Kommissar Sendig legte den Telefonhörer mit einer übertrieben präzise wirkenden Bewegung auf die Gabel zurück. Er hatte während der vergangenen halben Stunde nicht nur mehrere, sondern eine ganze Menge Telefongespräche geführt, und obwohl Bremer die ganze Zeit über im Zimmer gewesen war, hatte er nicht alles verstanden - was nicht etwa daran lag, daß er zu leise oder zu laut gesprochen hätte oder in einer fremden Sprache. Vielmehr hatten einige dieser seltsamen Telefonate aus wenig mehr bestanden, als daß Sendig seinen Namen genannt, die eine oder andere Andeutung gemacht und dann die meiste Zeit einfach nur zugehört hatte. Eines aber war ihm in dieser Zeit endgültig klargeworden (nein. Gewußt hatte er es schon lange. Aber jetzt gab es nicht einmal mehr eine Möglichkeit, die Augen davor zu verschließen): daß Sendig sehr viel mehr wußte, als er zugab.
Er wartete sekundenlang vergebens darauf, daß Sendig endlich etwas sagte, dann hörte er auf, ihn anzustarren, und drehte sich statt dessen in seinem Stuhl herum, um einen langen, aufmerksamen Blick durch den Raum zu werfen. Das hatte er schon ein halbes Dutzend Mal getan, seit sie hereingekommen waren und Sendig angefangen hatte zu telefonieren, aber der Anblick überraschte ihn selbst jetzt beinahe ebensosehr wie im allerersten Moment. Dieses Zimmer paßte so wenig zu Sendig, wie es nur vorstellbar war. Immerhin war sein grauhaariges Gegenüber nicht irgendwer, sondern der Leiter der Mordkommission, und Bremer hatte ganz automatisch unterstellt, daß er ein großzügiges und vor allem repräsentatives Büro sein eigen nennen würde. Das genaue Gegenteil war der Fall. Sendigs Büro war nicht nur winzig, der einzige passende Ausdruck, der ihm dafür einfiel, war schäbig. Der Raum maß kaum fünf mal fünf Schritte und hatte nur ein einziges Fenster, das ungefähr so breit wie ein zusammengefaltetes Handtuch war, und das Mobiliar mußte älter sein als sein Besitzer, allerdings nicht annähernd so gut gepflegt. Das Vorzimmer, durch das sie gerade gekommen waren und in dem gleich drei Sekretärinnen samt Computern, Telefaxgeräten und allem anderen technischen Schnickschnack Dienst taten, war gut dreimal so groß wie Sendigs eigentliches Büro. Er fragte sich, ob dieser Umstand etwas darüber aussagte, wie es in Sendig aussah - und wenn ja, was.
»Das ist wohl... seltsam«, sagte Sendig. Bremer drehte sich wieder zu ihm herum und bekam gerade noch den Rest der Kopfbewegung mit, mit der Sendig auf das Telefon vor sich gedeutet hatte.
»Was?«
»Dieses letzte Gespräch.« Sendig rollte seinen Stuhl weit genug vom Schreibtisch zurück, um eine Schublade aufziehen zu können, und begann hektisch darin herumzukramen. »Raten Sie, wer das war.«
Bremer riet nicht. Er war nicht in der Stimmung für Small talk. Schon seit gestern nacht nicht mehr.
»Na ja, macht auch nichts«, fuhr Sendig fort. Er hatte sich so weit vorgebeugt, daß Bremer sein Gesicht nicht mehr sehen konnte, und dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, mußte sich der größte Teil seines Kopfes in der Schreibtischschublade befinden. »Der Name hätte Ihnen sowieso nichts gesagt. Es war jemand, der mir einen Gefallen schuldig ist.«
Er richtete sich wieder auf, zog eine Pistole samt Schulterhalfter aus der Schublade und placierte sie mit durch und durch zufriedenem Gesichtsausdruck vor sich auf dem Tisch. »Gut. Ich dachte schon, ich hätte sie irgendwo verkramt. Peinlich, peinlich.«
»Und was für ein Gefallen war das?« fragte Bremer verärgert. Sendig bestimmte noch immer die Spielregeln, ganz gleich, was er auch versuchte.
»Wir können Ihrer kleinen Freundin jetzt sagen, wo ihr Mann ist«, antwortete Sendig.
»Ich kenne die Frau kaum«, antwortete Bremer. »Sie ist nicht meine Freundin.«
»Aber Hansen war doch Ihr Partner, oder?«
»Seit ein paar Tagen«, antwortete Bremer. »Aber das ändert nichts daran, daß er ein Kollege ist.«
»Oh ja, und Kollegen halten zusammen, sicher.« Sendig zog die Pistole aus dem Halfter, ließ das Magazin herausschnappen und verzog die Lippen, als er feststellte, daß es leer war.
»So ist es«, sagte Bremer, nun schon in hörbar gereizterem Ton. Was für ein Spiel spielte Sendig jetzt schon wieder mit ihm? Aber dann bemerkte er etwas, was ihm bisher entgangen war: Sendig hatte eine weitere Schublade aufgezogen und kramte darin herum - wahrscheinlich suchte er die Patronen für die Waffe, die er sichtlich seit Monaten oder vielleicht auch Jahren nicht mehr in die Hand genommen hatte -, aber seine Bewegungen waren etwas zu schnell und etwas zu hektisch, sein Lächeln ein wenig zu verkniffen. Sendig spielte keine Spielchen mit ihm. Er war nervös. Sehr nervös.
In versöhnlicherem Tonfall fuhr er fort: »Wenn Sie mir die Adresse sagen, gehe ich hinaus und rufe Hansens Frau an. Sie wird mittlerweile wahrscheinlich halb verrückt vor Sorge sein.«
Sendig hatte die Patronen gefunden und begann das Magazin zu laden. Er sah überallhin, nur nicht in Bremers Richtung. »Das wird nicht gehen, fürchte ich«, sagte er.
