»Das ist wieder mal typisch!« sagte Sendig kopfschüttelnd, während er mit der einen Hand den Bund mit Dietrichen in die linke Jackentasche gleiten ließ und mit der anderen das Kunststück fertigbrachte, die Tür zu öffnen und zugleich eine einladende Geste zu machen. »Die Leute geben ein Vermögen für Alarmanlagen in ihren Wagen aus und bezahlen extra einen Wachdienst, der ihre Häuser beschützt - und dann bauen Sie ein Schloß ein, das jeder Erstkläßler mit einer Hutnadel aufbekommt! Wo zum Teufel sind Sie so lange geblieben? Ich habe fast eine halbe Stunde auf Sie gewartet.«
Bremer folgte seiner Einladung und trat mit einem schnellen Schritt an dem Kommissar vorbei in die Penthousewohnung. Sendig hatte nicht länger als ein paar Sekunden gebraucht, um das Schloß zu öffnen, und obwohl er dazu einen Dietrich benutzt hatte, zweifelte Bremer keinen Moment lang daran, daß er es auch tatsächlich mit einer Hutnadel und in nicht nennenswert längerer Zeit geschafft hätte. Aber statt zufrieden zu sein, klang er eher beleidigt - beinahe enttäuscht.
»Seien Sie doch froh, daß es so einfach war«, sagte er. »Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich mußte ein paar Umwege machen. Das dauert.«
»Um die Männer in dem BMW abzuschütteln?«
Bremer hatte mit jeder nur denkbaren Bemerkung gerechnet - aber damit nicht. Er hielt abrupt mitten in der Bewegung inne und starrte Sendig an. »Wie?«
»Sagen Sie nicht, Sie hätten sie nicht bemerkt«, sagte Sendig. »Das würde mich enttäuschen.«
»Ich habe sie bemerkt«, begann Bremer, und Sendig unterbrach ihn erneut: »Genau wie ich, auf dem Parkplatz. Aber ehe Sie mich jetzt niederschießen - Sie waren nicht in Gefahr. Sie hätten Ihnen nichts getan.«
»Und was sollte diese Räuberpistole dann?« fragte Bremer zornig. Natürlich war der blaue BMW wieder dagewesen, kaum daß er die Klinik verlassen hatte, und er war ihm nahezu den ganzen Weg hierher gefolgt. Aber eben nur nahezu. Es war Bremer letztendlich gelungen, ihn abzuschütteln. Wenigstens hoffte er das.
»Ich habe gehofft, daß sie Sie observieren und nicht mich«, antwortete Sendig ungerührt. »Wie es aussieht, zu Recht.«
»Wozu?«
»Sagen wir: Ich habe mit jemandem gesprochen, den ich nicht mit in diese Geschichte hineinziehen möchte. Außerdem ist es besser, wenn niemand weiß, daß wir hier sind. Wenigstens noch nicht. Ich hoffe doch, Sie haben sie abgeschüttelt.«
»Ich denke schon«, antwortete Bremer verärgert. »Allerdings mußte ich über ein paar rote Ampeln fahren, und ich fürchte, ich habe auch die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Mit Ihrem Wagen. Ich hoffe, Sie bekommen ein Dutzend Anzeigen.«
Sendig lachte. »Damit kann ich leben«, sagte er. »Und jetzt lassen Sie uns diese Wohnung durchsuchen.« Er deutete nach rechts. »Sehen Sie sich dort um. Ich nehme mir die Zimmer auf dieser Seite vor.«
Bremer schluckte seinen Ärger herunter, aber er fragte sich, wie lange er das wohl noch konnte. Es war jetzt ungefähr das zehnte Mal, daß er sich selbst sagte, daß Sendig ihn nicht mehr überraschen konnte - und wahrscheinlich würde er es sich auch noch weitere zehnmal sagen. Er verstand nicht einmal wirklich, warum sie überhaupt hier waren. Trotzdem durchquerte er rasch den kurzen Flur und öffnete die Tür an seinem Ende. Sie führte in ein kleines, aber sehr behaglich eingerichtetes Badezimmer ohne Fenster. Bremer blieb einen Moment unter der Tür stehen, um einen Gesamteindruck des Raumes in sich aufzunehmen, dann durchsuchte er ihn sehr gründlich, fand aber nichts außer den üblichen Badezimmer-utensilien: Handtücher, Toilettenpapier und ein penibel aufgeräumter Schrank mit Wäsche, ein kleiner, nahezu leerer Medikamentenschrank über dem Waschbecken und ein Bademantel mit Monogramm und leeren Taschen, der säuberlich neben der Duschkabine aufgehängt war. Nicht das kleinste Stäubchen. Badewanne, Waschbecken und Dusche waren frisch poliert, und die Toilette blitzte vor Sauberkeit. Selbst das Klopapier war fast militärisch aufgereiht. Wenn es in der ganzen Wohnung so aussah, dachte Bremer, dann mußte Artner entweder eine übereifrige Putzfrau haben oder ein verfluchter Pedant sein.
