groß in Mode.«

Ich klappte das Buch zu und stellte es ins Regal zurück. »Jetzt fange ich an, das Problem zu verstehen«, sagte ich nachdenklich.

»Nein, das tust du nicht«, erwiderte Fela frei heraus. »Du hast nur einen kurzen Blick auf den äußersten Rand des Problems erhascht.« Sie zeigte auf das Magazin ringsumher. »Nehmen wir mal an, du würdest morgen zum Meister der Bibliothek ernannt. Wie lange würdest du brauchen, um das alles hier zu ordnen?«

Ich sah mich zu den unzähligen Regalen um, die sich in die Dunkelheit hinein erstreckten. »Das wäre wohl eine Lebensaufgabe.«

»Wie sich gezeigt hat, reicht ein Leben dafür nicht aus«, bemerkte Fela trocken. »Wir haben hier über eine Dreiviertelmillion Bände – die Tontafeln, Schriftrollen und Fragmente aus Caluptena noch gar nicht mitgerechnet.«

Sie machte eine abschätzige Geste. »Du verwendest also Jahre darauf, das perfekte Ordnungssystem zu entwickeln, in dem sogar deine frei erfundenen oder historisch verbrieften Reiseberichtsmemoiren ein hübsches Plätzchen finden. Und dann verwenden du und deine Mitarbeiter Jahrzehnte darauf, Zehntausende Bücher zu identifizieren, zu sortieren und neu anzuordnen.« Sie sah mir in die Augen. »Und dann stirbst du. Und was dann?«

Allmählich verstand ich, worauf sie hinaus wollte. »Tja, in einer idealen Welt würde der nächste Meister der Bibliothek da weitermachen, wo ich aufgehört habe«, sagte ich.

»Ein Hoch auf die ideale Welt«, sagte Fela, machte dann kehrt und führte mich weiter durchs Magazin.

»Ich schätze mal, die neuen Meister haben normalerweise eigene Vorstellungen davon, wie man das hier organisieren sollte.«

»Nicht normalerweise«, erwiderte Fela. »Einige Male haben mehrere hintereinander nach dem gleichen System gearbeitet. Aber früher oder später kommt jemand, der sich sicher ist, dass er eine bessere Methode hat, und dann fängt alles wieder von vorne an.«

»Wie viele unterschiedliche Systeme hat es denn schon gegeben?« Ich entdeckte ein schwaches, rötliches Licht, das in der Ferne zwischen den Regalen aufleuchtete, und machte sie darauf aufmerksam.

Fela wechselte die Richtung, um uns von dem Licht und dem, der es trug, fort zu führen. »Es kommt darauf an, wie man das zählt«, sagte sie leise. »In den letzten dreihundert Jahren mindestens neun. Am schlimmsten war es vor etwa fünfzig Jahren, als innerhalb von fünf Jahren vier neue Meister aufeinander folgten. Das führte dazu, dass sich unter den Bibliothekaren drei gegensätzliche Fraktionen bildeten, die jeweils ein eigenes Katalogisierungssystem verwendeten, das sie für das beste hielten.«

»Das klingt ja fast nach einem Bürgerkrieg«, sagte ich.

»Eher ein heiliger Krieg«, sagte Fela. »Ein ganz stiller, sehr sorgfältig durchgeführter Feldzug, bei dem sich jede Seite sicher war, dass sie die Seele der Bibliothek bewahrte. Man stahl Bücher, die nach dem System der anderen Fraktion bereits katalogisiert waren. Man versteckte Bücher voreinander oder brachte sie in den Regalen durcheinander.«

»Und wie lange ging das so?«

»Fast fünfzehn Jahre lang«, sagte Fela. »Es wäre womöglich bis heute so weitergegangen, wenn es Meister Tolems Bibliothekaren nicht irgendwann gelungen wäre, das Registerbuch der anderen Fraktion, der Larkiner, zu stehlen und zu verbrennen. Da konnten die Larkiner nicht mehr so weitermachen.«

»Und die Moral von der Geschichte ist, dass die Leute beim Umgang mit Büchern leidenschaftlich werden?«, sagte ich und neckte sie ein wenig damit. »Und deshalb müssen die Lesezimmer stichprobenmäßig kontrolliert werden?«

Fela streckte mir die Zunge heraus. »Die Moral von der Geschichte ist, dass das hier ein einziges Chaos ist. Wir haben zweihunderttausend Bände ›verloren‹, als Tolem das Registerbuch der Larkiner verbrannte. Das war die einzige Aufzeichnung darüber, wo sich diese Bücher befanden. Fünf Jahre später starb Tolem. Und rate mal, was dann geschah.«

»Ein neuer Meister wollte noch einmal ganz von vorne anfangen?«

»Es ist wie eine endlose Abfolge halb fertiggestellter Häuser«, echauffierte sie sich. »Nach dem alten System Bücher zu finden war einfach, und deshalb haben die neuen Systeme darauf aufgebaut. Die an dem neuen Haus arbeiten, klauen Bauholz aus dem, was vor ihnen errichtet wurde. Hier und da stößt man immer noch auf Bruchstücke der alten Systeme. Wir finden immer noch Ecken, in denen Bibliothekare vor Jahren Bücher voreinander versteckt haben.«

»Ich merke schon, das ist ein wunder Punkt bei dir«, sagte ich und lächelte.

Wir kamen an eine Treppe, und Fela sah sich zu mir um. »Das ist ein wunder Punkt bei jedem, der länger als zwei Tage hier in der Bibliothek arbeitet«, sagte sie. »Die Leute im Lesesaal beschweren sich, wenn wir eine Stunde brauchen, um ihre Bestellungen zu holen. Sie haben keine Ahnung davon, dass man nicht einfach nur zum Regal ›Geschichte der Amyr‹ gehen und ein Buch herausziehen muss.«

Sie ging die Treppe hinauf. Ich folgte ihr schweigend, dankbar für diese neuen Aufschlüsse.

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