9. Kapitel

Die Bilder würden ihm ein Vermögen einbringen. Der leichte Nieselregen, der die ganze Nacht über angehalten und nur am Morgen für eine knappe Stunde ausgesetzt hatte, hatte vor kurzem wieder eingesetzt, und mittlerweile goß es in Strömen. Außerdem war es viel zu kalt für die Jahreszeit, so daß Mogrod mittlerweile nicht nur bis auf die Haut durchnäßt war, sondern auch vor Kälte mit den Zähnen klapperte, aber das störte ihn nicht im geringsten. Ganz im Gegenteil - er war in der Stimmung, laut zu singen, und er grinste so breit über das ganze Gesicht, daß ihn mehr als ein Fahrgast in der U-Bahn erstaunt angeblickt hatte.

Er hatte auch allen Grund für sein Grinsen. Was da in seiner rechten Manteltasche klapperte, war Gold wert, und das in jeder Hinsicht. Die Bilder würden eine Menge Geld einbringen, aber das allein war es nicht. Das war es nicht einmal hauptsächlich. Viel wichtiger als der Scheck, den ihm die Redaktion rüberschieben durfte, damit sie diese Bilder bekamen (und, so wahr ihm Gott helfe, er würde dafür sorgen, daß es ein großer Scheck war, aber trotzdem), viel wichtiger als das Geld waren die Umstände, unter denen er an diese Bilder gekommen war. Mogrod war wieder da. Wie Phönix aus der Asche war er auferstanden und breitete in alter Kraft und Frische die Schwingen aus, und niemand - keiner! - würde es jetzt noch wagen, das zu bezweifeln.

Er war wieder da. Die beiden Filme in seiner Tasche bewiesen es, und der Aufstand, den die Bullen erst einmal machen würden, wenn sie die Bilder in der Abendausgabe bewundern durften, würde es auch dem Rest der Welt beweisen.

Mogrod überquerte die Straße, sprang mit einem ausgelassenen Satz auf den Bürgersteig hinauf und balancierte wackelnd und mit ausgebreiteten Armen wie ein Schulanfänger einige Schritte weit auf dem Bordstein entlang. Er hätte die ganze Welt umarmen können - mit Ausnahme einiger ganz spezieller Arschlöcher, verstand sich, die er im Lauf der kommenden Tage bestimmt nicht umarmen, sondern kräftig in den Arsch treten würde. Der eiskalte Regen, der ihm ins Gesicht klatschte, verbesserte seine Laune eher noch.

Der noch viel kältere Wasserguß, mit dem ihn ein Wagen überschüttete, dessen Räder nur Zentimeter an ihm vorbei durch den Rinnstein pflügten, schon etwas weniger. Mogrod fluchte, brachte sich mit einem hastigen - wenn auch verspäteten - Satz in Sicherheit und sah gerade noch, wie der Fahrer ihm im Rückspiegel einen kopfschüttelnden Blick zuwarf und sich gegen die Schläfe tippte.

»Idiot!« brüllte Mogrod. Aber grinste dabei, und eigentlich war er dem Mann nicht einmal böse. Er war sowieso naß bis auf die Haut, und die Klamotten, die er trug, hätten eigentlich schon vor einem Jahr in die Mülltonne gehört. Genau dort würden sie spätestens morgen auch landen; sobald er seinen Scheck eingelöst und sich neu eingekleidet hatte - nebst einigen anderen Kleinigkeiten, die er schon viel zu lange vor sich herschob. Ja, dachte er fröhlich, er war wieder da, und nach diesen Volltrotteln in der Redaktion würden die Obertrottel auf der Bank die nächsten sein, die das merkten. Das süffisante Grinsen, das jedes Mal auf dem Gesicht des Kassierers erschien, wenn er nach seinen Auszügen fragte, würde ihm im Hals steckenbleiben.

Mogrods Hand glitt in die Tasche seines durchweichten Parkas und suchte die Schlüssel. Sie fand sie, berührte dabei aber auch die beiden Plastikdosen mit den Filmen, die er in Löbachs Apartment aufgenommen hatte, und verharrten einen Moment länger darauf, als vielleicht nötig gewesen wäre. Ein phantastisches Gefühl. Der Kunststoff war so kalt und glatt und hart, als wäre es wirklich Gold - ach was, Gold, Platin mit Diamanteinschlüssen! -, aber die Berührung bewirkte noch etwas anderes, was Mogrod im ersten Moment fast selbst überraschte. Irgendwie ernüchterte sie ihn.

Er grinste noch immer fröhlich vor sich hin, während er den Schlüssel aus der Tasche zog und mit vor Kälte steifen Fingern am Schloß herumfummelte, aber er rief sich zugleich auch in Gedanken zur Ordnung. Sicher, er würde dafür sorgen, daß er einen verdammt guten Preis für die Filme bekam, und den würden sie auch zahlen, denn was auf den Negativen zu sehen war, das war eine Sensation, und keine kleine, aber Geld war nicht die Hauptsache. Selbst wenn er die Summe bekam, die ihm vorschwebte (und wäre er nur ein bißchen weniger euphorisch gewesen, hätte er sich selbst gesagt, daß seine Vorstellung ziemlich utopisch war), würde sie nicht einmal ausreichen, seinen Saldo auszugleichen. Diesen Idioten auf der Bank das breite Grinsen in den Hals zu stopfen, würde noch ein bißchen warten müssen, ebenso wie die diversen Einkaufszüge, die ihm vorschwebten. Aber das Geld war nicht das Wichtigste.

Was allein zählte war, daß er die Bilder hatte, und wie er darangekommen war. Natürlich würde er allen nur das ›daß‹ erklären, ganz bestimmt nicht das ›wie‹. Aber das war ja gerade das Schöne. Er war wieder da - Stefan Mogrod, der immer fünf Minuten vor der Polizei am Tatort war und Bilder schoß, für die die meisten seiner sogenannten Kollegen ihre Seele verkauft hätten. Die Fotos in seiner Tasche bewiesen es.

Er erreichte seine Wohnung im fünften Stock, öffnete die Tür, schlüpfte aus dem durchweichten Mantel und warf ihn im hohen Bogen in die ungefähre Richtung des Garderobenständers, noch während er die Tür mit dem Fuß hinter sich zuschob - natürlich nicht, ohne in der gleichen Bewegung die beiden Kunststoffröhrchen mit den Filmen aus der Tasche des Mantels geklaubt zu haben. Noch immer im gleichen Sturmschritt, in dem er durch die Tür gekommen war, durchquerte er die Wohnung, legte die Kamera auf den einzigen freien Sessel und betrat die Dunkelkammer, die er sich im ehemaligen Abstellraum eingerichtet hatte. Im Vorübergehen bemerkte er zwar, daß das Licht des Anrufbeantworters flackerte, aber das ignorierte er - wie meistens. Wahrscheinlich war es sowieso nur jemand, dem er Geld schuldete, oder ein Redakteur, der einen Moment abgewartet hatte, in dem er ganz sicher nicht zu Hause war, um ihm eine Absage aufs Band zu sprechen. Normalerweise schaltete er das Ding sowieso nicht ein, wenn er das Haus verließ.

