»Sie wissen, daß das unmöglich ist«, sagte Bremer. Er wunderte sich selbst über die Ruhe in seiner Stimme, und zugleich fragte er sich, warum er eigentlich nicht laut über seine eigenen Worte lachte. Unmöglich? Es war genau umgekehrt. Wieviel von dem, was er in den vergangenen vierundzwanzig Stunden erlebt hatte, war eigentlich möglich? Sendig machte sich auch nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.
Bremers Hände zitterten immer stärker. Seit Sendig zurückgekommen war, war die hysterische Furcht nicht mehr ganz so schlimm; er war nicht mehr allein, und er fühlte sich auf eine wenn auch vollkommen unlogische Art sogar sicherer, seit er wußte, daß das, was mit ihm geschah, irgendwie mit dem bewußtlosen Jungen auf der Trage zu tun hatte - vielleicht, weil es ihm trotz allem immer noch nicht gelang, ihn als seinen Feind zu betrachten. Wenn Sendig recht hatte (verdammt noch mal, das konnte er nicht! Was er erzählte, war schlechte Sciencefiction, mehr nicht), dann war Mark ungefähr so harmlos wie eine Bombe mit tickendem Zeitzünder, dessen Zifferblatt er nicht lesen konnte, und trotzdem war alles, was er für ihn empfand, ein Gefühl tiefen Mitleids, und wenn er überhaupt Zorn verspürte, dann nur auf die, die ihm das alles angetan hatten: Marks Vater, Löbach und die Männer in den blauen Wagen.
Dafür machte ihm etwas anderes zu schaffen, und das war vielleicht schlimmer. Er begann den Bezug zur Realität zu verlieren. Er wußte nicht mehr, was wirklich war und was Vision. Die Schatten, die ihn verfolgten, die Männer, gegen die er gekämpft hatte - was davon hatte er wirklich erlebt und was nicht? Für einen Moment fragte er sich, ob der ganze zurückliegende Tag vielleicht nicht mehr als ein Alptraum gewesen sei, ein Traum, aus dem er einfach nicht aufwachen konnte, ganz egal, wie sehr er es auch versuchte. Irgend etwas kratzte an der Außenseite des Wagens. Das Geräusch war sehr leise, kaum wirklich hörbar, aber es jagte Bremer einen eisigen Schauer über den Rücken. Er wußte, was es war.
Sendig sog wieder an seiner Zigarette, hustete und reagierte nun doch auf seine Worte. »Ja. Genauso unmöglich wie das, was Mogrod zugestoßen ist. Oder Ihrem Kollegen Hansen. Oder Löbach. Artner... Soll ich weitermachen? Sie sind alle tot, Bremer. Alle, die damals dabei waren.«
»Alle außer Ihnen«, sagte Bremer. »Jetzt verstehe ich endlich. Das ist der Grund, weshalb Sie plötzlich Ihr Gewissen wiederentdeckt haben, nicht? Ihr Name steht auch auf der Liste. Und mittlerweile wahrscheinlich ganz oben!«
»Und wenn?« fragte Sendig. »Ist es ein Verbrechen, überleben zu wollen?«
»Manchmal ja«, antwortete Bremer. »Es kommt auf die Umstände an. Und darauf, was es kostet. Und ich habe Ihnen tatsächlich geglaubt! Sie haben mir etwas von Ihrem Gewissen erzählt und davon, daß Sie sich nicht noch einmal kaufen lassen wollen. Aber das war alles gelogen. Sie hatten einfach nur Angst.«
»Ja«, gestand Sendig. »Aber es war trotzdem nicht gelogen. Es war einer von zwei Gründen. Was ich Ihnen heute morgen erzählt habe, war die Wahrheit, glauben Sie es, oder lassen Sie es bleiben.«
»Sie sind ein verdammter Feigling«, murmelte Bremer. »Was mit dem Jungen passiert oder Hansen oder mir, ist Ihnen doch völlig egal!«
»Haben Sie den Ausdruck auf Mogrods Gesicht gesehen?« fragte Sendig leise. Bremer sah ihn fragend an.