»Wieso nicht? Ich denke, Sie wissen, wo er ist.«
»Das weiß ich auch. Aber ich fürchte, wir können es ihr im Moment noch nicht sagen. Jedenfalls nicht, ehe ich nicht etwas ... überprüft habe.« Eine der Patronen, die er mit mehr Kraft als Geschick in das Magazin schob, entglitt seinen Fingern und rollte über den Schreibtisch. Bremer griff automatisch zu, verfehlte sie aber und mußte sich bücken, um sie vom Boden aufzuheben. Als er sich wieder aufrichtete und sie Sendig reichte, zitterten dessen Hände so stark, daß er Mühe hatte, das Geschoß zu ergreifen.
»Was ist los mit Ihnen, Sendig?« fragte Bremer geradeheraus.
»Was soll sein?« fragte Sendig. »Ich bin müde und vielleicht ein bißchen nervös, und -«
»Quatsch«, unterbrach ihn Bremer. »Sie sind nicht ein bißchen nervös. Sie haben Angst.«
Sendig überraschte ihn erneut. Er versuchte nicht einmal, zu leugnen. »Ja, vielleicht«, gestand er. Seltsamerweise wirkte er plötzlich wieder ruhiger - fast als hätte ihm allein dieses Eingeständnis geholfen, mit seiner Furcht fertig zu werden. »Es hat wohl nicht viel Sinn, Ihnen etwas vormachen zu wollen, oder? Aber jetzt fragen Sie mich bitte nicht, wovor ich mich fürchte. Ich werde es Ihnen erzählen, aber zuerst muß ich noch etwas überprüfen.«
»Noch etwas?« fragte Bremer.
»Nein, es ist das gleiche.« Sendig hatte die Pistole endlich geladen und begann umständlich das Schulterhalfter anzulegen. Sein ungeschicktes Hantieren bestätigte Bremers Theorie: Es war etliche Jahre her, daß er diese Bewegungen das letzte Mal ausgeführt hatte. Bremer hatte immer gedacht, daß man so etwas nie wieder verlernt, aber das schien nicht zu stimmen.
»Wir können beides an einem Ort erledigen«, fuhr Sendig fort. »Uns um Hansen kümmern und meine Theorie überprüfen.«
»Und dazu brauchen Sie eine Waffe?«
»Vielleicht.« Sendig biß sich auf die Unterlippe. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien ein Schatten in seinen Augen, aber er erlosch zu schnell, als daß Bremer sicher sein konnte. »Wahrscheinlich nicht, aber ich habe mir sowieso vorgenommen, das Ding dann und wann einmal wieder zu tragen. Nur, um nicht aus der Übung zu kommen.« Dann wurde seine Stimme leiser, und plötzlich war der Schatten nicht mehr in seinem Blick, sondern in seinen Worten: »Wenn wir das finden, was ich befürchte, wird sie mir sowieso nichts nutzen. Aber es ist vielleicht ein gutes Gefühl, wenigstens eine Waffe dabeizuhaben.«
»Was befürchten Sie denn zu finden?« fragte Bremer.
Tatsächlich setzte Sendig zu einer Antwort an. Im allerletzten Moment stockte er, blinzelte überrascht und drohte Bremer dann spielerisch mit dem Finger. »Nicht schlecht, der Versuch«, sagte er. »Beinahe hätte es geklappt. Aber nur beinahe. Ich sagte Ihnen doch - Sie werden alles erfahren, sobald ich Gewißheit habe.«
Bremer schüttelte den Kopf. »Jetzt«, sagte er. »Es reicht, Sendig. Ich habe keine Lust mehr, wie ein Dummkopf herumzulaufen und nicht einmal zu wissen, wonach wir eigentlich suchen.«
»Das weiß ich ja selbst nicht«, sagte Sendig. »Okay, ich weiß, Sie glauben mir nicht, aber es ist die Wahrheit. Ich ... weiß es nicht. Noch nicht. Ich habe eine Theorie, aber sie ist einfach zu verrückt, um sie auszusprechen.«
»Verrückt?« Bremer lachte ganz leise und ohne Humor. Was von allem, was er seit der vergangenen Nacht erlebt hatte, war wohl nicht verrückt, auf die eine oder andere Weise? »Oder haben Sie einfach Angst davor?«
Sendig blickte ihn kopfschüttelnd an. »Bremer, Bremer«, seufzte er. »Warum versuchen Sie ständig, mir einzureden, daß ich Angst habe?«
»Haben Sie es nicht gerade selbst zugegeben?«
»Habe ich das?« Sendig verzog abfällig die Lippen. »Was interessiert mich mein dummes Gerede von eben?« Er streckte die Hand nach der hoffnungslos veralteten Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch aus und drückte eine Taste. Ein leises Summen ertönte, als sich das viel modernere Gegenstück draußen im Vorzimmer einschaltete, und eine Frauenstimme fragte: »Ja?«
»Nadine? Haben Sie die Liste, um die ich Sie gebeten habe?«
»Sie ist fertig. Ich bringe sie Ihnen sofort.«
Sendig ließ die Taste los und lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. Er machte nicht den Eindruck, als hätte er vor, weiterzureden oder gar Bremers Fragen zu beantworten, und Bremer wußte auch, daß es vollkommen sinnlos war, weiter zu bohren. Trotzdem: Er hätte schon blind sein müssen, um nicht zu sehen, daß mit Sendig etwas nicht stimmte, spätestens seit dem Moment, in dem er ihm das Foto gezeigt hatte, das er in Mogrods improvisierter Dunkelkammer gefunden hatte. Bisher hatte es Sendig verstanden, jeder direkten Antwort auf eine entsprechende Frage auszuweichen. Aber es gab auch Fragen, die nicht ausgesprochen werden mußten, und die hatte er beantwortet.