Auch das würde sich ab morgen radikal ändern, dachte Mogrod gutgelaunt. Manchmal waren es die Kleinigkeiten, die einem das Leben versüßten - wie zum Beispiel, nicht mehr zusammenzuzucken, wenn es unerwartet an der Tür klingelte, oder mit gutem Gewissen den Anrufbeantworter abhören zu können.

Mit einer fast ehrfürchtigen Bewegung lud er die beiden Filmrollen auf der zerschrammten Arbeitsplatte ab, schaltete das Rotlicht ein und die normale Deckenbeleuchtung aus. Er hätte sofort anfangen können, die Filme zu entwickeln - alles war bereit, alle Utensilien standen ordentlich in Griffweite, alles, was er brauchte, war da. Es kam schon einmal vor, daß sein Kühlschrank leer war, aber das Regal mit den Chemikalien, Entwicklerflüssigkeiten und Fixierern war immer ebenso gut gefüllt wie die Papierschubladen unter dem Tisch. Obwohl sein Leben sich während der letzten beiden Jahre in eine immer schneller werdende Schlitterpartie in den Abgrund verwandelte, hatte er zumindest hier drinnen noch eine Spur der alten Disziplin und Zuverlässigkeit bewahrt; zum Teil aus purer Gewohnheit, zum größeren Teil aber aus dem sicheren Wissen heraus, daß - wenn überhaupt - er einen neuen Start hier drinnen beginnen würde. Fotografieren war alles, was er konnte. Alles, was er je gekonnt hatte, und alles, was er jemals können wollte. Und er hatte recht gehabt, verdammt noch mal. Sein Comeback stand vor ihm, verpackt in zwei fünf Zentimeter hohen, schwarzen Plastikdosen.

Mogrod öffnete das erste Röhrchen, nahm den Film heraus und überzeugte sich pedantisch davon, daß die Tür sicher verschlossen war und nicht der winzigste Lichtschimmer durch einen Spalt dringen konnte, ehe er die Rolle öffnete und die Negative in die Entwicklerdose gab. Er hätte beide Filme zugleich entwickeln können, und er hätte auch die Flüssigkeit benutzen können, die griffbereit in einer noch gut halbvollen Flasche auf dem Regal stand, aber er tat keines von beidem, sondern ließ den zweiten Film vorerst unangetastet und öffnete eine neue, noch versiegelte Flasche. Dies war seine große und mit ziemlicher Sicherheit allerletzte Chance. Er würde nicht das mindeste Risiko eingehen.

Seine Finger zitterten leicht, während er arbeitete. Vermutlich eine Folge der durchwachten Nacht - und so ganz nebenbei der Angst, die er ausgestanden hatte. Außerdem war er kein junger Springer mehr, sondern mit seinen knapp fünfzig Jahren, von denen er sicherlich zwei - zusammengerechnet - im Zustand der Volltrunkenheit verbracht hatte, schon in einem Alter, in dem man sich nicht mal eben über eine Balkonbrüstung schwang und an einem dünnen Nylonseil in die darunterliegende Etage hinunterkletterte. Genau das hatte er nämlich in der vergangenen Nacht getan.

Ein dünnes Lächeln breitete sich auf Mogrods Gesicht aus, als er an die zurückliegende Nacht dachte. Die Bullen waren wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend gerannt und hatten sich vor lauter Mißtrauen und Dienstbeflissenheit gegenseitig auf die Füße getreten - schließlich kam es nicht jeden Tag vor, daß der Leiter der Mordkommission höchstselbst die Ermittlungen durchführte.

Nicht, daß ihn das sonderlich aufgehalten hätte. Ein bißchen Bestechung, ein bißchen Dreistigkeit und ein, zwei kleine Notlügen, und schon war er in einer Wohnung gewesen, die praktisch von der gesamten Berliner Polizei beschützt wurde, damit auch keiner überraschend hereinplatzte und ihn beim Fotografieren störte. Vielen Dank auch.

Natürlich war das, was Mogrod jetzt so selbstzufrieden vor seinem inneren Auge defilieren ließ, in der Realität nicht ganz so leicht gewesen, sondern im höchsten Maße illegal - aber das Ergebnis hatte den Einsatz gelohnt. Zigfach.

Er war mit dem ersten Film fertig, stellte die Entwicklerdose behutsam auf den Tisch zurück und wandte sich dem zweiten zu. Er wiederholte den Vorgang pedantisch, dann betätigte er die Taste der Zeitschaltuhr. Jetzt konnte er nur noch warten. Nicht einmal sehr lange, aber er wußte natürlich, daß selbst wenige Minuten jetzt zu Ewigkeiten werden würden.

Um sich abzulenken, verließ er die Dunkelkammer, ging in die Küche und bereitete sich eine Tasse Instant-Kaffee zu. Er schmeckte scheußlich, aber er war heiß und stark, und er schenkte ihm wenigstens die Illusion, seine Lebensgeister zu wecken. Mogrod leerte die Tasse mit kleinen Schlucken, zwischen denen er erzwungen lange Pausen einlegte, und er beherrschte sich eisern, nicht auf die Armbanduhr zu sehen, bevor die Tasse nicht vollkommen geleert war. Als er es dann tat, war die Enttäuschung um so größer. Es war wohl so, wie man sagte: Je mehr man darauf wartete, daß die Zeit verging, desto langsamer schien es zu geschehen.

Vielleicht sollte er in die Dunkelkammer zurückkehren. Ein Auge auf die Entwicklerdosen werfen. Was, wenn mit der Flüssigkeit etwas nicht in Ordnung war? Er hatte eine neue Flasche angebrochen, aber sie konnte schließlich schon im Laden überaltert gewesen sein, das Etikett mit dem Haltbarkeitsdatum unleserlich oder gefälscht, weil irgendein knickeriger Krämer die überlagerte Ware nicht wegwerfen wollte. Möglicherweise waren auch die Dosen undicht, so daß ein Lichtschimmer eindrang und die Negative verdarb, oder -

Oder der Himmel tat sich auf, und ein brennender Stern stürzte auf sein Haus und verschlang ihn samt seinen kostbaren Filmen. Schluß jetzt. Er hatte allen Grund, gespannt zu sein, aber verdammt noch mal keinen einzigen, hysterisch zu werden.