Der nächste Raum, den er durchsuchte, war das Schlafzimmer. Er brauchte sehr viel länger dazu, kam aber zum gleichen Ergebnis: Er fand nichts - was allerdings zu einem Gutteil daran liegen mochte, daß er gar nicht wußte, wonach sie eigentlich suchten - und war jetzt sicher, daß Artner einen Sauberkeitstick hatte - beziehungsweise gehabt hatte.
Er traf Sendig im Wohnzimmer wieder, das nicht nur überraschend groß war, sondern auch einen radikal anderen Anblick bot als der Teil der Wohnung, den er durchsucht hatte: Die eine Hälfte des Raumes war so pedantisch aufgeräumt und sauber wie Bad und Schlafzimmer, die andere glich einem Chaos. Bremer hatte sich bemüht, alles so zu hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatten, und nichts zu verändern, aber Sendig hatte da weniger Hemmungen: Als Bremer eintrat, fischte er gerade eine Reihe Taschenbücher vom Regal, um sie rasch durchzublättern und dann achtlos fallen zu lassen. Der Weg, den er genommen hatte, war genau nachzuverfolgen: Herausgerissene Schubladen, Schallplatten und achtlos verstreute CDs, die aus ihren Hüllen gerissen worden waren, Videocassetten und Papiere bildeten eine Trümmerspur, die Sendig wie eine emsige Verwüstungsmaschine mit erstaunlicher Schnelligkeit verlängerte.
»Halten Sie das für klug?« fragte Bremer mißbilligend.
»Was?« Sendig schien im ersten Moment gar nicht zu verstehen, was Bremer meinte. Dann senkte er den Blick, sah mit gespielter Betroffenheit auf das Chaos hinunter, das ihm mittlerweile fast bis zu den Waden reichte, und sagte: »Oh. Ich verstehe. Aber ich glaube nicht, daß es den verstorbenen Professor noch besonders stört, wissen Sie.«
»Ihn nicht«, antwortete Bremer - wider besseres Wissen. Es hatte einfach keinen Sinn, mit Sendig zu diskutieren. Trotzdem fuhr er fort: »Aber vielleicht andere. Jemand könnte herkommen -«
»- und annehmen, daß eingebrochen worden ist«, fiel ihm Sendig ins Wort und ließ das nächste Buch fallen. »Und? Haben Sie Angst, daß uns jemand anzeigt?« Er lachte. »Was sollen sie tun? Die Polizei rufen?«
»Zum Beispiel.«
»Ein Einbruch mehr oder weniger.« Sendig zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder dem Bücherregal zu. »Ich glaube nicht, daß es darauf ankommt. Nehmen Sie sich den Schrank vor, okay?«
Bremer schluckte die zornige Entgegnung herunter, die ihm auf der Zunge lag. Es war nicht Sendigs Schuld. Er war gereizt, sehr viel mehr, als er zugeben wollte, und er kam sich tatsächlich wie ein Einbrecher vor. Rein juristisch betrachtet waren sie das auch - sie hatten weder einen Durchsuchungsbefehl noch irgendeinen zwingenden Grund, diese Wohnung zu durchsuchen. Artner war tot, aber zu sterben war in diesem Land noch nicht strafbar. Was sie taten, hatte etwas von Leichenfledderei an sich, fand er.