Die Tür wurde geöffnet, und eine von Sendigs Sekretärinnen kam herein. Sie war noch überraschend jung und ausnehmend hübsch, aber sehr unattraktiv gekleidet und nicht besonders gut geschminkt. Wahrscheinlich war das Absicht, dachte Bremer.
»Die Liste, die Sie haben wollten, Herr Kommissar«, sagte sie, während sie Sendig einen engbeschriebenen Computerausdruck reichte. Ihr Blick streifte Bremer, und sie hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, ihre Verwunderung zu verhehlen, ihn hier zu sehen. Gemeine Schutzpolizisten verirrten sich offensichtlich nicht sehr oft in diese heiligen Hallen.
»Danke, Nadine.« Sendig nahm das Blatt entgegen und legte es mit der beschriebenen Seite nach unten auf den Tisch.
»Bitte. Eine ziemlich lange Liste, finde ich. Das scheint ja eine regelrechte Epidemie zu sein. Glauben Sie, daß etwas für uns dabei ist?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Sendig. »Wenn ja, lasse ich es Sie wissen. Das war alles.«
Die junge Frau wirkte ein wenig bestürzt Sendig hatte die Stimme nicht einmal erhoben, aber auch Bremer war der unwillige Klang in seinen Worten nicht entgangen. Wenn er an den Ruf dachte, den Sendig allgemein genoß, war das für sie wahrscheinlich schon ein deutliches Warnsignal. Sie hatte es auch plötzlich sehr eilig, sich herumzudrehen und zu gehen, blieb aber auf halbem Wege zur Tür wieder stehen.
»Meckenbroich hat schon wieder angerufen«, sagte sie. »Das dritte Mal in einer halben Stunde. Was soll ich ihm sagen?«
Diesmal gab sich Sendig keine Mühe mehr, seine Verärgerung zu verbergen. »Wimmeln Sie ihn ab«, sagte er.
»Aber er sagte, es wäre sehr dringend.«
Sendig schnaubte. »Wenn der Herr Ministerialpräsident noch einmal anruft, dann sagen Sie ihm, daß ich den ganzen Tag außer Haus bin und Sie nicht wissen, wie Sie mich erreichen sollen«, sagte er ungehalten. »Verflucht, wimmeln Sie ihn irgendwie ab. Dazu sind Sie schließlich da.«
Auf Nadines Gesicht erschien ein Ausdruck, der Bremer unwillkürlich Mitleid mit ihr empfinden ließ. Aber sie war klug genug, nicht mehr zu widersprechen, sondern ging ohne ein weiteres Wort und sehr schnell.
»Ärger?« fragte Bremer, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Würde Sie das freuen?«
»Nein«, antwortete Bremer ehrlich. »Mir fällt nur auf, daß Sie sehr gereizt sind, das ist alles.«
Sendig schenkte ihm einen finsteren Blick und ersparte es sich, zu antworten. Statt dessen nahm er das Blatt, das ihm seine Sekretärin gebracht hatte, wieder zur Hand und vertiefte sich für endlose Sekunden darin. Bremer behielt ihn aufmerksam im Auge, aber Sendigs Gesicht verriet nichts. Er hatte sich wieder völlig in der Gewalt.
Ganz plötzlich, unvermittelt und ohne Bremer dabei anzusehen sagte er: »Wenn es Sie freuen würde, hätten Sie Grund dazu. Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen heute morgen über gewisse Dienstausweise erzählt habe?«
»Ja«, antwortete Bremer.
Sendig starrte noch immer auf das Blatt. »Meckenbroich hat einen solchen Dienstausweis«, sagte er. »Konkret ist er der einzige Besitzer eines solchen Ausweises, den ich namentlich kenne. Aber ich vermute, es gibt noch ein paar andere.«
»Was... meinen Sie damit?« fragte Bremer verwirrt.
»Vielleicht nichts.« Sendig ließ das Blatt wieder sinken und sah Bremer nachdenklich über den Tisch hinweg an. »Vielleicht ist es ja Zufall, daß er sich ausgerechnet jetzt bei mir meldet. Nach annähernd fünf Jahren.«
»Ich dachte, Sie glauben nicht an Zufälle.«
»Tue ich auch nicht.« Sendig faltete den Computerausdruck zusammen. »Also gut. Sie wollen Antworten? Hier. Lesen Sie.«
Er reichte Bremer das Blatt und unterstrich seine Worte mit einer entsprechenden Geste. Bremer nahm es verwirrt, faltete es wieder auseinander und warf einen Blick darauf. Es enthielt eine Anzahl Namen, Adressen und Uhrzeiten, mehr nicht.
»Was ist das?«
»Fällt Ihnen nichts auf?« fragte Sendig.
Bremer sah noch einmal und genauer hin - und zog überrascht die Augenbrauen zusammen. Auf dem Blatt standen mehr als ein Dutzend Namen, die ihm allesamt nichts sagten. Alle, bis auf einen. »Löbach?«
»Das«, antwortete Sendig mit sonderbarer Betonung, »ist eine Aufstellung aller erfolgreichen oder versuchten Selbstmorde innerhalb der letzten zwölf Stunden. Aller, die uns bisher gemeldet wurden, heißt das.«
»Das ist eine Menge«, sagte Bremer. Er war nicht unbedingt erschüttert, aber doch in einem Zustand, der dem nahekam. Was er in der Hand hielt, war plötzlich mehr als ein Stück Papier. Es waren anderthalb Dutzend menschlicher Schicksale, die innerhalb der letzten Stunden ausgelöscht worden waren.