Statt in die Dunkelkammer zurückzugehen und womöglich aus lauter Ungeduld doch noch irgendeinen Fehler zu machen, brühte er sich eine zweite Tasse Kaffee auf, die er jedoch nicht sofort trank, sondern behutsam vor sich her ins Wohnzimmer balancierte. Einem Außenstehenden wäre der Raum klein, aber trotzdem in gewissem Maße behaglich eingerichtet vorgekommen, aber für Mogrod war er Sinnbild all dessen, was er verloren hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er ernsthaft überlegt, ob ein Kabuff wie dieses überhaupt groß genug für seine Dunkelkammer war - jetzt war es das größte Zimmer der Wohnung, und die schäbigen Möbel, die er zum größten Teil gebraucht erworben oder geschenkt bekommen hatte, waren alles, was er noch besaß.

Mogrod setzte sich schwer in einen der schäbigen Sessel, nippte an seinem Kaffee und ließ seinen Blick nachdenklich durch den Raum schweifen. Er sah die Möbel und die fleckigen Tapeten nicht wirklich, sondern nur das Dutzend Schwarzweißfotografien, die in schlichten Glasrahmen an der Wand neben der Tür hingen. Er betrachtete sie fast immer, wenn er hier saß und gerade nichts Besseres zu tun hatte - was in letzter Zeit ziemlich häufig der Fall gewesen war -, und er wurde niemals müde, es zu tun. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er Geld gehabt, einen Wagen, eine teure Wohnung, teure Freunde und noch teurere Frauen. Den Wagen und die Wohnung hatte er als erstes verloren, und die Freunde - die keine gewesen waren - kurz danach. Jetzt waren diese Bilder unwiderruflich alles, was ihm geblieben war.

Einem Fremden wären diese Bilder sonderbar vorgekommen, vielleicht ein wenig pervers, auf jeden Fall aber unheimlich, und objektiv betrachtet waren sie das wohl auch. Es waren seine Lieblingsbilder, die einzigen, die er aufgehoben hatte, aus der ganzen Zeit. Für drei davon hatte er Preise bekommen, für die allermeisten eine hübsche Stange Geld, und jedes einzelne hatte seine eigene Geschichte.

Die meisten zeigten dramatische Motive: ein brennendes Haus, auf dessen Dach Menschen standen; über ihnen kreisende Hubschrauber, die wegen der aufsteigenden Hitze und der Menschenmenge nicht auf dem Dach landen konnten. Mehr als ein Dutzend ineinandergerammter Autowracks, von denen einige ebenfalls in Flammen standen, und zwischen denen winzige Gestalten umherirrten, zwei von ihnen brennend. Ein totes Kind, das von einem Feuerwehrmann aus dem Kanalisationsrohr gezogen wurde, in das es gestürzt und qualvoll erstickt war. Das Wrack eines Sportflugzeuges, das auf eine Laubenkolonie gestürzt war, dicht daneben ein verkrümmter, kopfloser Torso, guillotiniert von einem abgebrochenen Propellerflügel. Tod und Katastrophen waren sein Metier gewesen.

Keines dieser Bilder ließ an Grausamkeit zu wünschen übrig, aber sie alle verblaßten neben dem Bild gleich neben der Tür. Es war nicht sonderlich scharf, und nicht einmal richtig belichtet, aber es war trotzdem das Glanzstück seiner Sammlung. Es zeigte eine junge Frau, farbig und mit zerrissenen Kleidern, die vor einem Panzer russischer Bauart davonlief. Ihre Füße waren nackt und hinterließen blutige Abdrücke auf dem Pflaster, und obwohl das Gesicht ebenso unscharf war wie der Rest der Aufnahme, konnte man die nackte Todesangst in ihren Augen doch deutlich erkennen. Der Panzer war noch fünf Meter hinter ihr und stand ein wenig schräg, weil er gerade über einen Wagen hinweggerollt war, der am Straßenrand stand, die Mündung des Kanonenrohres deutete genau in die Kamera. Trotz der schlechten Aufnahmequalität hatte das Foto eine unglaubliche Dynamik. Man konnte die Geschwindigkeit, mit der der Hundert-Tonnen-Koloß heranraste, geradezu sehen. Er hatte das Bild während der Schlacht um Aden aufgenommen, und er hätte es beinahe mit dem Leben bezahlt. Der Panzer hatte die Frau nicht erwischt, aber um ein Haar hätte er Mogrod überrollt. Er hatte sich im buchstäblich allerletzten Moment mit einem Satz in Sicherheit gebracht, wobei er gestürzt und die Kamera zu Bruch gegangen war. Der Film war verdorben, aber eine Laune des Zufalls hatte dafür gesorgt, daß ausgerechnet dieses eine Negativ noch zu gebrauchen gewesen war. Mogrod hatte Stunden in einem stinkenden Kellerloch zugebracht und darauf gewartet, daß ein Gesicht über dem Eingang erschien und ein Schuß fiel, der seinem Leben ein Ende setzte. Es war nicht geschehen. Später, als sich die Kämpfe in einen anderen Teil der Stadt verlagerten, hatte er es gewagt, sein Versteck wieder zu verlassen und die Leiche der jungen Frau gefunden. Sie war dem Panzer entkommen, aber offensichtlich nur, um wenige Augenblicke danach von einem Heckenschützen erschossen zu werden. Noch später, nachdem es ihm irgendwie gelungen war, den Jemen zu verlassen, hatte er jedem erzählt, daß der Panzer die Frau vor seinen Augen überfahren hätte. Wie sich herausstellte, hatte dies den Preis für das Bild allerdings nicht in die Höhe getrieben, sondern im Gegenteil dafür gesorgt, daß es unverkäuflich wurde.

Trotzdem war es sein persönliches Lieblingsbild. Vielleicht, weil dies seine erste wirkliche Berührung mit dem Tod gewesen war. Er hatte ihn unzählige Male miterlebt, unzählige Male fotografiert und dokumentiert, aber damals in Aden war er ihm so nahe wie nie zuvor gewesen. Der Panzer hatte ihn buchstäblich um Zentimeter verfehlt, und die junge Frau war tot. Manchmal fragte er sich ganz ernsthaft, ob sie vielleicht tot war, weil er lebte.

Er sah wieder auf die Uhr, Noch fünf Minuten. Fünfmal sechzig Sekunden, und sein Leben würde sich radikal ändern. Und diesmal würde er sich nicht kaufen lassen, wie damals vor sechs Jahren.

Er stand auf, trug seine Tasse in die Küche zurück und spülte sie sorgsam aus, um auf diese Weise noch eine weitere Minute zu gewinnen. Als er in die Dunkelkammer zurückging und das Rotlicht aufleuchtete, war die Zeituhr beinahe abgelaufen. Er hätte die Filme jetzt gefahrlos herausnehmen können; einige Minuten Differenz nach oben oder unten machten bei dem modernen Material, mit dem er arbeitete, nicht viel aus.