»Ich habe ihn gesehen«, fuhr Sendig fort. »Und übrigens auch den auf dem Artners - und auf Ihrem eigenen, so ganz nebenbei. Begreifen Sie es immer noch nicht, Sie Trottel? Irgend jemand ist dabei, die große Schlußrechnung zu machen, und was all diesen anderen armen Hunden passiert ist, wird auch mir passieren. Und wahrscheinlich auch Ihnen. Und glauben Sie mir, was immer es ist, es ist schlimmer als der Tod.« Er machte eine zornige Handbewegung. »Möglicherweise passiert es gar nicht wirklich. Vielleicht bilden wir uns das tatsächlich alles nur ein. Aber wissen Sie was, Bremer? Ich schätze, es ist egal. Das Ergebnis bleibt sich gleich, wenigstens für uns.«
Plötzlich schrie er, »Ich weiß nicht, was dieser Junge da ist, aber es ist mir auch egal! Ich werde jedenfalls nicht tatenlos zusehen, wie mir dasselbe passiert wie den anderen!«
»Und was wollen Sie tun?« fragte Bremer leise. »Auf Gespenster schießen?«
Bevor Sendig antworten konnte, hörten sie ein leises Stöhnen. Bremer sprang so heftig auf, daß er fast gegen Sendig geprallt wäre, und beugte sich über die Trage auf der anderen Seite. Mark bewegte sich. Sein Gesicht war noch immer so unnatürlich bleich wie zuvor. Seine Hände öffneten und schlössen sich unentwegt, und seine Fingernägel verursachten ein unangenehmes kratzendes Geräusch auf dem Kunstlederbezug der Trage. Er zitterte am ganzen Leib, und Bremer fiel auf, daß sein Schweiß plötzlich durchdringend und sauer roch. Vielleicht stand er am Lager eines Sterbenden. Aber seine Lider waren jetzt nicht mehr ganz geschlossen. Seine Augäpfel blickten trüb.
»Mark?« fragte Sendig. »Sind Sie wach?«
Mark stöhnte wieder. Seine Fingernägel hörten auf, diese schrecklichen kratzenden Geräusche zu verursachen, und seine Hände schlössen sich mit einem Ruck zu Fäusten. Sendig legte ihm die Hand auf die Stirn und zog sie so hastig wieder zurück, als hätte er sich verbrannt.
»Können Sie mich verstehen, Mark?« fragte er. »Antworten Sie, wenn Sie es können. Versuchen Sie es! Es ist wichtig!«
Die Lider des Jungen hoben sich weiter. Sein Blick war noch immer verschleiert. Einen Moment lang irrten seine Augen haltlos hin und her, dann gelang es ihnen, sich auf Sendigs Gesicht zu fixieren. Ein dünner Speichelfaden lief aus seinem Mund und zog eine glitzernde Spur über sein Gesicht, als er zu sprechen versuchte.
