Vollkommen erschöpft sank Bremer zu Boden. Er verlor nicht wirklich das Bewußtsein, aber er war auch nicht wirklich wach; der Zustand, in dem er die nächsten Minuten verbrachte, war irgend etwas dazwischen. Alles verwirrte sich, wurde unscharf und leicht, und die Zeit zerbrach zu einer Aneinanderreihung verschieden langer, verschieden deutlicher Impressionen, die an den Nahtstellen nicht richtig zusammenpaßten. Er registrierte Schreie, Rufe, ein wildes Durcheinander von Stimmen und Lärm, von Motorengeräusch und kreischenden Bremsen, von Sirenen und Lichtblitzen: Bruchstücke der Wirklichkeit, die manchmal nahtlos, manchmal mit beinahe schmerzhaften kleinen Rucken aufeinanderfolgten und ihm zumindest eine Ahnung davon vermittelten, was um ihn herum geschah.
Jemand rüttelte an seiner Schulter, vielleicht zum zwanzigsten, vielleicht auch zum zweihundertsten Mal, aber erst jetzt fand er die Kraft, darauf zu reagieren.
Es war Sendig. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und sah aus, als wäre es gehäutet, aber unter all dem Schmutz lag kein rohes Fleisch, sondern nur der rote Widerschein des Feuers, das noch immer am Ende der Gasse tobte.
»Bremer! So antworten Sie doch Wagen ist schon unterwegs!«
Diesmal war der Schnitt nahtlos gewesen. Erst als Bremer die Sinnlosigkeit dieses Satzes zu Bewußtsein kam, wurde ihm auch klar, daß es in Wirklichkeit zwei Sätze gewesen waren, deren Anfang und Ende er hörte. Dazwischen war eine unendlich dünne, kaum spürbare Naht, hinter der sich ein schwarzer Abgrund von vielleicht Minuten verbarg. Vielleicht auch von Stunden.
»Was?« murmelte er.
Sendig sah ihn für die Dauer eines schweren Herzschlages aus schmalen Augen an, dann fragte er »Alles wieder okay?«
»Ich... ich glaube schon«, antwortete Bremer schleppend.
Ganz plötzlich waren seine Erinnerungen wieder da. Er setzte sich mit einem Ruck auf und sah sich wild um. »Wo ist der Junge?«
Sendig hob besänftigend die Hand. »Dem geht es besser als Ihnen«, sagte er. »Mann, haben Sie mir einen Schrecken eingejagt. Für einen Moment dachte ich fast, Sie hätten es hinter sich.«
Wenn es doch nur so wäre, dachte Bremer. Er hatte Mark mittlerweile entdeckt und wollte aufstehen, spürte aber selbst, daß seine Kraft dazu noch nicht ausreichte, und beließ es dabei, sich etwas gerader aufzusetzen. Mark saß mit angezogenen Knien, an den Kotflügel von Sendigs Wagen gelehnt, da und starrte ins Leere. Sein Haar war angesengt, das Gesicht voller Ruß und Schmutz, und er hatte auch ein paar Schrammen abbekommen, aber den wirklich schlimmen Anblick bot sein Arm. Jemand hatte ihm die Jacke ausgezogen, und sein Arm schien bis zur Schulter hinauf in einem nassen roten Handschuh zu stecken, von dem es gleichmäßig zu Boden tropfte. Bremer erinnerte sich voller Schrecken an die Blutspur, der er gefolgt war.
»Wieso lebt er noch?« fragte er impulsiv.
»Es sieht schlimmer aus, als es ist«, antwortete Sendig. »Er hat ein bißchen Blut verloren, ich habe den Arm abgebunden.« Als er Bremers zweifelnden Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Der Krankenwagen müßte jeden Augenblick eintreffen.«
Bremers Kräfte kehrten allmählich zurück. Er mußte wohl einen leichten Schock erlitten haben, der ihn bisher vor dem Schlimmsten bewahrt hatte, aber nun, wo dessen Nachwirkungen abzuflauen begannen, spürte er auch all die kleinen und größeren Blessuren, die er davongetragen hatte. Seine abgebrochenen Fingernägel schmerzten höllisch, und sein Gesicht und die Haut auf seinen Handrücken brannten wie Feuer. Er erinnerte sich an die Flammen, in die er praktisch hineingegriffen hatte, und allein die Erinnerung an diesen Schmerz ließ ihn wieder aufstöhnen. Wahrscheinlich hatte er sich das Fleisch bis auf die Knochen versengt Bremer brachte kaum den Mut auf, die Arme zu heben und seine Hände zu betrachten. Er ahnte, welcher Anblick ihn erwarten würde.