Trotzdem wartete er ab, bis das leise elektronische Summen erklang, ehe er die beiden Behälter öffnete, die Filme herausnahm und in den Trockner gab. Das Rotlicht wäre stark genug gewesen, schon jetzt das eine oder andere auf den Negativen erkennen zu können, aber mittlerweile genoß Mogrod die Spannung regelrecht. Die wenigen Minuten, die er jetzt noch warten mußte, vertrieb er sich damit, den Projektor auszurichten, die Fotoschalen zu säubern und Papier bereitzulegen. Als er Entwickler, Fixierbad und Wasser bereitgestellt hatte, ertönte erneut ein leises Summen. Die Negative waren fertig.

Sorgfältig zerschnitt er die Filme in je sechs gleich lange Streifen, legte elf davon beiseite und spannte den ersten in den Projektionsapparat. Seine Finger zitterten nun doch leicht. Trotzdem arbeitete er präzise und mit der gewohnten Sicherheit und Routine - mit einer Ausnahme. Er belichtete nicht alle sechs Bilder nacheinander, sondern begann sie einzeln zu entwickeln. Er hatte Zeit, und er wollte den Moment genießen.

Der erste Filmstreifen zeigte nichts Besonderes: eine Außenansicht des Hauses, das in der Nacht nicht viel mehr als ein schwarzer Schatten mit hunderten rechteckiger leuchtender Augen gewesen war, einige Schnappschüsse der Menge, die sich nach Löbachs Selbstmord auf der verregneten Straße versammelt hatte, und den zertrümmerten Wagen, neben dem ein leichenblasser und sichtlich noch sehr junger Polizeibeamter im Rinnstein hockte und sich die Seele aus dem Leib kotzte - so ganz nebenbei ein guter Kandidat, um in seine Sammlung draußen im Wohnzimmer aufgenommen zu werden, aber mehr auch nicht. Gestern abend, als er es geschossen hatte, hatte er noch gehofft, es für ein paar Mark an irgendein Revolverblatt verkaufen zu können. Die Menschen liebten solche Horrorfotos.

Auch der zweite Negativstreifen war kaum ergiebiger - bis auf das letzte Bild. Mogrod war schon drauf und dran gewesen, in die U-Bahn zu steigen und nach Hause zu fahren, damit der Film rechtzeitig entwickelt war, um noch für irgendeine Morgenausgabe interessant zu sein, als Sendig angekommen war. Das Bild zeigte ihn, wie er in Abendgarderobe und dazu passendem nachmitternächtlichem Gesichtsausdruck aus dem Wagen stieg; und von diesem Moment an war Mogrod klar gewesen, daß es sich hier bestimmt nicht nur um einen ganz gewöhnlichen Selbstmord handelte. Im Gegenteil - er hatte sofort gewußt, daß hier etwas Großes im Gange war, etwas ganz Großes sogar. Nur hatte er selbst da noch nicht geahnt, wie groß.

Ohne daß es ihm bewußt war, begann er nun doch schneller zu arbeiten. Die Bilder, die vor seinen Augen auf dem weißen Papier auftauchten und allmählich an Tiefe und Schärfe gewannen, erzählten die Geschichte der vergangenen Nacht noch einmal nach. Natürlich hatte er sich sofort an Sendigs Fersen geheftet. Es war ihm nicht einmal sonderlich schwergefallen, in das Haus zu kommen, von dessen Balkon Löbach gesprungen war.

Er hatte die ersten sechs Negativstreifen fertig abgezogen und wandte sich dem zweiten, ohnehin interessanteren Film zu. Mogrod blickte unwillkürlich auf die Trocknertrommel, die sich mit einem leisen Summen drehte. Sämtliche anderen Aufnahmen zeigten Löbachs Wohnung selbst. Er hatte einen ganzen Film verschossen, und er hätte noch mindestens zwei oder drei weitere verbraucht, hätte er nicht ein Geräusch an der Tür gehört und es vorgezogen, sich aus dem Staub zu machen. Aber auch so war die Ausbeute gigantisch.

Mogrod arbeitete schnell und routiniert. Er brauchte kaum zehn Minuten, um die sechsunddreißig Bilder zu belichten, und zu seiner großen Freude stellte er dabei fest, daß nur eine einzige Aufnahme nichts geworden war. Er hatte die Wand, auf die Löbach mit seinem eigenen Blut das Wort AZRAEL geschrieben hatte, gleich viermal fotografiert. Drei Bilder waren erstklassig, doch auf dem vierten war irgendein Schatten. Vielleicht eine Verunreinigung auf dem Negativ, vielleicht sogar sein eigener Schatten, der vom Blitzlicht irgendwie reflektiert und verzerrt worden war. Auf jeden Fall war das Bild verdorben.

Vielleicht war es aber auch das Beste überhaupt.

Mogrod hatte bereits dazu angesetzt, das Bild aus der Schale zu nehmen und in den Papierkorb zu werfen, aber dann ließ er es doch wieder in die Flüssigkeit zurückgleiten und beobachtete gespannt, was weiter geschah. Das Bild war bereits jetzt überentwickelt; die Schattierungen und Nuancen, die gerade erst auf dem Papier aufgetaucht waren, begannen wieder zu verschwinden, während das Stück Papier seine Reise von strahlendem Weiß hin zu tiefstem Schwarz fortsetzte. Aber das, was eigentlich ein Fehler war, hatte auch einen erstaunlichen Effekt auf den Schatten. Irgendwie schien er... dreidimensionaler zu werden, als ginge auf dem Fotopapier etwas vonstatten, was dem Wort Entwicklung eine völlig neue Dimension verlieh. Und er war jetzt sicher, daß es tatsächlich sein Schatten war, den er versehentlich fotografiert hatte, denn die Form war zu eindeutig. Es war der Schatten eines Menschen, und schließlich war er der einzige Mensch in der Wohnung gewesen. Was nichts daran änderte, daß das Bild eine gewisse Eigendynamik hatte - und zudem unheimlich genug war, um zu Spekulationen nach Herzenslust anzuregen. Und bei der bizarren Atmosphäre, die in der Wohnung geherrscht hatte, sogar in ganz besonderem Maße. Mogrod beschloß, das Negativ auf jeden Fall aufzuheben. Man konnte nie wissen...

Auf der anderen Seite der Tür ertönte ein scharfer Knall, unmittelbar gefolgt vom Splittern von Glas und etwas, das sich wie ein ferner Schrei anhörte. Mogrod fuhr so erschrocken zusammen, daß er um ein Haar die Schale mit Entwicklerflüssigkeit vom Tisch gerissen hätte, drehte sich herum und trat zur Tür. Im allerletzten Moment fiel ihm ein, daß einige Bilder zwar belichtet, aber noch nicht entwickelt waren. Hastig drehte er sich noch einmal herum, legte die entsprechenden Blätter in eine lichtundurchlässige Schachtel und trat ein zweites Mal zur Tür. Der Knall und das Splittern hatten sich nicht wiederholt, aber er glaubte noch immer, so etwas wie einen Schrei zu hören.