»Und die Liste ist nicht einmal komplett«, sagte Sendig. »Mogrod steht noch nicht drauf. Ebensowenig wie Professor Artner.«
Im ersten Moment konnte Bremer mit diesem Namen nichts anfangen, aber dann erinnerte er sich wieder an das Gespräch, das sie im Wagen vor Sillmanns Haus geführt hatten. »Aber sagten Sie nicht, er hätte einen Herzanfall bekommen?«
»Deshalb steht er ja auch nicht auf der Liste«, antwortete Sendig. »Aber das bedeutet nicht, daß er nicht eigentlich daraufgehört. Sehen Sie sich den letzten Namen an, ganz unten.«
Bremer gehorchte. »Heckel?« Obwohl er einen Moment angestrengt nachdachte, sagte ihm dieser Name nichts. Er sah Sendig nur ratlos an.
»Sie können ihn nicht kennen«, sagte Sendig. »Ich schon. Der Mann war Arzt. Pathologe, um genau zu sein. Er ist vor fünfeinhalb Jahren in Pension gegangen - frühzeitig und auf eigenen Wunsch. Raten Sie, was einer der letzten Fälle war, die er bearbeitet hat.«
»Sillmann?«
»Der Kandidat hat hundert Punkte«, sagte Sendig. Er lächelte, aber seine Augen taten es nicht. »Wissen Sie was, Bremer? Ich biete Ihnen eine Wette an. Ich wette, daß diese Liste noch nicht komplett ist. Und daß ich Ihnen ein paar Namen nennen kann, die bis heute abend darauf erscheinen werden. Schlagen Sie ein?«
Er streckte Bremer tatsächlich die Hand entgegen, aber Bremer rührte sich nicht. Sendig blieb einen Moment in einer fast lächerlich vorgebeugten Haltung stehen, dann ließ er sich auf seinen Stuhl zurücksinken. Bremer war jetzt vollkommen sicher, daß das, was er bisher für Nervosität gehalten hatte, in Wahrheit Angst war.
»Also gut«, seufzte Sendig. »Warum nicht? Ich kann es Ihnen ebensogut jetzt erzählen wie später. Haben Sie das Bild noch?«
Bremer griff in die Jackentasche und zog das Foto aus Mogrods Dunkelkammer heraus. Es war jetzt vollkommen schwarz. Nachdem er das Bild aufgehoben und trockengewischt hatte, hatte die Entwicklerflüssigkeit verspätet ihren Dienst getan und das Blatt in eine identische Kopie der übrigen Fotos verwandelt, die in der Chemiebrühe auf dem Boden schwammen. Sowohl der unheimliche Umriß, den Bremer darauf erkannt hatte, als auch das, was Sendig so augenscheinlich zu Tode erschreckt hatte, waren verschwunden. Trotzdem zitterten Sendigs Hände wieder leicht, als er es entgegennahm, und er starrte es zu lange und zu intensiv an. Für ihn war es ganz eindeutig mehr als ein schwarzes Blatt Fotopapier.
»Was haben Sie darauf gesehen, Bremer?« fragte er.
»Gesehen? Ich verstehe nicht... Dasselbe wie Sie, vermute ich.«
Sendig lächelte ein sehr seltsames, fast melancholisch wirkendes Lächeln. »Das bezweifle ich«, sagte er. Ganz unvermittelt ließ er das Foto auf den Schreibtisch sinken, schob es ein kleines Stück von sich fort und nahm es dann noch einmal zur Hand, um es herumzudrehen, so daß die geschwärzte Vorderseite unten lag. Als ertrüge er es nicht, es noch weiter anzusehen, dachte Bremer.
»Was ist das Schlimmste, was Sie sich vorstellen können, Bremer?« fragte Sendig nach einer Weile.
Bis zu meiner Pensionierung mit dir zusammenarbeiten zu müssen, dachte Bremer. Natürlich hätte er sich gehütet, es laut auszusprechen, aber Sendig schien irgend etwas in dieser Art zu erwarten, denn er lächelte einen ganz kurzen Moment lang, ehe er wieder ernst wurde und hinzufügte: »Ich meine es ernst, Bremer. Haben Sie sich schon einmal Gedanken über Ihren schlimmsten Alptraum gemacht? Etwas, dessen bloßer Anblick schrecklich genug wäre, Sie um den Verstand zu bringen?«
»Sie meinen, so weit, daß ich meine Wohnung schwarz anmale und aus dem Fenster springe?« fragte Bremer.
Sendig nickte. »Zum Beispiel.«
»So etwas gibt es nicht«, antwortete Bremer, mit einer Überzeugung in der Stimme, die er nicht einmal annähernd empfand. Es war noch nicht lange her, da hatte er etwas gesehen, das ihn vielleicht nicht in den Wahnsinn, aber doch an den Rand seiner Selbstbeherrschung getrieben hatte.
»Wer weiß«, sagte Sendig. »Aber Sie werden zugeben, daß es gewisse Drogen gibt, die eine solche Wirkung haben können.«
Allmählich wurde die Sache doch noch interessant. Sendig redete zwar weiter um den heißen Brei herum, aber die Kreise, die er zog, wurden beständig kleiner. Warum sagte er nicht einfach, was er dachte? Es gehörte nicht unbedingt das kriminalistische Talent eines Sherlock Holmes dazu, um sich zusammenzureimen, daß er über die Substanz sprach, die sie in der Nacht in Löbachs Kühlschrank gefunden hatten.