Verrückt. Bremer verstand sich selbst nicht mehr. Solche Gedanken waren ihm eigentlich fremd. Aber seit seinem unheimlichen Erlebnis im Wagen hatte er sich noch immer nicht richtig beruhigt. Natürlich war es nur eine Sinnestäuschung gewesen, und trotzdem... Etwas daran war so realistisch gewesen, daß ihm noch immer ein eisiger Schauer über den Rücken lief, wenn er daran zurückdachte. Und den größten Fehler hatte er anschließend begangen: Er hatte Sendig auf dem Weg hier herauf erzählt, was er für einen Moment im Spiegel zu sehen geglaubt hatte. Und auf dem Foto.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Sendig in diesem Moment noch einmal: »Ein Engel? Sie sind sicher, daß Sie einen Engel gesehen haben?«
Diesmal konnte Bremer nicht mehr so tun, als hätte er die Frage überhört. »Ich habe überhaupt nichts gesehen«, antwortete er, ohne sich zu Sendig herumzudrehen. »Wahrscheinlich war es nur ein Lichtreflex. Irgendein Schatten.«
»Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Sendig. Irgend etwas klapperte zu Boden, aber Bremer widerstand weiter tapfer der Versuchung, sich zu ihm herumzudrehen. Statt dessen öffnete er eine weitere Schublade des wuchtigen altdeutschen Schrankes und untersuchte ihren Inhalt. Er unterschied sich nicht von dem der beiden, die er bereits durchgesehen harte: Zeitschriften, irgendwelche Papiere voller wissenschaftlicher Fachausdrücke, die genausogut in Chinesisch geschrieben sein könnten, ein paar Akten, deren Stempel verriet, daß sie aus der Klinik stammten. Bremer öffnete sie alle, aber er mußte sie nicht durchblättern. Jede einzelne enthielt auf der ersten Seite ein Farbfoto desjenigen, dessen Krankengeschichte sie behandelte.
»Glauben Sie an Engel?« fragte Sendig, als er auch nach einer Weile keine Antwort bekam.
»Natürlich«, antwortete Bremer. »Genauso wie an den Osterhasen, den Weihnachtsmann und ehrliche Politiker.«
Sendig lachte pflichtschuldig, aber er schien Gefallen an dem Thema gefunden zu haben, denn er ließ auch jetzt nur einige Sekunden verstreichen, ehe er fortfuhr: »Sie sollten solche Dinge nicht auf die leichte Schulter nehmen, Bremer. Das meiste von dem, was wir für bloße Einbildung oder Halluzination halten, hat eine tiefere Bedeutung. Manchmal sind es Botschaften, die uns unser Unterbewußtsein schickt. Nur verstehen wir sie nicht immer gleich.«
Irgendwann, dachte Bremer, würde seine rechte Faust Sendig eine Botschaft schicken, und zwar eine, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Und dieser Tag war vielleicht gar nicht mehr so fern. Er schwieg weiter, aber Sendig verstand die Bedeutung dieses Schweigens entweder nicht, oder er ignorierte sie, denn er plapperte fröhlich weiter.
»Außerdem sollte man mit solchen Dingen nicht scherzen. Sie wären erstaunt, wenn Sie -«
»Sendig, hören Sie auf!« sagte Bremer. »Ich habe heute einfach keinen Nerv mehr für Geschichten.«
Zu seinem eigenen Erstaunen hielt Sendig tatsächlich inne, als er ihn vorwurfsvoll ansah. Nach ein paar Sekunden drehte er sich herum und sah den Kommissar an. »Entschuldigung. Ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Geschenkt.« Sendig machte eine großmütige Geste, dann grinste er. »Ich weiß, daß ich manchen Leuten mit meinem Gerede auf die Nerven gehe. Das muß mein afrikanisches Blut sein. Einer meiner Urururgroßväter war Ägypter - angeblich mit einer Ahnenreihe, die bis in die Zeit der Pharaonen zurückreicht. Wußten Sie, daß die alten Ägypter das schwatzhafteste Volk waren, das man sich nur vorstellen kann?«
»Wenn man Sie so hört, könnte man es beinahe glauben«, sagte Bremer. Seine Entschuldigung tat ihm bereits wieder leid. Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, Sendig kräftig genug vor den Kopf zu stoßen, daß er wenigstens für ein paar Stunden beleidigt die Klappe hielt.