Er täuschte sich.
Er hatte sich tatsächlich fünf oder sechs Fingernägel abgebrochen, von denen einige leicht bluteten, aber seine Hände waren darüber hinaus beinahe unverletzt. Sie waren zerschunden und schmutzig, aber nicht verbrannt.
»Was ist?« fragte Sendig. »Ist Ihnen nicht gut?« Bremer drehte die Hände vor den Augen, schloß sie zu Fäusten und öffnete sie wieder. Er hatte den Schmerz gespürt. Er hatte gesehen, wie die Hitze sein Fleisch zu brauner Schlacke verkohlt hatte. Aber seine Haut war unversehrt.
»Bremer«, sagte Sendig.
»Schon gut«, sagte Bremer. »Ich... freue mich nur, daß ich noch ganz bin.«
»Ich auch«, pflichtete ihm Sendig bei. »Einen Moment lang sah es gar nicht danach aus. Was war los? Wollten Sie den Jungen verbrennen lassen?«
»Ich... hatte wohl so etwas wie einen Blackout«, sagte Bremer ausweichend; Er versuchte sich zu einem Lächeln zu zwingen, ließ endlich die Hände sinken und stand mühsam auf. »Aber jetzt ist wieder alles in Ordnung. War wohl ein bißchen viel auf einmal.«
Sendig sah ihn scharf an. Er tat es auf eine ganz bestimmte Art, die längst nicht nur besorgt war. Er sah aus, dachte Bremer, als... erwarte er etwas. Etwas ganz Bestimmtes. »Es war wieder eine von diesen Visionen, nicht wahr?« fragte er.
Bremer fuhr sichtbar zusammen. Schon das Wort reichte, den schwarzen Schatten wieder vor seinen Augen erstehen zu lassen, und für einen winzigen Moment glaubte er wieder die Hitze zu spüren und den unvorstellbaren Schmerz. Er antwortete nicht auf Sendigs Frage, sondern drehte sich statt dessen herum und machte einen Schritt in Marks Richtung, blieb aber dann noch einmal stehen und sah über die Straße.
Die beiden Wagen brannten immer noch, wenn auch längst nicht so lichterloh, wie er geglaubt hatte, und das Feuer hatte auch nicht auf die benachbarten Häuser übergegriffen. Er konnte die Wracks allerdings kaum mehr sehen, denn die Gasse war von Dutzenden Schaulustiger versperrt, die, durch den Lärm und den Feuerschein angelockt, herbeigelaufen waren. Zahlreiche Autos hatten rings um sie herum angehalten, einige mit noch laufendem Motoren, aber von ihren Fahrern verlassen, und in der Ferne hörte er Sirenengeheul. Bremer nahm den Anblick einige Sekunden lang ganz bewußt in sich auf und versuchte ihn mit dem zu vergleichen, was er dort drüben gesehen hatte, dann drehte er sich wieder herum, ging die zwei Schritte zu Sendigs Wagen und betrachtete sein eigenes Gesicht im Spiegel.
Es war verschwitzt und schmutzig, und seine Haut war rot, als hätte er einen leichten Sonnenbrand, aber nicht verbrannt. Er hatte die Flammen gefühlt, die seine Haut versengt hatten, die Hitze, die sich wie eine gierig fressende Ratte in seinen Schädel hineingegraben hatte, und es war real gewesen. Er wußte mit absoluter Sicherheit, daß sie ihn getötet hätte, wäre er auch nur einige Sekunden länger dort drüben geblieben, aber er war unverletzt.
Zutiefst erschüttert richtete sich Bremer wieder auf, blieb lange Sekunden reglos stehen und wandte sich dann zuerst zu Sendig, dann zu Mark um, der noch immer in der gleichen Haltung wie zuvor an Sendigs Wagen lehnte. Sein Gesicht war leer, und seine Augen blickten starr ins Nichts.