»Sicher«, antwortete er. »Aber das ist doch wohl etwas anderes, oder? Möglicherweise hat dieser Löbach Drogen genommen, und vielleicht sogar der Fotograf. Aber Artner? Und dieser Pathologe?«
»Und vermutlich noch ein paar andere - ich sagte ja, ich muß erst noch eine paar Dinge klären, ehe ich Ihnen meine Theorie mitteilen kann«, sagte Sendig. »Ich -«
Das Telefon klingelte. Sendig blickte den Apparat einen Moment lang feindselig an, ehe er mit einer eindeutig widerwilligen Bewegung abhob und sich meldete: »Ja?«
Was immer er hörte, dachte Bremer - es gefiel ihm nicht. Das Gespräch dauerte nur ein paar Augenblicke, und Sendig sagte kein Wort, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Nachdem er eingehängt hatte, starrte er ein paar Sekunden lang an Bremer vorbei ins Leere. Dann stand er mit einem Ruck auf. »Kommen Sie. Wir kümmern uns jetzt zuerst einmal um Ihren Kollegen Hansen. Reden können wir genausogut im Wagen.«
Bremer machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. Er hatte zumindest etwas erwartet, das einer Erklärung nahekam, aber Sendigs sonderbare Frage hatte seine Verwirrung nur noch gesteigert. Er erhob sich ebenfalls und wollte nach dem Bild greifen, aber Sendig war schneller. Mit einer raschen Bewegung verstaute er es in der Innentasche seines Jacketts und kam gleichzeitig um den Schreibtisch herum. »Kommen Sie, Bremer, beeilen wir uns ein bißchen.«
Seine plötzliche Hast wäre Bremer selbst dann aufgefallen, wenn er nicht schon vorher gewußt hätte, daß mit Sendig etwas nicht stimmte. Er folgte ihm gehorsam, machte aber ein paar schnelle Schritte, so daß er ihn kurz vor der Tür einholen und mit einer entsprechenden Bewegung zum Stehenbleiben bringen konnte. »Was ist los?« fragte er geradeheraus. »Wieso haben wir es plötzlich so eilig?«
Er rechnete fest mit einer weiteren Ausflucht oder gar keiner Antwort, aber Sendig überraschte ihn erneut. »Ich glaube, ich habe ein bißchen zuviel herumtelefoniert«, sagte er. »Das Gespräch gerade...«
»Wieder jemand, der Ihnen einen Gefallen schuldig ist?« fragte Bremer spöttisch.
Sendig nickte. »Ja. Ich bin ein sehr hilfsbereiter Mensch, wissen Sie. Wenn man sich das zum Prinzip macht, dann gibt es am Ende eine Menge Leute, die Ihnen einen Gefallen schulden. Und jetzt kommen Sie - wir haben wirklich keine Zeit mehr zu verlieren. Reden können wir wirklich auch im Wagen.«
Ehe Bremer Gelegenheit gefunden hätte, erneut zu widersprechen, öffnete er die Tür und trat ins Vorzimmer hinaus, und allein die Autorität dieses geschäftigen Raumes mit seinen drei Sekretärinnen und dem beachtlichen Präventivaufgebot an Technik machte es Bremer unmöglich, ihn abermals aufzuhalten.
»Ich bin dann außer Haus, Nadine«, sagte Sendig, während sie dem Ausgang zusteuerten. »Sie können pünktlich Feierabend machen. Ich komme heute wahrscheinlich nicht mehr herein.«
»Aber Me -«
»Und ich bin auch für niemanden zu erreichen, verstanden?« Sendig hielt für einen Moment im Schritt inne und maß seine Sekretärin mit einem Blick, unter dem sie sichtlich zusammenzuschrumpfen schien. »Auch nicht über Funk. Im Notfall können Sie mich über meine Privatnummer im Wagen anrufen, aber nur Sie, und wirklich nur im äußersten Notfall. Sollte das Telefon klingeln und jemand anders als Sie dran sein, können Sie sich als gefeuert betrachten, verstanden?«
»Selbstverständlich«, antwortete Nadine kleinlaut. Bremer verspürte erneut ein heftiges Mitleid mit ihr und ihren beiden Kolleginnen. Er fragte sich, wie es jemand aushielt, Jahre oder gar Jahrzehnte für einen Chef wie Sendig zu arbeiten. Er selbst war noch nicht einmal seit zwölf Stunden mit ihm zusammen, und das waren schon zwölf Stunden zuviel.
»Sind Sie immer so unfreundlich zu Ihren Leuten?« fragte er, als sie das Vorzimmer verlassen hatten und den Aufzug ansteuerten.
»Wenn ich schlechte Laune habe, ist es schlimmer«, antwortete Sendig. »Richtig unfreundlich werde ich eigentlich nur zu Leuten, die ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angehen.«
»Verstanden«, sagte Bremer. »Das war deutlich genug.«
»Das sollte es sein«, antwortete Sendig. Sie hatten den Aufzug fast erreicht, als ein leiser Glockenton erscholl und die Türen sich zu schließen begannen. Bremer wollte instinktiv schneller ausschreiten - sie waren nur noch zwei, drei Schritte entfernt, und er hätte die Kabine bequem erreichen und aufhalten können, indem er die Lichtschranke in der Tür unterbrach. Aber Sendig hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.
»Lassen Sie«, sagte er. »Wir nehmen die Treppe.«
Bremer blickte ihn fragend an. Es waren fünf Stockwerke bis nach unten. »Wieso?«
»Ich bin auf den Geschmack gekommen«, antwortete Sendig. »Das Treppensteigen in Mogrods Haus hat mir wirklich Spaß gemacht. Mal sehen, ob es hier auch funktioniert.«
»Sehr komisch«, sagte Bremer. Aber er folgte Sendig trotzdem gehorsam, als dieser sich herumdrehte und mit plötzlich sehr viel schnelleren Schritten als bisher den Weg zurückging, um die schmale Tür am Ende des Flures zu erreichen. Sendig öffnete sie, wedelte ungeduldig mit der Hand, als Bremer ihm nicht rasch genug folgte, und zögerte gerade lange genug, damit es auffiel, ehe er die Tür wieder schloß. Lange genug, dachte Bremer, um dem Aufzug noch einen prüfenden Blick zuzuwerfen.