Sein Blick huschte aufmerksam durch das Wohnzimmer, als er die Dunkelkammer verließ. Das Geräusch hatte sich angehört, als wäre es unmittelbar hinter der Tür erklungen, aber da mußte er sich wohl getäuscht haben. Alles hier sah genauso aus wie vor einer halben Stunde, als er dagesessen und darauf gewartet hatte, daß die Zeit verging. Was hätte es auch sein sollen? Er lebte allein hier, er hatte keine Haustiere, und an Poltergeister und ähnliches Zeug glaubte er nicht. Also war draußen auf der Straße etwas passiert.

Hastig trat er ans Fenster und sah auf die Straße hinab. Ja, irgend etwas... war dort unten. Er konnte im ersten Moment nicht genau sagen, was, aber da war eine Veränderung. Zu wenige Menschen, und so gut wie kein Verkehr. Und er konnte jetzt ganz deutlich hören, daß irgendwo jemand schrie. Dann sah er einen Mann, der mit weit ausgreifenden Schritten aus dem gegenüberliegenden Haus gerannt kam und nach links hastete, und gleich darauf einen zweiten. Etwas war passiert. Wahrscheinlich ein Unfall.

Mogrods allererster Gedanke war, seine Kamera zu nehmen und hinunterzulaufen. Unfälle waren immer gut für ein paar Mark, und normalerweise hätte er eine solche Chance, wie sie sich jetzt bot, kaum ungenutzt verstreichen lassen. Der Geräuschkulisse nach mußte es sich um etwas wirklich Großes handeln, vielleicht eine entgleiste Straßenbahn oder einen umgestürzten Tanklaster, aus dem Salzsäure lief, die ein paar Passanten ansengte. Außerdem wäre er garantiert der erste Fotograf vor Ort. Er war auch schon auf halbem Wege zur Tür, aber dann blieb er wieder stehen.

Plötzlich wurde ihm klar, wie närrisch er sich benahm. Wen interessierte ein umgestürzter Lastwagen oder eine entgleiste Tram? Das war Kleinkram. Er hatte es verdammt noch mal nicht mehr nötig, sich damit abzugeben. Gestern abend hätte er sich noch wie eine Hyäne darauf gestürzt, aber zwischen gestern abend und heute morgen lagen Welten. Gestern abend war er eine Hyäne gewesen. Jetzt war er ein Adler, der eine fette Beute erspäht hatte. Und er sollte allmählich damit anfangen, sich wie ein solcher zu benehmen.

Mogrod warf den Fotoapparat, den er ganz automatisch ergriffen hatte, schwungvoll in einen Sessel, machte sich wieder auf den Weg zur Dunkelkammer und drehte sich auf halbem Wege wieder herum, um zum Telefon zu gehen. Die Bilder liefen ihm nicht davon, und er würde jetzt etwas tun, worauf er sich seit Jahren gefreut hatte.

Der Lärm draußen auf der Straße hielt an, während er das Telefonbuch aufklappte und nach der Nummer suchte. Mogrod widerstand tapfer der Versuchung, aufzustehen und zum Fenster zu gehen, nahm sich aber nichtsdestotrotz vor, es nach seinem Telefonat nachzuholen. So, wie es sich anhörte, war dort unten wirklich etwas im Gange, das sich zu fotografieren lohnte.

Er hatte die Nummer gefunden, nahm den Telefonhörer ab und drückte mit der anderen Hand die Löschtaste des Anrufbeantworters, ohne die Nachrichten abgehört zu haben. Dann tippte er mit langsamen, fast zeremoniellen Bewegungen die Nummer ein und lauschte auf das Freizeichen.

Es klingelte dreimal, dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. »Guten Tag. Sie sind mit dem Anschluß 5630265 verbunden«, sagte eine volltönende Männerstimme. »Leider bin ich zur Zeit selbst nicht zu erreichen. Sie können aber, wenn Sie dies möchten, eine Nachricht beliebiger Länge hinterlassen. Ich rufe Sie dann so schnell wie möglich zurück. Bitte, sprechen Sie nach dem Signalton.«

Mogrod zog eine Grimasse. Er haßte Anrufbeantworter. Trotzdem wartete er geduldig, bis das elektronische Piepsen erklungen war, dann sagte er: »Hallo, Doktorchen. Hier spricht Mogrod. Stefan Mogrod - Sie erinnern sich doch noch an mich? Keine Angst, ich will nichts von Ihnen, und Sie brauchen mich auch nicht zurückzurufen. Aber kaufen Sie sich doch heute die Abendausgabe der POST. Sie werden darin etwas finden, was Sie bestimmt brennend interessiert.«

Er drückte auf die Gabel und hängte erst danach ein. Sosehr er sich noch vor zwei Sekunden über den Anrufbeantworter geärgert hatte - jetzt erschien es ihm eher positiv, seine Nachricht nur auf Band gesprochen zu haben, statt sich womöglich in ein Gespräch hineinziehen zu lassen, bei dem er mehr verriet, als er eigentlich wollte. Außerdem steigerte das die Spannung. Sein Name allein sollte ausreichen, demjenigen, der das Band abhörte, ein paar fröhliche Stunden zu bereiten. Wenigstens so lange, bis die Abendausgabe erschien. Und danach noch etliche weitere...

Er stand auf und wollte nun wirklich zum Fenster gehen, doch in diesem Moment erscholl aus der Dunkelkammer ein lautstarkes Klappern, das Mogrod wie elektrisiert zusammenfahren ließ. Er vergaß die beunruhigenden Laute auf der Straße augenblicklich und hetzte so schnell zur Dunkelkammer, daß er fast über seine eigenen Füße gestolpert wäre. Hastig riß er die Tür auf, schaltete das Licht ein und sah sich um.

Nichts.

Der Raum sah aus wie immer: winzig, überladen und düster, nicht ganz so sauber, wie er hätte sein können, und ein wenig unordentlicher, als er hätte sein müssen. Auf dem Boden lag nichts, und auch die Fotoschalen und das halbe Dutzend durchsichtiger Acrylboxen mit seinen diversen Utensilien standen ordentlich aufgereiht da, wo sie hingehörten. Er mußte sich das Geräusch wohl eingebildet haben. Nun, bei dem, was für ihn auf dem Spiel stand, hatte er das Recht, ein bißchen nervös zu sein. Einbildung, mehr nicht.

Trotzdem schloß er sorgsam die Tür hinter sich und unterzog den Raum einer zweiten, gründlicheren Inspektion, die allerdings zu keinem anderen Ergebnis führte als die erste. Hier war weder etwas um- noch heruntergefallen.

Wenn er schon einmal hier war, konnte er seine Arbeit auch zu Ende bringen. Behutsam öffnete er die Schachtel mit den noch nicht entwickelten Bildern und ließ sie eines nach dem anderen in die Fotoschalen gleiten. Sie zeigten weitere Ansichten von Löbachs Wohnung - die Küche, die Müllkippe, in die er sein Wohnzimmer verwandelt hatte, das auf so unheimliche Weise veränderte Bad, und als allerletztes noch einmal die blutige Schrift an der Wand. Azrael... Wenn er nur wüßte, wo er dieses Wort schon einmal gehört hatte.