»Clau... wo... wo ist... sie?«
»Sie ist nicht hier«, antwortete Sendig. »Aber Sie lebt, keine Angst. Ihr ist nichts geschehen. Verstehen Sie mich?«
Mark war zu schwach, um zu nicken, aber er deutete es mit einer Bewegung der Augen an. »... lebt... zu ihr...«
»Wir bringen Sie zu ihr«, sagte Sendig. »Keine Angst. Es ist alles in Ordnung. Warten Sie einfach einen Moment. Sie werden sich bestimmt gleich besser fühlen.«
Bremer bezweifelte, daß Mark sich irgendwann noch einmal besser fühlen würde. Die Wunde in seinem Arm hatte wieder zu bluten begonnen, und einige der Instrumente, an die er angeschlossen war, begannen plötzlich hektischer zu blinken. Bremer verstand nichts von dem, was er da sah, aber er war ziemlich sicher, daß das kein gutes Zeichen war. »Was haben Sie vor, Sendig?« flüsterte er. »Wollen Sie ihn umbringen?«
Sendig brachte ihn mit einer herrischen Geste zum Schweigen. »Hören Sie mir zu, Mark«, sagte er. »Verstehen Sie, was ich sage?«
Mark nickte erneut; diesmal sichtbar. Seine Zungenspitze fuhr über seine Lippen und versuchte sie zu befeuchten, und er atmete bewußt tiefer. Vielleicht lag es tatsächlich an dem Mittel, das der Arzt ihm gespritzt hatte, vielleicht war da auch irgend etwas in ihm, das noch einmal alle Kräfte mobilisierte, auch wenn es vielleicht nur ein letztes verzweifeltes Aufbäumen sein würde - aber er erholte sich jetzt zusehends. Seine Augen waren klar.
»Erinnern Sie sich an mich?« fuhr Sendig fort. »Wir haben uns heute morgen gesehen. Im Haus Ihres Vaters.«
»Ich weiß«, sagte Mark schwach. Sein Blick löste sich von Sendigs Gesicht und fixierte Bremer. »Hallo, Herr Bremer. Ist das wieder ein Zufall, daß Sie hier sind?«
»Nein«, sagte Bremer. »Aber Sie sollten nicht reden. Sie -«
»Wir wollen Ihnen helfen, Mark«, fiel ihm Sendig ins Wort. »Ich weiß, daß es Ihnen schwerfallen muß, mir zu glauben, aber wir stehen auf Ihrer Seite.«
»So?« sagte Mark leise. Er versuchte zu lachen, aber es wurde ein Husten daraus. In den Speichel auf seinen Lippen mischten sich winzige Blutströpfchen. »Glauben Sie... wirklich?«
»Wir wissen alles«, sagte Sendig. »Ich weiß, was Ihr Vater und Löbach Ihnen angetan haben, und ich weiß auch von dem Mädchen.«
Marks Kopf fuhr mit einem Ruck herum. »Beate? Wo ist sie? Sie... sie haben sie weggebracht, und -«
»Ihr fehlt nichts«, sagte Sendig hastig, wobei er Bremer einen raschen, fast beschwörenden Blick zuwarf. »Ich kann Sie zu ihr bringen, aber zuerst...« Er zögerte fast unmerklich. Als er weitersprach, klang seine Stimme hörbar angespannter. »Zuerst müssen Sie uns ein paar Fragen beantworten. Einverstanden?«
»Fragen? Was für... Fragen?«
»Ich will Ihr Wort«, sagte Sendig. »Ich möchte, daß Sie mir glauben, daß wir nicht Ihre Feinde sind. Glauben Sie mir?«
Mark sah ihn verständnislos an.
»Ich hatte nichts mit dem zu tun, was damals geschehen ist«, fuhr Sendig fort. »Das ist alles, was ich will: daß Sie mir das glauben. Ich habe von allem nichts gewußt. Ich hätte es verhindert, wenn ich es auch nur geahnt hätte.«
»Warum... sagen Sie mir das?« murmelte Mark. »Was hätten Sie verhindert?«
Sendig wurde immer nervöser. Auch sein Hände zitterten jetzt, und er war fast so bleich wie Mark. »Ich hatte nichts damit zu tun«, sagte er. »Weder mit dem, was Ihr Vater und Löbach getan haben, noch mit der Vertuschungsaktion danach. Ich hätte es nie zugelassen. Das ist alles, was ich von Ihnen will: daß Sie mir das glauben.«
Er war jetzt in Panik, und Bremer begriff mit einem Gefühl plötzlichen kalten Entsetzens, daß er nicht weiterwußte. Er hatte keinen Plan - und schon gar keinen Ausweg aus dieser Situation.