»Vor wem laufen wir davon?« fragte er, als sie nebeneinander die Treppe hinuntergingen.
»Tun wir das?« entgegnete Sendig ausweichend.
»Aber nein doch«, sagte Bremer. »Sie haben es ja selbst gesagt: Treppensteigen macht Spaß. Außerdem ist es gesund, nicht wahr?«
»Ich laufe vor niemandem davon«, antwortete Sendig betont. »Sagen wir: Ich erwarte jemanden, mit dem ich im Moment nicht unbedingt reden möchte.«
Das war alles, was er zu diesem Thema äußerte, bis sie das Erdgeschoß erreichten. Bremer versuchte noch zwei- oder dreimal, ihm eine Antwort abzuluchsen, aber Sendig schaltete jetzt wieder auf stur und sagte gar nichts. Schließlich sparte sich Bremer seinen Atem dafür, neben ihm die Stufen hinunterzulaufen und irgendwie mit ihm Schritt zu halten. Wie schon einmal an diesem Tag bewies ihm Sendig, daß älter nicht zwingend auch schlechter in Form zu sein bedeutete. Bremer war in Schweiß gebadet, nachdem sie die fünf Treppen hinuntergelaufen waren, während Sendig nur ein bißchen schwerer atmete als normal.
»Warten Sie hier«, sagte er. »Ich bin sofort zurück.«
Er öffnete die Tür und schlüpfte hindurch, und Bremer blieb allein im Treppenhaus zurück. Er war beinahe dankbar für die kurze Pause. Sie waren die letzten beiden Etagen mehr hinuntergerannt als gegangen. Seine Waden und sein Rücken schmerzten, und er spürte jede einzelne Stufe, die sie hinuntergegangen waren. Außerdem schlug sein Herz so schnell, daß er ein paarmal bewußt tief ein- und ausatmete, um seine Lungen mit frischem Sauerstoff vollzupumpen. Er war wirklich nicht gut in Form. Und auch wenn Sendig es sich nicht anmerken ließ, konnte er sich kaum besser fühlen. Warum also hatte er diese unnötige Anstrengung in Kauf genommen? Bestimmt nicht nur, weil er irgend jemandem nicht begegnen wollte. Es sei denn, es war eben nicht irgend, sondern ein ganz bestimmter Jemand.
Zum Beispiel jemand mit einer ganz bestimmten Art von Dienstausweis?
Weit über ihm fiel eine Tür ins Schloß. Bremer fuhr zusammen, drehte sich hastig herum und legte den Kopf in den Nacken. Aus irgendeinem Grund brannte hier unten, im Erdgeschoß, kein Licht, aber die darüberliegenden Etagen waren hell erleuchtet. Die Treppe drehte sich wie ein kubisches Schneckenhaus in scheinbar kleiner werdenden eckigen Spiralen über ihm in die Höhe, und er hörte auch ganz deutlich Schritte, konnte aber niemanden sehen. Trotzdem - jemand kam die Treppe herunter. Instinktiv sah er sich nach einem Versteck um.
Dann erst wurde ihm klar, wie albern er sich benahm.
Jemand kam die Treppe herunter. Und? Dazu waren Treppen schließlich da, selbst in Häusern, die über Aufzüge verfügten.
Bremer lächelte nervös, sah sekundenlang die Tür an, hinter der Sendig verschwunden war, und drehte sich dann wieder herum. Die Schritte waren näher gekommen, aber er konnte noch immer niemanden sehen.
Aber etwas stimmte nicht mit diesen Schritten. Sie waren... Er konnte nicht sagen, was es war, aber es war deutlich. Irgend etwas war mit diesem Geräusch nicht in Ordnung. Eigentlich klang es gar nicht wirklich wie Schritte, sondern eher wie... ein Gleiten. Als schwebe etwas die Treppe herunter, das nur dann und wann die Stufen berührte.
Unsinn! dachte Bremer. Er war dabei, sich in etwas hineinzusteigern, das nicht gut war. Nach dem, was er in den letzten Stunden erlebt hatte, hatte er vermutlich ein Recht auf ein wenig Nervosität, aber er lief allmählich Gefahr, regelrecht hysterisch zu werden. Das Schlimmste, was Sie sich vorstellen können? Unsinn!
Aber er hatte sich den Schatten im Spiegel nicht eingebildet. Sowenig wie die leuchtende Engelsgestalt, die er auf dem Foto in Mogrods Dunkelkammer gesehen hatte. Was war los mit ihm? Wurde er allmählich hysterisch? Aus dem einzigen Grund, sich selbst zu beweisen, wie lächerlich seine Befürchtungen waren, trat er wieder zwei Schritte weit ins Treppenhaus zurück und sah die Treppe hinauf.
In der nächsten Sekunde schon wünschte er sich, es nicht getan zu haben.
Das Geräusch war keine Einbildung gewesen. Jemand kam tatsächlich die Treppe herab. Aber er war nicht sicher, ob es wirklich ein Jemand war - und nicht ein Etwas.