Mogrod fixierte die Bilder, gab sie in den Trockner und befestigte die übrigen gut zwanzig Abzüge, die er schon fertiggestellt hatte, an der Pinnwand neben der Tür. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß kein unbelichtetes Fetzchen Papier mehr irgendwo herumlag, schaltete er das Rotlicht aus und die Deckenbeleuchtung ein. In der im ersten Moment fast unangenehmen Helligkeit der beiden Neonröhren besah er sich die bisher fertiggestellte Kollektion kritisch. Das Haus, die Polizeibeamten, Sendig, die unvermeidlichen Gaffer und schließlich Löbachs Horrorapartment... ideal. Die perfekte true story, wie die Leute sie liebten, ob sie nun wirklich true war oder nicht.

Dabei waren die Bilder für sich allein betrachtet noch nicht einmal so sensationell. Löbachs Selbstmord würde ohne diese Fotos spätestens morgen früh und mit ihnen spätestens übermorgen früh keinen mehr wirklich interessieren - aber er hatte mehr als diese Bilder. Er kannte die Geschichte, die dahintersteckte. Die wahre Geschichte. Er wußte, warum Löbach sich umgebracht hatte, und er wußte sogar, wie; zumindest hatte er eine Theorie, die der Wahrheit sehr nahe kommen mußte. Und diese Nachricht würde einschlagen wie eine Bombe.

Der Trockner summte. Mogrod nahm die letzten sechs Abzüge heraus und befestigte sie neben den anderen an der Pinnwand. Als er es getan hatte und sich wieder herumdrehte, streifte sein Blick eine der Plastikschalen auf dem Tisch.

Mogrod blieb stehen und runzelte überrascht die Stirn. In der Entwicklerflüssigkeit schwamm noch immer der fehlerhafte Abzug, den er sich vorgemerkt hatte, um ihn zu einem Gespensterfoto für irgendein Revolverblatt zu machen. Er befand sich seit einer guten halben Stunde darin und hätte eigentlich so schwarz sein sollen, wie es nur ging, und zum allergrößten Teil war er das auch.

Aber eben nur zum allergrößten Teil. Neunundneunzig Prozent des Bildes glänzten im tiefsten Schwarz, das man sich nur vorstellen konnte. Aber da war noch etwas - eine haarfeine helle Linie, ungefähr dort, wo er den Schatten gesehen zu haben glaubte. Vielleicht nur ein weiterer Fehler. Ein Haar, das während der Belichtung auf das Blatt gefallen war, ein Staubpartikel auf der Linse oder eine Verunreinigung im Negativ. All das und noch viel mehr hätte es sein können - aber irgend etwas sagte ihm, daß das nicht die wirkliche Erklärung war. Wenn man lange genug hinsah, dann schien diese dünne Linie tatsächlich die Umrisse einer menschlichen Gestalt nachzuzeichnen: ein nachtschwarzer Schatten, der vor einer starken, aber weit entfernten Lichtquelle stand und sie beinahe vollständig verdeckte, so daß er eine leuchtende Korona bekam wie der Mond bei einer Sonnenfinsternis.

Er würde der Sache jetzt auf den Grund gehen. Mogrod nahm das Foto aus der Schale, legte es ins Fixierbad und wusch sich rasch, aber sehr gründlich die Hände, ehe er die Filmstreifen zur Hand nahm und das entsprechende Negativ heraussuchte. Er untersuchte es, ohne irgendeine Besonderheit zu entdecken, schaltete das Licht aus und machte einen weiteren Abzug. Diesmal achtete er peinlich genau darauf, keinen Fehler zu machen.

Das sonderbare Gefühl, das beim Anblick des Bildes von Mogrod Besitz ergriffen hatte, verstärkte sich weiter, während er arbeitete. Auf dem Negativ war nämlich nicht der allerkleinste Makel zu entdecken. Es zeigte die Blutschrift an der Wand und sonst nichts. Keinen Kratzer, keine Verunreinigung, nicht einmal den Schatten eines Schattens. Ein Fehler im Fotopapier? Eigentlich war das nicht möglich - nicht so -, aber Mogrod zog diese Alternative zumindest in Betracht, und wenn es so war, dann war es höchst bedauerlich, denn das bedeutete, daß er den Effekt nicht würde wiederholen können. Ade Geisterfoto und ade Extrahonorar.

Er vergrößerte die entsprechende Stelle so stark, wie es das Format seines Fotopapiers zuließ, nahm das Blatt aus dem Projektor und ließ es in die Schale mit Entwickler gleiten. Er mußte nur ein paar Sekunden warten, bis sich die ersten grauen Konturen auf der strahlendweißen Oberfläche zu zeigen begannen.

Und der Schatten war da. Die Wand, ein Teil des Türrahmens, die verlaufende Schrift - und der unheimliche Umriß, der eigentlich gar nicht da sein durfte und auf dem Negativ auch nicht zu sehen war. Mogrod war sicher. Er hatte ganz genau hingesehen. Was sich da vor seinen Augen in wolkigem Grau bildete und allmählich zu scheinbarer Substanz gerann, war auf dem Negativ eindeutig nicht abgebildet. Konnte es sein, daß...

... daß er tatsächlich eine Art Gespenst fotografiert hatte?

Das war natürlich hahnebüchener Unsinn - Mogrod glaubte weder an Geister noch an irgendwelchen anderen übernatürlichen Kram -, und trotzdem konnte er spüren, wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken bei diesem Gedanken aufstellten.

Vielleicht zum ersten Mal überhaupt fiel ihm auf, wie gespenstisch der Anblick eines Bildes war, das scheinbar aus dem Nichts heraus auf dem Papier erschien, sobald man es in die Entwicklerflüssigkeit gegeben hatte. Das rote Licht in der Kammer verstärkte den unheimlichen Effekt noch und gab ihm etwas Düsteres, Drohendes.

Mogrod war immer noch nicht bereit, zuzugeben, was er wirklich empfand, nämlich Angst. Aber sein Herz begann schneller zu schlagen, während das Bild weiter an Deutlichkeit und Schärfe zunahm.

Der Schatten war jetzt ganz deutlich zu sehen - und es war eindeutig nicht sein Schatten.

Es war der Schatten einer großen, sehr schlanken Gestalt, die eine Art gürtelloses Kleid oder Toga zu tragen schien und schulterlanges glattes Haar hatte. Ihre Arme, die in sehr weit geschnittenen Trompetenärmeln steckten, waren halb ausgebreitet, und hinter und über ihnen war noch etwas, als trüge sie etwas Großes auf dem Rücken, das er nicht genau erkennen konnte.