Die Wahrheit war, daß er die ganze Zeit über in Panik gehandelt hatte. Nicht er hatte die Dinge bestimmt, sondern die Geschehnisse sein Handeln, bis hin zu dieser aberwitzigen Entführung. Vielleicht hatte er tatsächlich geglaubt, daß er einfach nur mit Mark reden müsse, um seinen Hals zu retten, aber jetzt, als er allmählich einsah, daß er sich getäuscht hatte, geriet er endgültig in Panik. Bremer war angespannt. Sendig hatte immer noch seine Waffe.
»Okay, ich glaube Ihnen«, sagte Mark verständnislos. »Aber ich verstehe wirklich nicht -«
»Sie erinnern sich nicht«, sagte Bremer. Sendig starrte ihn fast haßerfüllt an, doch diesmal ließ er sich davon nicht mehr beeindrucken. »Sie wissen gar nicht, wovon wir reden, habe ich recht?« Es kostete ihn große Mühe, weiterzusprechen.
»Wissen Sie, was mit Löbach passiert ist?«
Mark nickte. »Er ist tot. Er hat sich... umgebracht.«
»Und die anderen?«
»Welche anderen?« fragte Mark. Er versuchte sich aufzusetzen und hätte es vielleicht sogar geschafft, aber Bremer drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück.
»Überanstrengen Sie sich nicht«, warnte er. »Sie haben da eine ziemlich üble Verletzung.«
Mark blickte an seinem Arm hinab, und allein die Art, wie er es tat, sagte Bremer, daß er die Wunde bisher weder bemerkt hatte, noch sich erklären konnte, woher sie stammte. Schließlich sah er wieder zu Bremer hoch.
»Welche anderen?« wiederholte er. »Wovon reden Sie?«
Auch Bremer fühlte sich plötzlich hilflos. Es erging ihm im Grunde ja nicht viel anders als Sendig - er versuchte Antworten zu bekommen, ohne die Fragen zu kennen.
Wenigstens hatte er jetzt keine Angst mehr. Irgendwann im Lauf des Gespräches war sie einfach erloschen. Die Vorstellung eines mörderischen Schattens, der den Wagen umschlich und nach einem Eingang suchte, schien ihm mit einem Male wieder ebenso irreal wie die kratzenden Laute, die er zu hören geglaubt hatte. Es war -
»Von Ihren Träumen«, sagte er.
Mark erschrak. »Woher wissen Sie...?« fragte er impulsiv.
Auch Sendig sah ihn überrascht an, aber Bremer hatte sich gut in der Gewalt. Er war auch gar nicht sehr überrascht. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend hatte er das Gefühl, daß es ihm in dieser ganzen Geschichte so erging wie während dieses Gespräches jetzt: daß er die Antworten eigentlich kannte und ihm nur die passenden Fragen fehlten. Da war noch etwas, was er wußte: etwas ungeheuer Wichtiges. Aber dieser Gedanke entglitt ihm, als er danach zu greifen versuchte.
»Seit wann haben Sie sie?« fragte er. »Seit der vergangenen Nacht?«
»Ja«, antwortete Mark überrascht. »Können Sie Gedanken lesen?«
»Manchmal«, sagte Bremer lächelnd. »Das ist gar nicht so schwer, wie Sie vielleicht glauben. Aber Spaß beiseite, seit wann haben Sie diese Träume? Seit der vergangenen Nacht. So ungefähr gegen eins?« Seit dem Moment, in dem Löbach sich vom Balkon seiner Wohnung gestürzt hatte.
Mark nickte verblüfft, und Bremer wußte, daß Sendigs Gesicht jetzt noch ein bißchen mehr Farbe verloren hatte, auch ohne daß er ihn dazu ansehen mußte.
»Warum erzählen Sie uns nicht davon?« fragte er.
»Das... möchte ich nicht«, antwortete Mark stockend. »Ich kann es nicht.«
Aber schließlich konnte er es doch.