Bremers Atem stockte. Er konnte nur einen schwarzen Schattenriß gegen den helleren Hintergrund des Treppenhauses erkennen, aber etwas an diesem Umriß war auf furchtbare Weise falsch. Er war zu groß und irgendwie mißgestaltet, ohne daß er diesen Eindruck hätte begründen können, und er wirkte auf sonderbare Weise... asymmetrisch. Und noch etwas: Bremer konnte jetzt sehen, daß er die Treppenstufen tatsächlich nicht berührte, sondern eine Handbreit darüber hinwegglitt, wobei er dieses seltsam rhythmische, schleifende Geräusch verursachte, das er fälschlicherweise für Schritte gehalten hatte. Und nun hörte er auch etwas wie Atemzüge: ein schweres, rasselndes Atmen, das keinesfalls das eines Menschen sein konnte, aber auch nicht das irgendeines Tieres, das er kannte.
»Nein«, flüsterte Bremer. Er hätte das Wort geschrien, wenn er gekonnt hätte, aber seine Stimmbänder versagten ihm den Dienst. »Nein! Geh... weg. Geh!«
Die Tür ging auf. Bremer fuhr mit einer entsetzten Bewegung herum, und sein Zustand mußte sich überdeutlich auf seinem Gesicht abzeichnen, denn Sendig stockte mitten im Schritt, starrte ihn den Bruchteil einer Sekunde lang erschrocken an und griff dann blitzschnell unter die Jacke. »Was ist los?«
»Nichts«, antwortete Bremer. Sein Herz hämmerte. Die Schritte, die keine waren, waren nicht mehr da. Sie waren im gleichen Moment verstummt, in dem Sendig die Tür geöffnet und den finsteren Zauber des Moments damit durchbrochen hatte, und seine Logik sagte ihm, daß auch der Schatten nicht mehr da war: zum einen, weil Sendig ihn unbedingt hätte sehen müssen, und zum anderen, weil er niemals dagewesen war.
»Nichts? Ja, so sehen Sie auch aus.« Sendig nahm die Hand wieder unter der Jacke hervor, ohne die Waffe zu ziehen, trat aber mit einem raschen Schritt an Bremer vorbei und warf einen sehr langen und sehr mißtrauischen Blick nach oben. Bremer wartete auf einen Schrei oder irgendein anderes Anzeichen dafür, daß auch Sendig etwas sah, aber natürlich kam es nicht. Trotzdem wagte er es nicht, sich herumzudrehen. Ganz gleich, ob das Ding nun da war oder nicht, es würde ihn zweifellos erwischen, wenn er sich herumdrehte und es ansah.
»Da ist nichts«, sagte Sendig mißtrauisch. »Was ist denn los mit Ihnen?«
»Nichts«, antwortete Bremer erneut. Er hustete, um das heftige Zittern seiner Stimme zu verbergen. »Ich dachte für einen Moment, ich hätte etwas gehört, aber ich muß mich wohl getäuscht haben.«
Sendigs Blick erzählte auf seine eigene Weise, was er von dieser Antwort hielt. Aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern zuckte nur die Achseln und deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Kommen Sie.«
Nach der Dämmerung, die im unteren Teil des Treppenhauses geherrscht hatte, erschien ihm das Sonnenlicht in der fast völlig aus Glas bestehenden Halle unnatürlich grell. Er blinzelte ein paarmal und fuhr sich mit der Hand über die Augen, aber so unangenehm die Helligkeit im allerersten Moment auch war, so geborgen fühlte er sich plötzlich darin. Zum allerersten Mal im Leben begriff er, wieso Menschen Angst vor der Dunkelheit hatten. Bisher war ihm dieses Gefühl vollkommen fremd gewesen, aber er hatte es kennengelernt. Sie verließen das Gebäude, ohne zu reden, und Bremer hielt ganz automatisch auf den Wagen zu, mit dem sie gekommen waren. Als er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, schüttelte Sendig den Kopf, griff in die Jackentasche und zog einen Schlüsselbund hervor, den er ihm zuwarf. Bremer fing ihn instinktiv auf - ohne allerdings zu wissen, was er damit sollte.
»Wir trennen uns für einen Moment«, sagte Sendig, »Sie können meinen Privatwagen nehmen - der graue 450er dort drüben, gleich neben dem Tor. Sehen Sie ihn?«
Bremer blickte in die bezeichnete Richtung und riß ungläubig die Augen auf, als er den silbergrauen Mercedes sah, der auf einem gesonderten Parkplatz direkt neben dem Tor stand. Der Wagen mußte deutlich mehr kosten, als er in zwei Jahren verdiente, und er war ungefähr so groß wie ein Güterzug.
»Meinen Sie das ernst?« fragte er.
Sendig grinste. »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie sich noch nie gewünscht hätten, so einen Wagen zu fahren. Und da behaupten Sie, ich wäre unfreundlich zu meinen Mitarbeitern?«
»Was... was soll das?« fragte Bremer verwirrt. Sendig täuschte sich - er war überhaupt nicht versessen darauf, mit einem solchen Wagen zu fahren, schon gar nicht, wenn er ihm nicht gehörte. Wenn er auch nur einen Kratzer verursachte, würde ihn das wahrscheinlich zwei volle Monatsgehälter kosten.
»Ich bin gut versichert«, antwortete Sendig, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Außerdem kenne ich Ihre Personalakte. Sie sind ein guter Fahrer. Und wir brauchen zwei Wagen. Sie fahren jetzt hinaus zum Krankenhaus und sehen nach Hansen, und ich... muß mit jemandem reden. Wir treffen uns in zwei Stunden.«
»Ich kann irgendeinen Dienstwagen nehmen«, sagte Bremer, aber Sendig schüttelte beharrlich den Kopf.
»Es ist mir lieber, wenn ich meinen Wagen dabeihabe«, sagte er. »Es wird vermutlich spät werden, und ich habe keine Lust, extra noch einmal hierherzukommen, nur um den Wagen zu holen.«
»Und wo treffen wir uns?« fragte Bremer. Der Gedanke gefiel ihm immer noch nicht, aber wie meistens hatte es gar keinen Zweck, mit Sendig zu diskutieren.