Unmöglich, dachte Mogrod. Was er sah, war unmöglich. Der Schatten war jetzt viel deutlicher als vorhin, auf dem ersten Abzug, und er war auch fast sicher, daß er da nicht mit halb erhobenen Armen dagestanden hatte. Es konnte nicht sein. Es konnte, konnte, konnte nicht sein!

Der Schatten verdichtete sich weiter. Er war jetzt viel mehr als ein Schemen, und wäre Mogrod nicht bereits halb hysterisch gewesen, hätte er zugegeben, daß er keinen Schatten mehr betrachtete, sondern längst eine Gestalt, die er fotografiert hatte. Aus hellem wurde dunkleres Grau, dann Schwarz, und auch seine Umrisse wurden schärfer. Das Bild war bereits wieder überentwickelt. Die Wand mit Löbachs Blutschrift begann wieder zu verschwimmen und färbte sich immer dunkler, aber die Gestalt war noch immer sichtbar. Auf eine unheimliche Art und Weise schien sie plötzlich sogar Tiefe zu besitzen, als betrachte er nicht länger ein Foto, sondern eine Holographie.

Oder etwas, das lebte.

Dann begann sich die Flüssigkeit zu bewegen. Winzige Wellenkreise erschienen über dem Schatten, und plötzlich bewegte auch er sich und streckte die Hände nach Mogrod aus!

Der Fotograf stolperte mit einem keuchenden Laut zurück, prallte gegen den Türrahmen und wäre um ein Haar gestürzt. Seine Hände fuhren mit scharrenden Lauten über die Tür und suchten die Klinke, aber sie hatten irgendwie nicht mehr die Kraft, sie zu drücken. Halb verrückt vor Panik und zugleich gelähmt vor Furcht stand er da und starrte die Fotoschale an. Er konnte das Bild jetzt nicht mehr sehen, aber hörte etwas, ein leises Plätschern, als bewege sich etwas in der Flüssigkeit. Etwas, das in der Schale gefangen war und herauswollte!

Unmöglich! dachte Mogrod. Das ist voll-kom-men unmöglich! Das bilde ich mir nur ein! Ich bin hysterisch. Überarbeitet. Ich habe einen Drink zuviel gehabt. Schlechtes Gras geraucht! Das kann einfach nicht sein! SO ETWAS GIBT ES NICHT! Er fuhr alle Geschütze der Logik und des klaren Menschenverstandes gegen das Phänomen auf, und für einige Momente schien es tatsächlich, als hätte dieser Präventivschlag Wirkung gezeigt.

Genau so lange, bis die Hand über dem Rand der Fotoschale erschien. Mogrod schrie, aber es war ein lautloser Schrei. Aus seiner Kehle kam nur ein Laut, und der Schrei gellte nur in seinem Kopf, während er aus hervorquellenden Augen die blutigen Fingerstümpfe anstarrte, die sich am Rand der Kunststoffschale festgeklammert hatten. Sie hatten keine Haut. Das Fleisch schien zu kochen, und hier und da schimmerte weißer, halb zersetzter Knochen durch die entsetzliche Masse. Die Hand sah aus, als wäre sie in Salpetersäure getaucht worden.

Aber sie bewegte sich. Die Finger klammerten sich nur noch einen Moment am Rand der Schale fest, dann krochen sie wie eine fünfbeinige fleischige Spinne weiter, so daß das Gelenk und ein Teil eines schlanken Unterarmes erschienen, dann eine zweite Hand, ebenso grausam verstümmelt wie die erste, die sich auf die gleiche unheimliche Weise in die Höhe zu arbeiten begann.

Und schließlich der Kopf.

Mogrod schrie diesmal wirklich gellend auf, riß schützend beide Arme vor das Gesicht und taumelte rücklings vor der entsetzlichen Gestalt zurück, die sich mit langsamen, pumpenden Bewegungen aus der Fotoschale herausarbeitete, wie ein Kanalarbeiter, der sich aus einem zu engen Schacht herauszustemmen versucht. Es war die Gestalt aus dem Foto. Er hatte ihr Gesicht nicht erkannt, und das konnte er auch nicht, denn es war im Grunde kein Gesicht, sondern ein hautloser, brodelnder Schädel ohne Augen und Lippen, und auch jetzt war hinter ihr noch etwas Großes, Brodelndes, das noch immer nicht genau zu erkennen war.

Mogrod prallte gegen ein Regal. Irgend etwas fiel zu Boden und zerbrach klirrend, und eine scharfkantige Scherbe grub sich durch sein Hemd hindurch tief in seinen Rücken, ohne daß er den Schmerz auch nur bewußt registriert hätte. Sein Herz jagte, als wolle es aus seiner Brust herausspringen. Ein winziger Teil von ihm versuchte noch immer, seine einzige Waffe, die Logik, einzusetzen, um ihn davon zu überzeugen, daß er all dies nicht wirklich erlebte. Er hatte eine Halluzination, nichts weiter. Aber selbst wenn das stimmte, nutzte dieses Wissen nichts, denn die Beruhigung, die es bringen sollte, wurde von der Wucht der Bilder, die er sah, einfach davongefegt. Mogrod sank wimmernd in die Knie und schlug die Arme über dem Kopf zusammen.

Währenddessen hatte sich die Gestalt fast vollkommen aus der Schale herausgearbeitet, und während sie es tat, veränderte sie sich weiter. Das brodelnde Fleisch hörte auf zu kochen und glättete sich, hier und da erschienen kleine, rosige Hautfetzen, und das Gesicht hatte plötzlich Augen, die ihn aus viel zu großen, liderlosen Höhlen anstarrten. Lippen und weitere Haut gesellten sich hinzu, und auch der verkohlte Stoff des schwarzen Kleides, in das die Gestalt gehüllt war, entwickelte sich weiter. Dann, als allerletztes, wurde auch das wogende Etwas hinter ihr materiell, und Mogrod erkannte, daß es ein Paar gewaltiger schwarzer Flügel war.

Und endlich wußte er, wem er gegenüberstand.

Er war viel kleiner, als er erwartet hatte, fast von der Statur eines Kindes, und vollkommen schwarz. Aber es war keine wirkliche Farbe, sondern etwas, für das es keine Bezeichnung gab, und auch sein Gesicht, obwohl jetzt gänzlich unversehrt, war nicht wirklich zu erkennen, als wäre es menschlichen Augen nicht gestattet, das Antlitz des Todesengels zu sehen. Seine Flügel waren gigantisch, viel zu groß für die zerbrechliche Gestalt, und von der gleichen unwirklichen Farbe. Er begann sie langsam zu entfalten, wobei er gleichzeitig die Arme ausbreitete.

Und Mogrod wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß er sterben würde, wenn die Bewegung vollendet war.

Er wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht so. Nicht ausgerechnet jetzt! Er war seinem Ziel so nahe! Es war einfach nicht fair!