Mit dieser Bemerkung jedenfalls war es ihm nicht gelungen, denn Sendig lachte nur. »Irgend etwas muß wohl dran sein, ja. Haben Sie was gefunden?«
Wieder brauchte Bremer fast eine Sekunde, um die Frage überhaupt dem Thema zuzuordnen, zu dem sie gehörte. Sendigs Verhalten verwirrte ihn zunehmend. Er mußte entweder betrunken sein - oder so nervös, daß er halb hysterisch wurde. Warum? »Gefunden? Ich weiß ja nicht einmal, wonach wir suchen.«
»Ich auch nicht«, gestand Sendig. »Aber das macht die Geschichte ja gerade spannend.« Er seufzte. »Aber jetzt mal im Ernst: Daß Sie ausgerechnet einen Engel gesehen haben wollen, ist schon ein ziemlicher Zufall, finden Sie nicht?«
Bremer zuckte mit den Schultern und drehte sich wieder herum. »Suchen wir weiter. Irgend etwas werden wir schon finden.«
»Ja«, stöhnte Sendig. »Wissenschaftliche Fachbücher. Mein Gott, ich habe nie so viel gelehrtes Zeug auf einmal gesehen!«
»Was haben Sie erwartet?« fragte Bremer, während er sich der nächsten Schublade zuwandte. Auch sie enthielt eine Anzahl Patientenakten. Artner mußte ein Workaholic gewesen sein, und zwar im schlimmsten Stadium. »Der Mann war Wissenschaftler.«
»Aber er muß doch noch irgendwelche anderen Interessen gehabt haben!« beschwerte sich Sendig. »So etwas ist doch nicht normal. Ich meine - jeder Mensch hat schließlich irgendein Hobby.«
»Wahrscheinlich war Artners Hobby sein Beruf.« Bremer schloß die Schublade und wandte sich den Türen darüber zu. »Auf jeden Fall scheint er sich jede Menge Arbeit mit nach Hause genommen zu haben.«
»Hätte ich an seiner Stelle auch getan«, witzelte Sendig. »Vielleicht einen besonders interessanten Fall. Jung, hübsch, mit blonden Haaren und - he, was ist denn das?«
»Was haben Sie?«
»Schauen Sie, hier!« Sendig deutete auf das Bücherregal, dessen Inhalt er auf dem Boden verstreut hatte. Bremer trat neugierig näher, aber er mußte zweimal hinsehen, um den winzigen Spalt zu entdecken, der sich zwischen der Rückwand und dem nächstoberen Brett befand.
»Wenn das kein Geheimfach ist!« Sendig drückte mit gespreizten Fingern gegen das Brett. Ein leises Klicken erscholl, und einen Augenblick später glitt die ganze Rückwand nach oben. Dahinter kam ein zweites, schmaleres Regal zum Vorschein, das allerdings keine Bücher enthielt, sondern ein gutes Dutzend Cassetten in einem durchsichtigen Plastikständer.
»Hoppla!« Sendig stieß einen anerkennenden Pfiff aus, beugte sich vor und verrenkte sich fast den Hals, um in den Spalt über dem Regalbrett zu blicken. »Ein Federmechanismus!« sagte er. »Wie's aussieht, selbst gebaut. Gar nicht unclever, für einen versponnenen Professor! Hätte ich ihm nicht zugetraut.«
Bremer wußte noch nicht einmal genau, was sie da entdeckt hatten, aber das hinderte ihn nicht daran, schon wieder einen leisen Ärger zu empfinden. Eigentlich hätte es ihm klar sein müssen, daß, falls es hier etwas zu finden gab, es Sendig war, der es fand, und nicht er.
Sendig arbeitete sich wieder aus dem Regal heraus und trat einen halben Schritt zurück. Nachdenklich betrachtete er die Cassetten. Sie waren mit weißen Aufklebern versehen, aber nicht beschriftet. Bremer bemerkte erst beim dritten Hinsehen, daß es keine Audiocassetten waren, wie er im ersten Moment angenommen hatte. Die Größe stimmte, aber sie waren zu dick.
»Video-8-Bänder«, sagte er.
Sendig nickte heftig. »Erstaunlich, erstaunlich«, sagte er. »Ich bin gespannt, was da wohl drauf ist. Sieht so aus, als hätte Professor Artner doch das eine oder andere Hobby außer seinem Beruf. Was mag da wohl drauf sein, daß er sie so sorgfältig versteckt?«
Sendig sah sich nachdenklich um. »Irgendwo hier habe ich eine Adaptercassette gesehen«, sagte er. »Helfen Sie mir, sie zu finden.«
Bremer rührte sich nicht. Schließlich hatte er das Chaos nicht angerichtet, sondern Sendig selbst. Sollte er doch jetzt sehen, wie er diese verdammte Cassette wiederfand. Aber das war nicht der einzige Grund. Das ungute Gefühl war wieder da. Nein, es war kein Gefühl. Bremer war plötzlich sicher, daß sie sich diese Bänder nicht ansehen sollten. Mehr noch - er wollte plötzlich gar nicht mehr wissen, was sie enthielten.
»Vielleicht sollten wir die Bänder mitnehmen und später betrachten«, sagte er.
Sendig ließ sich in die Hocke sinken und wühlte mit beiden Händen in dem Durcheinander aus Büchern, Papieren und Tonband- und Videocassetten herum, das vor zehn Minuten noch säuberlich sortiert auf den Regalbrettern vor ihnen gelegen hatte. Er fand fast sofort, wonach er suchte. Es vergingen nur ein paar Sekunden, bis er sich wieder aufrichtete und Bremer triumphierend die Adaptercassette entgegenhielt.