Sendig zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche und reichte ihn über das Dach. »Ich warte im Wagen, direkt vor der Tür«, sagte er. »Wenn ich nicht da bin, warten Sie auf mich. Aber ich schätze, ich werde schneller sein. Oh ja, noch etwas - wenn Sie nach Hansen gesehen haben, fahren Sie nach Hause und ziehen sich um. Wir müssen vielleicht jemanden observieren. In Uniform ist das etwas schwierig.«
»Und Hansen?« fragte Bremer. »Ich meine, in welchem Krankenhaus liegt er eigentlich?«
»Habe ich das nicht gesagt? Im St.-Eleonor-Stift. Sie wissen, wo das ist?«
»Das St.-Eleonor?« Bremer staunte. »Aber das ist ... kein Krankenhaus.«
»Wie man's nimmt«, antwortete Sendig. »Jedenfalls ist es eine Klinik.«
»Es ist eine Irrenanstalt«, antwortete Bremer betont.
»Ja, und zwar die gleiche, in der Sillmanns Frau untergebracht ist«, bestätigte Sendig ungerührt. »Und in der der selige Professor Artner gearbeitet hat Ein glücklicher Zufall, nicht wahr? Das erspart uns einen Weg.«
»Aber... aber wieso sollten sie Hansen dorthin bringen?« fragte Bremer hilflos. »Er hatte doch nur einen Schock!«
»Genau das sollen Sie ja herausfinden.« Sendig stieg ein und ließ das Seitenfenster herunter, so daß Bremer sich vorbeugen mußte, um über den Beifahrersitz hinweg weiter mit ihm reden zu können. »Es würde mich nicht überraschen, wenn sie leugnen, daß er dort ist. Aber er ist es, verlassen Sie sich darauf. Machen Sie ruhig gehörig Druck, wenn man Ihnen dumm kommt. Aber lassen Sie meinen Namen aus dem Spiel - wenigstens vorerst.«
Bremer hatte noch tausend Fragen, aber Sendig startete den Motor und ließ den Wagen langsam zurückrollen, so daß er beiseitetreten mußte, ob er es wollte oder nicht. Einen Moment später war er allein. Sendig hatte gewendet und fuhr in raschem Tempo auf die Straße hinaus.
Bremer blickte ihm kopfschüttelnd nach. Er verstand überhaupt nichts mehr. Wieso sollten sie Hansen ausgerechnet in diese Klinik gebracht haben? Ganz abgesehen davon, daß es der Zufälle vielleicht ein bißchen zu viele waren - er wußte nicht viel über das St.-Eleonor-Stift, aber doch immerhin, daß es sich nicht um eine x-beliebige Nervenheilanstalt handelte, sondern um eine Privatklinik, deren Patienten fast ausnahmslos aus gutbetuchten Familien stammten. Es war ganz bestimmt kein Krankenhaus, in das man einen Polizeibeamten brachte, der im Dienst verletzt worden war. Und schon gar nicht in aller Heimlichkeit und ohne seine Angehörigen zu benachrichtigen.
Langsam ging er auf Sendigs Mercedes zu und umkreiste das Fahrzeug einmal, ehe er die Tür öffnete. Er hatte beinahe Hemmungen, einzusteigen. Der Geruch von teurem Leder und edlem Holz schlug ihm entgegen, und als er sich hinter das Steuer setzte, sank er so tief in den Ledersitz ein, daß er fast erschrak. Seine Finger zitterten leicht, als er den Schlüssel ins Schloß steckte.
Der Motor sprang mit einem satten Röhren an, das die gewaltige PS-Zahl verriet, die unter der abgerundeten Motorhaube eingepfercht war, lief dann aber fast lautlos. Bremer suchte einen Moment vergebens nach dem Kupplungspedal, ehe ihm auffiel, daß er in einem Automatikwagen saß - eigentlich eine sonderbare Kombination für ein so sportliches Fahrzeug wie dieses, aber auf der anderen Seite auch wieder irgendwie passend, wenn man seinen Besitzer bedachte -, dann schloß er die Tür, legte den Gang ein und fuhr sehr vorsichtig los.
Ebenso vorsichtig bugsierte er den Wagen auf die Straße hinaus, wartete eine genügend große Lücke im fließenden Verkehr ab und gab dann etwas entschlossener Gas. Der Wagen gehorchte seinen Befehlen so präzise, als wäre er seit Jahren an keinen anderen Fahrer gewöhnt. Es dauerte tatsächlich nur einige Augenblicke, bis Bremers Nervosität sich bereits zu legen begann, und nur noch einige weitere Momente, bis er wirklich etwas von der Faszination zu spüren begann, die Sendig ihm gerade unterstellt hatte. Es war ein phantastischer Wagen. Um so weniger verstand er jetzt, warum Sendig ihn ihm anvertraut hatte und selbst mit dem Dienstwagen fuhr. Wenn sie zwei Wagen brauchten, warum hatte er dann nicht seinen eigenen PKW genommen und ihn, Bremer, mit dem Audi fahren lassen?
Aber eigentlich wußte er die Antwort auf diese Frage. Er hatte sie die ganze Zeit über gewußt, nur nicht richtig realisiert, aber das holte er nach, als er das nächste Mal in den Spiegel sah und den Wagen erblickte, der ihm folgte. Es war ein ganz normaler dunkelblauer BMW, wie es Hunderte, wenn nicht Tausende in der Stadt geben mußte, aber zwei Dinge daran waren doch seltsam: Er hatte abgedunkelte Scheiben, und er hatte ihn vorhin schon einmal gesehen, auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums.