50. Kapitel

Der Keller war hergerichtet wie die Kulisse eines billigen Horrorfilmes. Bremer schätzte, daß von den über fünfhundert Kerzen, die sie damals gezählt hatten, mindestens die Hälfte jetzt wieder brannte. Ihr Geruch vermischte sich mit dem Staub und dem Moder in der Luft zu etwas, das ihm fast den Atem nahm, und der flackernde Lichtschein erweckte Millionen huschender kleiner Schatten im Raum zum Leben.

Die Erinnerungen hatten ihn mit solcher Wucht getroffen, daß er unmittelbar hinter der Tür stehenblieb und für ein paar Sekunden einfach nicht weitergehen konnte. Alles war wie damals - die Kerzen, die Wärme, das umgedrehte Kreuz auf dem hölzernen Podest. Selbst die Toten schienen wieder da zu sein. Ihre Umrisse waren an den verblichenen, aber noch immer sichtbaren Kreidestrichen auf dem Boden zu erkennen, und was die Leichen anging - sie lagen nicht in den Kreidekonturen, aber sie waren da.

Es gab auch heute wieder vier Tote in diesem Raum.

Drei von ihnen lagen in großen, bereits im Eintrocknen begriffenen Blutlachen unweit der Tür auf dem Boden, und ein vierter hockte vornübergesunken an der gegenüberliegenden Wand. Er blutete nicht, und als Bremer ein zweites Mal hinsah, war er auch nicht mehr sicher, daß er wirklich tot war. Er _ saß völlig reglos da, und sein Gesicht war schlaff und schneeweiß, aber in seinen offenstehenden Augen war etwas. Allerdings kein Leben, sondern nur Grauen.

Die drei anderen hingegen waren tot, daran bestand kein Zweifel. Es waren auch keine Kinder, wie damals, sondern erwachsene Männer - zwei von ihnen in einem schwer zu definierenden Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, während der dritte ungefähr in Sendigs Alter sein mußte. Alle drei waren erschossen worden, und das wahrscheinlich erst vor ganz kurzer Zeit. In dem süßlichen Blutgeruch, der von ihren Leichen aufstieg, glaubte er noch Pulverdampf zu identifizieren.

Ganz allmählich fand er in die Wirklichkeit zurück. Es fiel ihm schwer. Die Mischung aus erinnertem und gegenwärtigem Grauen, die ihn empfangen hatte, war schlimmer als alles andere bisher. Er mußte sich bewußt konzentrieren, um sich zu fragen, wer die drei Toten sein mochten - obwohl er die Antwort eigentlich kannte. Einer von ihnen hielt eine Pistole in der Hand, die er noch sterbend gezogen hatte, und sowohl ihre Gesichter als auch die Art, sich zu kleiden, wiesen gewisse Ähnlichkeiten auf. Sie gehörten zu den Männern in den blauen BMW. Sendigs Dienstausweise. Sie mochten mächtig sein, aber sie waren nicht kugelfest.

»Sillmann?« Sendigs Stimme riß ihn endgültig wieder in die Wirklichkeit zurück. Er war an ihm vorbeigetreten, aber nur einen einzigen Schritt, ehe er wieder stehengeblieben war. Seine Stimme hatte einen hohlen Klang, den Bremer im ersten Moment auf die Akustik des Kellerraumes schob. Dann wurde ihm klar, daß es pures Entsetzen war, was er darin hörte.

Außer den vier Toten gab es noch eine weitere Gestalt im Raum. Bremer konnte nur ihren Rücken erkennen, aber er hätte auch ohne Sendigs Worte gewußt, daß es Sillmann war. Irgend etwas ging von diesem Mann aus, das ihn unverwechselbar machte, selbst wenn man sein Gesicht nicht sah.

Sillmann drehte sich schwerfällig herum. Er brauchte mehrere Sekunden für diese einfache Bewegung, und Bremer hatte den Eindruck, daß sie seine Kräfte fast überstieg. Sein Gesicht war grau, und in seinen Augen glomm eine Furcht, die beinahe so schlimm war wie die des Mannes, der drüben an der Wand hockte. Er trug einen teuren Kaschmirmantel, in dessen rechter Tasche sich vier kleine schwarze Löcher mit verbrannten Rändern befanden. Die linke Hand hatte er in der Manteltasche, in der anderen hielt er ein großformatiges Buch mit dunkelbraunem Ledereinband.

Es schien ihn Mühe zu kosten, Sendig zu erkennen. Einige Sekunden lang starrte er ihn verständnislos an, dann löste sich sein Blick von ihm, irrte suchend durch den Raum und blieb schließlich auf Marks Gesicht hängen. Irgend etwas geschah hinter seiner Stirn, das konnte Bremer deutlich sehen. Er wußte nicht, was, aber es war nichts Gutes.

Der Junge stöhnte leise, als hätte er das Wort verstanden und versuchte darauf zu antworten - was Bremer allerdings bezweifelte. Seit sie den Keller betreten hatten, hatte Mark kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben, aber er konnte durch den Stoff seiner Kleidung hindurch spüren, wie schnell sein Puls hämmerte. Trotzdem bewegte er sich jetzt wieder. Er versuchte den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen, hatte aber zu beidem nicht mehr die Kraft.

Bremer sah zum Eingang zurück. Der schwarze Engel hatte sie nicht verfolgt, aber er wußte, daß er noch irgendwo dort draußen stand und wartete. Vielleicht darauf, daß Mark endgültig das Bewußtsein verlor. Sillmann machte einen schwerfälligen Schritt, und Sendig hob seine Waffe.

»Bleiben Sie stehen!« sagte er.

Sillmann gehorchte tatsächlich, aber erst nach einem weiteren Schritt. Er sah nicht einmal in Sendigs Richtung, sondern starrte nur seinen Sohn an. »Was...was ist mit ihm?« fragte er leise. »Was haben Sie mit ihm -«

»Gar nichts«, unterbrach ihn Sendig. »Das haben Sie ihm ganz allein angetan. Sie sollen stehenbleiben, habe ich gesagt!«

Sillmann hatte einen weiteren Schritt gemacht und blieb jetzt wieder stehen. Zum ersten Mal überhaupt schien er die Waffe in Sendigs Hand zu bemerken. Er lächelte. »Und nehmen Sie die Hand aus der Tasche!« verlangte Sendig.

Sillmann tat nichts dergleichen. Statt dessen wandte er den Kopf und sah die zusammengekauerte Gestalt an der Wand neben sich an, dann die drei Toten. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Haben Sie sie erschossen?« fragte Sendig.

Sillmann nickte. Er atmete hörbar ein, und Bremer konnte ihm regelrecht ansehen, wie seine Gedanken ein kleines Stück weit in die Realität zurückfanden. »Ja«, sagte er, ohne irgendein hörbares Gefühl in der Stimme. Dann lachte er leise.

»Wollen Sie mich deswegen verhaften?«

Sendig schnaubte. »Wenn Sie es nicht getan hätten, hätte ich es getan«, sagte er kalt. »Ich habe nicht vor, Sie zu verhaften, Sillmann. Ich habe vor, Sie zu töten.« Er richtete die Waffe direkt auf Sillmanns Gesicht, und Bremer hielt instinktiv den Atem an, als sich sein Finger um den Abzug krümmte.

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