»Sehen Sie? In einem ordentlichen Haushalt geht eben nichts verloren. Geben Sie mir eines der Bänder.«
Bremer nahm tatsächlich eine der kleinen Cassetten aus dem Geheimfach, aber er zögerte, sie Sendig auszuhändigen. Es war, als flüsterte ihm eine lautlose Stimme zu, es nicht zu tun. »Wir sollten sie mitnehmen«, sagte er noch einmal. »Und später ansehen.«
»Sind Sie denn gar nicht neugierig?« Sendig lachte. »Wahrscheinlich sind das ganze heiße Geschichten. Es ist besser, wir werfen wenigstens einen Blick hinein. Stellen Sie sich nur vor, wir geraten in eine Verkehrskontrolle, und man findet einen Koffer voller Kinderpornos bei uns. So etwas ist strafbar.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Wer weiß - man kann ja auch mal Glück haben.«
Bremer blieb ernst. »Das sind mehr als zehn Bänder«, sagte er. »Zwanzig Stunden. Und ich finde, wir sind jetzt schon zu lange hier.«
»Wer sagt denn, daß ich sie alle ansehen will?« fragte Sendig. Er nahm Bremer kurzerhand das Band aus den Fingern und ließ es in die Adaptercassette gleiten, die er in den Videorecorder über dem Fernseher schob. Sowohl Recorder als auch Fernseher waren supermodern und offensichtlich nagelneu, und für einen Moment schöpfte Bremer noch einmal Hoffnung, denn Sendig hatte sichtlich Mühe, mit der Fernbedienung zurechtzukommen; auf der Mattscheibe war nur weißes Rauschen.
»Scheißtechnik«, fluchte Sendig. »Da fliegen sie zum Mond und demnächst zum Mars, aber noch keiner hat eine Fernbedienung erfunden, zu deren Bedienung man keinen akademischen Grad braucht!«
»Wir sollten das ganze Zeug mitnehmen und uns zu Hause ansehen«, sagte Bremer. »Mit meinem Recorder komme ich klar.«
»Und ich mit diesem Scheißding, und wenn es das letzte ist, was ich tue!« versprach Sendig. Er drückte verbissen weiter auf Knöpfe und Tasten, und plötzlich machte das grauweiße Flimmern auf der Mattscheibe einem Bild Platz.
»Na also!« sagte Sendig triumphierend. »Was haben wir denn da?«
Bremer schwieg. Im ersten Moment erkannte er gar nichts, denn das Band war entweder sehr alt und unzählige Male abgespielt worden oder mit der miserabelsten Kamera aufgenommen, von der er je gehört hatte. Aber nach ein paar Augenblicken wurde die Qualität besser; die grauen Schlieren auf dem Bildschirm gerannen zu den Umrissen eines winzigen, weißgestrichenen Raumes, der von einer Position hoch oben unter der Decke aus aufgenommen worden war. Soweit Bremer erkennen konnte, hatte er kein Fenster, und die Einrichtung bestand lediglich aus einem Bett und einer modernen, aber einfachen Waschgelegenheit. Auf dem Bett saß eine schlanke Gestalt, eine junge Frau oder ein Mädchen, die ein einfaches weißes Nachthemd trug. Sie hatte die Beine unter den Körper gezogen und den Kopf gesenkt, so daß ihr Gesicht nicht zu erkennen war.
»Was ist denn das?« murmelte Sendig.
»Ein Krankenzimmer«, antwortete Bremer überflüssigerweise. Seine Zunge war plötzlich trocken. Er hatte Mühe, zu sprechen. Warum beunruhigte ihn dieses Bild so? Es war so banal, wie es nur sein konnte. Und trotzdem beunruhigte es ihn.
Ein Schatten bewegte sich auf dem Bild, und eine halbe Sekunde später trat der dazugehörige Körper in den Aufnahmebereich der Kamera.
»Holla«, sagte Sendig. »Wissen Sie, wer das ist?«
»Nein«, antwortete Bremer.
»Professor Artner höchstpersönlich.«
Artner. Bremer konnte selbst nicht sagen, warum, aber die Erkenntnis machte aus dem Gefühl vager Beunruhigung eine nicht annähernd so vage Angst.
Einzig, um diesem unwirklichen Gefühl Einhalt zu gebieten und überhaupt etwas zu sagen, räusperte er sich und sagte in einem Ton, der nicht einmal annähernd seine wirklichen Gefühle widerspiegelte: »Sieht so aus, als hätten Sie heute Pech, Sendig. Keine Kinderpornos.«
Sendig lachte unecht, und im gleichen Moment hob das Mädchen auf dem Bett den Kopf. Und als Bremer in ihr Gesicht sah und es erkannte, da wünschte er sich fast, sie hätten das gefunden, was Sendig sich erhofft hatte.