Der Gedanke erfüllte ihn mit jener absoluten Kraft, wie sie nur die Todesangst oder bestimmte Drogen hervorrufen konnten, die erlaubten, den Tod im Leben zu erfahren. Mit einem noch gellenderen Schrei sprang er auf die Füße, warf sich zur Seite und schlug die Türklinke herab, wobei er sich mehrere Fingernägel abbrach, so daß er blutige Spuren auf dem Holz hinterließ.

Er spürte es nicht. Er torkelte weiter, sprengte die Tür mit der Schulter auf und stolperte schreiend auf die Straße hinaus. Brandgeruch und der Gestank von heißen Maschinen lagen in der Luft. Nicht weit entfernt hämmerte ein Maschinengewehr, und aus den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses schlugen Flammen.

Mogrod stolperte mit haltlos rudernden Armen noch zwei, drei Schritte weiter, ehe er schließlich fiel und so schmerzhaft auf das rechte Knie prallte, daß ihm die Tränen in die Augen schössen. Er ignorierte auch diesen Schmerz, sprang wieder in die Höhe und sah sich gehetzt um.

Er war nahezu im Zentrum der Kämpfe. Fast alle Häuser ringsum lagen in Trümmern oder brannten, und nur zwei oder drei Straßen weiter schien eine ganze Granatensalve einzuschlagen. Er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen erzitterte, noch ehe er das dumpfe Grollen der Explosionen hörte und die schwarzen Rauchwolken sah, die sich in den Himmel wälzten. Er mußte hier weg!

Aber wohin? Die Truppen der Aufständischen hatten die Stadt nahezu überrannt, und der Kessel schien mittlerweile endgültig geschlossen zu sein. Für ihn bedeutete das den nahezu sicheren Tod. Er hatte diesmal auf das falsche Pferd gesetzt und sich mit seiner Berichterstattung ganz offen auf die Seite der Regierungstruppen gestellt - als es noch so aussah, als behielten sie die Oberhand. Wieder hämmerte das Maschinengewehr, und diesmal kam es ihm so vor, als wäre es merklich näher. Mogrod sah sich wild um. Er brauchte ein Versteck, irgendein Loch, in dem er sich verkriechen konnte, bis das Schlimmste vorüber war.

Er sah kein Versteck, aber dafür den Panzer.

Es war ein veraltetes Modell russischer Bauart, das rumpelnd auf seinen rostigen Ketten um die Ecke kam und sich trotz seines sichtlichen Alters mit erschreckender Schnelligkeit bewegte. Der Turm mit dem kurzen, dicken Geschütz drehte sich unentwegt von rechts nach links und wieder zurück, als suche er gierig nach einem Ziel - und richtete sich dann genau auf ihn!

Mogrod fuhr herum und rannte im Zickzack die trümmerübersäte Straße entlang. Hinter ihm heulte der Motor des Tanks auf wie ein wütendes Raubtier, und er konnte hören, wie die breiten Ketten das Straßenpflaster zerrissen. Wie schnell fuhr ein Panzer? Vierzig, fünfzig Stundenkilometer? Egal. Auf jeden Fall schneller, als er laufen konnte. Gehetzt sah Mogrod über die Schulter zurück und erkannte, daß sein Vorsprung bereits auf weniger als die Hälfte zusammengeschrumpft war.

Irgend etwas hämmerte dumpf und sehr schnell, und eine Stimme rief seinen Namen: »Herr Mogrod? Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?«

Mogrod stolperte weiter, wich hakenschlagend einem Wagen aus, der auf vier platten Reifen am Straßenrand stand, und wartete auf das Krachen der Kanone oder eine MG-Salve, die ihn zwischen die Schulterblätter traf. Doch der Panzerfahrer hatte offenbar nicht vor, kostbare Munition zu verschwenden. Statt dessen heulte der Motor noch schriller auf, und der Hundert-Tonnen-Koloß machte einen regelrechten Satz. Er machte sich nicht die Mühe, dem Wagen auszuweichen, sondern walzte ihn einfach platt.

Wieder ertönte das Hämmern, und diesmal klang die Stimme schrill: »Herr Mogrod! Was ist denn da drinnen nur los? Ich schlage jetzt die Tür ein, wenn Sie nicht antworten!«

Das konnte er nicht. Er brauchte jedes bißchen Atem, das er bekam, um zu rennen. Trotzdem kam der Panzer unerbittlich näher. Er brauchte ein Versteck, irgend etwas, wo er sich verkriechen und wo ihn dieser Panzer nicht erreichen konnte!

Dann sah er es. Ein Kellerloch, nur noch wenige Schritte entfernt, und hinter einer halb niedergebrochenen Wand. Der Fußboden des Hauses war eingestürzt, wohl von einer Granate oder einem schweren Trümmerstück getroffen, und der darunterliegende Keller lag gut drei Meter tiefer. Ein riskanter Sprung, aber die einzige Chance, die er vielleicht noch hatte. Der Panzerfahrer würde es nicht wagen, ihm mit seinem tonnenschweren Gefährt dorthin zu folgen, aus Angst, daß der Tank einfach durch den Boden brach.

Etwas krachte. Er hörte das Geräusch von splitterndem Holz und sah aus den Augenwinkeln, wie ein Mann aus einer Tür nicht weit entfernt heraustaumelte. Sein Gesicht kam ihm vage bekannt vor, auch wenn er im Moment nicht genau wußte, woher. Und er bewegte sich genau auf den Panzer zu. Mogrod schrie ihm eine Warnung zu, mobilisierte noch einmal alle Kräfte, die er in seinem geschundenen Körper fand, und flankte mit einem gewaltigen Satz über den Mauerrest.

Ein grausamer Schmerz spaltete sein Gesicht in zwei ungleiche Hälften. Andere, kleinere Glasscherben stachen wie Messerklingen in seine Brust und seine Hände, und obwohl er den Schmerz diesmal spürte, schien er ihm irgendwie unwirklich, als wäre es gar nicht er, der ihn erlitt. Für einen winzigen Moment schwebte er scheinbar schwerelos im Nichts, und für die gleiche, fast nicht existente Zeitspanne konnte er durch das Fenster zurücksehen, durch das er gesprungen war. Das Zimmer war vollkommen verwüstet, Möbel umgeworfen, Bilder von den Wänden gerissen, der Fernseher aus dem Regal gefallen und zerbrochen, und jemand hatte die Tür eingetreten und rannte mit wild gestikulierenden Armen auf ihn zu, wobei er unentwegt seinen Namen schrie. Hinter ihm stand der Todesengel, groß, schwarz, mit ausgebreiteten Schwingen und erhobenen Armen. Seine rechte Hand wies auf Mogrod, und die Bedeutung dieser Geste war eindeutig. Er hatte es zu Ende gebracht. Diesmal war niemand dagewesen, der an seiner Stelle starb.

Er fiel.

Seine Wohnung lag nicht im achten Stock, und so dauerte sein Sturz auch nicht so lange wie der Löbachs wenige Stunden zuvor.

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