»Was ist los mit Ihnen, Bremer?« fragte Sendig erneut. Er klang jetzt überhaupt nicht mehr besorgt Seine Stimme war fordernd, befehlend, aber zugleich von einem unüberhörbaren Vibrieren kaum mehr zurückgehaltener Panik erfüllt. »Sie haben etwas gesehen, nicht wahr?«
Bremer sah ihn nur an, dann ließ er sich neben Mark in die Hocke sinken und streckte die Hände nach ihm aus. Marks Gesicht war mit Schweiß bedeckt, aber eiskalt. Die Wunde in seinem Arm blutete immer noch leicht, obwohl Sendig tatsächlich einen Streifen aus seinem Hemd gerissen und die Arterie damit abgebunden hatte. Bremer zog den blutgetränkten Stoff über der Verletzung mit spitzen Fingern auseinander. Sein Gesicht verdüsterte sich, als er die Wunde sah.
»Das ist eine Schußverletzung«, sagte er.
»Ich weiß«, antwortete Sendig. »Ich habe ihm gesagt, der Arzt ist unterwegs.«
»Sie haben auch gesagt, daß es nicht so schlimm ist«, antwortete Bremer. Er sah zornig zu Sendig hoch. »Sie wissen verdammt genau, daß er daran sterben kann.«
»Was soll ich tun?« schnappte Sendig. »Einen Regentanz auffuhren und die Götter anflehen, einen Krankenwagen vom Himmel fallen zu lassen? Ich kann nicht zaubern.«
Bremer mußte sich für einen Moment mit aller Gewalt beherrschen, um nicht aufzuspringen und Sendig die Faust ins Gesicht zu schlagen. Für eine Sekunde spürte er nichts als Wut. Er hatte gewußt, wie Sendig war. Er hatte versucht, sich selbst einzureden, daß er dessen Zynismus und vollkommene Gefühllosigkeit kannte und schon irgendwie damit fertig werden würde. Aber das stimmte nicht. Ob der Junge starb oder nicht, war Sendig vollkommen egal, genauso egal, wie es ihm wahrscheinlich war, ob er diesen Tag überlebte. Er selbst, Mark, das Mädchen, Marks Vater, der Fotograf, Löbach und Artner und wie sie auch alle hießen, die an diesem Tag bereits zu Schaden gekommen waren oder es noch würden - keiner von ihnen bedeutete Sendig irgend etwas. Sie alle waren nur Spielzeug für ihn, Figuren in einem Spiel, von dem Bremer nicht einmal wußte, wie es hieß. Aber statt aufzuspringen und auf Sendig loszugehen, ließ er sich im Gegenteil vollends auf die Knie sinken, griff behutsam nach Mark und legte ihn auf den Rücken. Hastig schälte er sich aus seiner Jacke, knüllte sie zu einem Ball zusammen und schob sie unter seine Beine. Mark reagierte mit einem leisen Stöhnen auf die Berührung, aber seine Augen blieben weiter auf diese schreckliche Art leer.
»Sie haben im Erste-Hilfe-Kurs gut aufgepaßt«, sagte Sendig spöttisch.
»Jedenfalls lege ich es nicht darauf an, ihn umzubringen«, erwiderte Bremer. »Ich nehme an, ich kann mir die Frage sparen, wer die Kerle in dem BMW waren? Ich meine - natürlich würden Sie es mir sagen. Aber nicht jetzt, sondern bald. Sobald der richtige Moment gekommen ist.«
Sendig ignorierte den beißenden Spott in seinen Worten. »Ich verstehe Ihre Neugier«, sagte er. »Aber glauben Sie mir - diese Burschen sind im Moment Ihr kleinstes Problem. Meines übrigens auch.«
Das Sirenengeheul kam näher. Am Ende der Straße tauchte das Blaulicht eines Krankenwagens auf, unmittelbar gefolgt von der Feuerwehr und gleich zwei Streifenwagen der Polizei.
»Typisch Bullen«, sagte Sendig. »Wenn man sie wirklich braucht, kommen sie zu spät.«
Bremer ersparte es sich, zu antworten. Statt dessen beugte er sich wieder über Mark und legte die Hand auf seine Stirn. Sie war noch immer eiskalt, aber er konnte fühlen, wie der Puls des Jungen jagte. Vielleicht war er mit dem, was er Sendig gerade zornig vorgeworfen hatte, der Wahrheit nähergekommen, als ihm lieb war. Der Junge hatte einen schweren Schock, und dazu kam der Blutverlust, der enorm gewesen sein mußte. Wenn er nicht schnellstens in ein Krankenhaus kam, dann würde er vielleicht wirklich sterben.
»Was ist mit den anderen?« fragte er.
Sendig machte eine Kopfbewegung auf die beiden brennenden Autowracks. »Sie sind tot«, sagte er ohne eine Spur von Mitleid in der Stimme.
»Ich glaube kaum, daß da einer rausgekommen ist Wenn sie mit im Wagen war...« Er zuckte die Achseln. »Ich fliehte, jetzt werden wir nie erfahren, ob Sie recht hatten.«
Er trat einen Schritt zur Seite, um dem Krankenwagen Platz zu machen, der sich mit mittlerweile abgeschalteter Sirene, aber noch immer hektisch rotierendem Blaulicht seinen Weg durch die Menge bahnte, die die Straße blockierte, und auch Bremer erhob sich zögernd. Die Türen des Krankenwagens flogen auf, und ein junger Arzt in einer signalroten Jacke sprang heraus und eilte zu Mark. Noch während er neben ihm niederkniete, öffnete er seinen Notfallkoffer und begann den beiden Sanitätern, die ihn begleiteten, routiniert Anweisungen zu geben.
Sendig trat einige weitere Schritte zurück und forderte Bremer mit einer Geste auf, ihm zu folgen. Bremer gehorchte nur widerwillig. Es war nicht nur so, daß er immer noch wütend auf Sendig war - es war ihm im Moment beinahe unmöglich, seine Nähe zu ertragen. Harte er diesem Mann wirklich jemals auch nur eine einzige Sekunde vertraut?
Sendig trat noch einige weitere Schritte zurück und blieb erst stehen, als sich niemand mehr in ihrer unmittelbaren Hörweite aufhielt Er sah Bremer auf eine Art an, als hätte er seine Gedanken gelesen. Vermutlich waren sie ihm deutlich anzusehen. Aber er ging mit keinem Wort darauf ein, sondern drehte sich nach einigen Sekunden wieder herum und sah eine Weile zu, wie sich der Notarzt und die Sanitäter um Mark bemühten.
»Bin beruhigendes Gefühl, zu wissen, daß es jemanden gibt, der einem im Notfall hilft, nicht?« fragte er.
»Wie?« fragte Bremer.
Sendig deutete auf den Arzt. »Er ist gut. Schade um ihn.«
»Was soll das heißen?« fragte Bremer scharf.
Sendig wiederholte seine Geste, schüttelte ganz sacht den Kopf und sagte sehr leise und ohne Bremer dabei ins Gesicht zu sehen: »Sie wollten wissen, was los ist? Also gut. Was halten Sie davon: Ich habe ein bißchen herumtelefoniert, während Sie die beiden beschattet haben. Erinnern Sie sich an den Arzt von gestern? Den, der Löbachs Leiche untersucht und sich um Ihren Kollegen gekümmert hat?«
»Natürlich«, antwortete Bremer. »Warum?«
»Er ist verschwunden«, sagte Sendig.
»Verschwunden! Was soll das bedeuten?«
»Das, was es heißt«, antwortete Sendig. »Er ist nicht mehr da. Eine Stunde, nachdem er Ihren Kollegen ins Krankenhaus gebracht hat, wurde er zu einem neuen Einsatz gerufen. Seither hat ihn niemand mehr gesehen. Weder ihn noch die beiden Sanitäter, die dabei waren, oder den Krankenwagen. Interessant, nicht?«
»Aber... aber das ist doch Unsinn«, sagte Bremer. Seine Stimme klang beunruhigter, als er sich selbst eingestehen wollte. »Ein kompletter Krankenwagen verschwindet doch nicht so einfach.«
»Manchmal schon«, erwiderte Sendig mit einem leisen, humorlosen Lachen. »Vor allem, wenn er zu einem Einsatz gerufen wird, den es nicht gibt.« Er deutete erneut auf den Arzt und seine beiden Helfer, die sich noch immer heftig um Mark bemühten. »Was meinen Sie? Sollen wir Wetten annehmen, ob sie morgen früh noch da sind? Oder tun wir unsere Pflicht und gewähren ihnen Polizeischutz?«