34. Kapitel

Der Arzt zog die Nadel aus Bremers Vene und tupfte den einzelnen Blutstropfen, der aus dem winzigen Einstich quoll, mit einem Wattebausch weg. Bremer schüttelte den Kopf, als er die Spritze aus der Hand legte und nach einem Pflaster greifen wollte. Der Arzt nahm es ohne Protest hin. »Bis wir in der Klinik sind, wird das reichen«, sagte er. »Sind Sie sicher, daß ich Ihre Hand nicht verbinden soll?«

Bremer schüttelte erneut den Kopf, aber er sah auch ganz automatisch auf seihe linke Hand herab. Seine Fingernägel hatten zwar aufgehört zu bluten, aber sie waren bis weit ins Nagelbett hinein eingerissen und schmerzten mittlerweile erbärmlich. Aber das spielte im Augenblick keine Rolle. »Kümmern Sie sich lieber um ihn«, sagte er, indem er auf Mark deutete. »Wird er durchkommen?«

Der Arzt zögerte einen Moment mit der Antwort. Schließlich machte er eine Bewegung, die wie ein widerwilliges Nicken aussah. Er stand auf und trat gebückt an die Liege heran, auf der die beiden Pfleger den verletzten Jungen festgeschnallt hatten. Sie hatten ihm das zerrissene Hemd ausgezogen und die Schußwunde in seinem Arm notdürftig verbunden, und die Elektronik des Krankenwagens, der von außen betagt aussah, innen aber supermodern ausgestattet war, überwachte blinkend und piepsend all seine Lebensfunktionen.

Obwohl die Liege gefedert war, setzten sich die schaukelnden Bewegungen des Krankenwagens bis zu Mark fort. Sein Kopf rollte leicht hin und her, was den Eindruck erweckte, er wäre wach. Er war es nicht. Eine der zahlreichen Injektionen, die ihm der Arzt gegeben hatte, hatte ihn wohl einschlafen lassen, denn seine Augen waren jetzt geschlossen, und sein Atem ging gleichmäßiger. Obwohl der Anblick Bremer nach wie vor erschreckte, war er doch zugleich erleichtert, nicht mehr diese schreckliche Leere in Marks Augen sehen zu müssen.

»Ich denke schon«, sagte der Arzt schließlich. »Er hat eine Menge Blut verloren und einen schweren Schock, aber... ich denke, wir kriegen ihn durch.«

Er trat wieder von der Liege zurück und betätigte die Sprechtaste, die ihn mit dem Fahrer im vorderen Teil des Wagens verband. »Wie lange brauchen wir noch?«

Die Antwort kam sofort, »Zehn Minuten, vielleicht länger. Der Verkehr ist heute abend wie verrückt. Ich weiß auch nicht, was los ist.«

»Aber ich«, mischte sich Sendig ein. Er hatte bisher schweigend und reglos neben Bremer auf der zweiten Liege gesessen und mit mißtrauischen Blicken jeden Handgriff des Arztes verfolgt, zwischendurch aber auch immer wieder nervös aus dem Fenster gesehen. Mit einer fahrigen Geste fuhr er fort: »Wir fahren zur Charité?«

Der Arzt nickte. »Ja.«

»Dann kalkulieren Sie lieber zwanzig Minuten ein«, sagte Sendig. »Auf der Lindenallee ist eine Großbaustelle. Die ganze City ist dicht. Hat man Ihnen nichts davon gesagt?«

»Kein Wort. Und ich habe auch nicht-«

»Ich hatte vorhin Mühe, durchzukommen«, fiel ihm Sendig ins Wort. »Und das war vor einer Stunde. Jetzt sind die ganzen Verrückten aus den Diskotheken und Kinos auf dem Weg nach Hause.« Er überlegte einen Moment, sah wieder aus dem Fenster und deutete dann auf die Sprechtaste, die der Arzt gerade betätigt hatte. »Lassen Sie ihn an der nächsten Ampel rechts abbiegen. Wir fahren durch das Industriegebiet. Das ist weiter, geht im Moment aber schneller.«

Das klang nicht besonders überzeugend, und der Arzt zögerte auch tatsächlich einige Sekunden, drückte aber schließlich doch auf die Sprechtaste und gab Sendigs Anweisung an den Fahrer weiter. Bremer sah den Kommissar fragend an. Er hatte den ganzen Tag über den Polizeifunk abgehört und nichts von irgendeiner Baustelle erfahren, geschweige denn einem Stau. Und vor einer Stunde war Sendig ganz gewiß nicht in der Nähe der City gewesen. Was hatte er vor?

Sendig quittierte seine fragend hochgezogenen Augenbrauen mit einem kurzen, aber beinahe beschwörenden Blick. Einem Blick, der Bremer mehr beunruhigte als alles andere, was bisher geschehen war. Hätte er bis zu diesem Moment noch Zweifel daran gehabt, daß Sendig unter der Maske aufgesetzter Ruhe vor Angst fast wahnsinnig wurde, so hätte dieser Blick sie endgültig beseitigt Er sah einem Mann in die Augen, der um mehr fürchtete als sein Leben.

»Glauben Sie, daß ich mit dem Jungen sprechen kann?« fragte Sendig.

»Sicher«, antwortete der Arzt. »Morgen früh oder in zwei Tagen oder einer Woche.«

»Das meine ich nicht«, sagte Sendig. Seine rechte Hand glitt in einer wie zufällig wirkenden Bewegung unter die Jacke und blieb dort. »Ich meine: jetzt, hier.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte der Arzt. Er warf Sendig einen feindseligen Blick zu - übrigens nicht zum ersten Mal, seit sie losgefahren waren. Sendig hatte ihn fast gewaltsam dazu zwingen müssen, nicht nur Bremer, sondern auch ihn im Krankenwagen mitzunehmen, und der Arzt machte keinen Hehl daraus, daß er in mindestens einem Punkt mit Bremer übereinstimmte: Er könnte Sendig nicht ausstehen. »Sie sehen doch, in welchem Zustand er ist. Selbst wenn ich ihn aufwecken könnte, würde ich es nicht tun. Aber ich kann es nicht.«

»Das ist bedauerlich«, sagte Sendig. »Aber ich fürchte, ich muß darauf bestehen.« Er zog die Hand unter der Jacke hervor, und sie hielt genau das, was Bremer erwartete hatte: eine Pistole, deren Mündung er mit einer betont langsamen Bewegung auf das Gesicht des Arztes richtete.

Bremers Gedanken stockten für den Bruchteil einer Sekunde und begannen sich dann zu überschlagen. Blitzartig spielte er alle Möglichkeiten durch, die er hatte. Er war Sendig nahe genug, um ihn zu packen und ihm die Waffe zu entreißen, ehe er abdrücken konnte. Zugleich aber sah er auch eine Entschlossenheit auf Sendigs Gesicht, die ihn warnte, daß Sendig sich nicht so einfach würde überwältigen lassen. Ein Handgemenge in dem engen Wagen konnte fatale Folgen haben - tödliche, sollte sich ein Schuß lösen. Und da war noch etwas: Die Furcht in Sendigs Augen hatte die Erinnerung wieder geweckt, die er im Verlauf der letzten halben Stunde so mühsam unterdrückt hatte. Die Erinnerung an das Ding auf der Treppe, den Schatten im Auto und das, was er auf dem Foto gesehen hatte.

»Sendig...« begann er zögernd.

»Denken Sie nicht einmal daran«, unterbrach ihn Sendig. »Ich habe nichts mehr zu verlieren. Und Sie übrigens auch nicht.« Sowohl sein Blick als auch der Lauf seiner Waffe blieben starr auf den Arzt gerichtet, der dem kurzen Gespräch vollkommen fassungslos gefolgt war. Er sah nicht einmal erschrocken aus, sondern einfach nur verblüfft.

»Sind... sind Sie verrückt geworden?« stieß er mühsam hervor. Ohne Sendigs Reaktion abzuwarten, wandte er sich an Bremer. »Tun Sie etwas, Mann! Sie sind doch Polizist!«

»Seien Sie froh, daß er vernünftig genug ist, nichts zu tun«, sagte Sendig. »Und jetzt wecken Sie den Jungen auf! Ich muß darauf bestehen, Herr Doktor.«

»Das kann ich nicht«, antwortete der Arzt. Allmählich bekam er nun doch Angst, aber auf seinem Gesicht breitete sich auch ein Ausdruck von Trotz aus, den Bremer gut genug kannte. »Es würde ihn umbringen. Wollen Sie das?«

Die Pistole in Sendigs Hand bewegte sich eine Winzigkeit höher und zielte nun genau zwischen die Augen des Arztes. »Wollen Sie lieber sterben?«

Der Arzt wurde immer nervöser. Aber er rührte sich nicht, sondern schürzte nun trotzig die Lippen. »Sie schießen nicht«, behauptete er nervös. »Was hätten Sie schon davon? Außerdem kann ich ihn gar nicht wecken, selbst wenn ich wollte.«

Sendig seufzte tief. Er drehte den Kopf und sah kurz aus dem Fenster, dann stand er auf, trat in gebeugter Haltung mit einem Schritt auf den Arzt zu - und schlug ihm mit dem Lauf der Pistole quer über das Gesicht. Bremer fuhr erschrocken hoch, während der Arzt mit einem überraschten Keuchen halb von seinem Schemel kippte und gegen die Liege mit dem bewußtlosen Mark gefallen wäre, hätte Sendig ihn nicht aufgehalten. Er stieß ihn grob auf den Schemel zurück und sagte in einem leisen, aber sehr entschlossenen Ton: »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie es wenigstens versuchen würden, Herr Doktor.«

Die Sprechanlage knisterte. »Ist alles in Ordnung dahinten?«

»Ja«, antwortete Sendig. »Das heißt nicht ganz. Bitte halten Sie an der nächsten Kreuzung an und kommen Sie nach hinten. Und Ihr Kollege auch.« Er wartete, bis das winzige Licht der Sprechanlage erlosch, dann wandte er sich wieder an den Arzt. »Also?«

»Sie sind ja wahnsinnig!« stöhnte der Mann. Er hatte die Hand auf das Gesicht gepreßt und schien hörbar Mühe zu haben, überhaupt zu reden.

»Möglich«, antwortete Sendig. »Bedenken Sie diesen Umstand, ehe Sie irgend etwas tun.«

Bremer saß noch immer wie gelähmt da. Er verstand selbst nicht, warum er nichts unternahm. Es wäre die Gelegenheit gewesen, sich auf Sendig zu stürzen und ihn zu entwaffnen. Er stand unmittelbar vor ihm, drehte ihm aber den Rücken zu, und der Lauf seiner Pistole war auf den Boden gerichtet. Selbst wenn er voraussetzte, daß Sendig verrückt war und auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen würde, standen seine Chancen nicht schlecht Aber statt es zu versuchen, saß er nur einfach weiter da und rührte sich nicht. Das war also das Ende seiner Karriere, dachte er. Er hätte auf seine innere Stimme hören und Sendig zum Teufel jagen sollen, als er heute morgen an seiner Tür geklopft hatte.

»Hören Sie zu!« stöhnte der Arzt. »Sie verstehen das nicht. Der Junge hat einen schweren Schock. Das ist nicht so harmlos, wie die meisten Laien glauben. Er kann daran sterben!«

»Wenn Sie es nicht tun, werden vielleicht noch sehr viel mehr Menschen sterben, Doktor«, sagte Sendig ernst. »Ich verlange nicht, daß Sie es verstehen, aber glauben Sie mir - es geht um mehr als sein Leben. Und wenn Sie es nicht glauben wollen, bleiben Sie einfach bei Ihrer Meinung, daß ich verrückt und völlig ausgerastet bin.«

Das Motorengeräusch veränderte sich. Bremer sah aus dem Fenster und bemerkte, daß der Wagen langsamer zu werden begann und an den Straßenrand rollte. Sie fuhren ohne Sirene, aber mit eingeschaltetem Bläulicht. Nach einigen Augenblicken hielt der Wagen an. Bremer konnte hören, wie die beiden Sanitäter ausstiegen und um das Fahrzeug herumeilten.

Sendig trat einen halben Schritt zurück und wartete, bis die beiden hinteren Türen geöffnet wurden. Erst dann drehte er sich langsam herum und hob seine Waffe. »Guten Abend, meine Herren«, sagte er fröhlich. »Es besteht kein Grund zur Panik. Betrachten Sie sich als gekidnappt. Wenn Sie vernünftig sind und mich und meinen Begleiter nach Kuba fliegen, wird niemandem etwas geschehen.«

Niemand lachte. Die beiden Männer starrten Sendig nur vollkommen verdattert an. Offensichtlich erging es ihnen nicht anders als dem Arzt gerade: Sie verstanden gar nicht, was geschah. »Soll... soll das ein Witz sein?« fragte einer der beiden.

»Keineswegs«, antwortete Sendig. Er lächelte noch immer, aber eigentlich war es gar kein Lächeln. Es war eine Grimasse, über deren wahre Bedeutung Bremer lieber nicht nachdenken wollte. »Wenn ich Sie um Ihre Funkgeräte bitten dürfte?«

Bremers Blick fiel auf die Straße hinter den beiden Männern. Sie befanden sich in einer menschenleeren, schäbigen Gegend - kopfsteingepflasterte Straßen, die von tristen Industrie- und Lagerhallen gesäumt wurden und tagsüber vielleicht von Leben pulsierten, jetzt aber zum größten Teil unbeleuchtet und still dalagen.

Das Blaulicht rotierte noch immer und warf zuckende Lichtreflexe auf die Ziegelsteinmauern, wie der Widerschein eines lautlosen, gleichmäßigen Gewitters. Irgend etwas war dort draußen. Bremer konnte es spüren. Irgendwo in diesen regelmäßig erscheinenden und wieder mit der Nacht verschmelzenden Schatten waren unsichtbare Augen, die ihn anstarrten, belauerten, gierig, drohend, abwartend... Er war da. Er war die ganze Zeit über in seiner Nähe gewesen, ein unsichtbarer Schemen, der stets in den Schatten lauerte und dem keiner seiner Schritte entging. Ganz plötzlich begriff Bremer, wie sinnlos alle seine Versuche gewesen waren, vor ihm davonzulaufen. Wie konnte er vor etwas fliehen, das Teil von ihm war?

Die beiden Sanitäter hatten mittlerweile wohl begriffen, daß Sendig keineswegs scherzte, und legten zögernd ihre Sprechfunkgeräte auf den Wagenboden. »Sehr vernünftig«, sagte Sendig. »Und wenn ich Sie jetzt noch um Ihre Geldbörsen bitten dürfte? Keine Sorge - ich will Sie nicht bestehlen. Ich mochte nur sichergehen, daß Sie nicht telefonieren.«

Die Männer gehorchten auch diesmal, aber einer sagte: »Was soll denn der Unsinn? Was glauben Sie, wie weit Sie mit der Kiste kommen?«

»Weit genug«, antwortete Sendig. Er wandte sich an Bremer: »Können Sie den Wagen fahren?«

Bremer sah weiter die Straße hinab. Einer der Schatten dort draußen bewegte sich in einem anderen Rhythmus als dem des flackernden Blaulichts. Er kam nicht näher, aber er schien zu wachsen, als erhielte er mit jedem neuen Zyklus von hell nach dunkel ein wenig mehr Substanz. Er konnte ihn immer noch nicht wirklich erkennen, aber das brauchte er auch nicht. Er wußte, was es war: etwas Großes, Glitzerndes, mit Klauen und Zähnen und einem Paar gewaltiger stählerner Schwingen...

»Bremer?«

»Ja«, sagte der mühsam. »Ja, okay. Ich... kann ihn fahren. Aber er hat recht - wir kommen keine zwei Kilometer weit.«

»Einen Krankenwagen zu kidnappen ist eine ziemlich bescheuerte Idee«, pflichtete ihm der Fahrer bei.

Auf Sendigs Gesicht erschien ein Ausdruck grimmiger Zufriedenheit. »Stimmt«, sagte er. Er wandte sich an den Arzt. »Doktor?«

Der Arzt starrte ihn an. »Ich beuge mich der Gewalt«, sagte er. »Aber ich warne Sie. Wenn der Junge stirbt, dann ist das Mord - und der geht auf Ihr Konto.«

Sendig antwortete nichts darauf. Nach einigen weiteren Sekunden erhob sich der Arzt, öffnete eine Schublade und zog eine bereits fertig aufgezogene, in Cellophan eingeschweißte Spritze hervor. »Das ist Wahnsinn«, murmelte er, während er die Verpackung abriß und die Nadel in den durchsichtigen Plastikschlauch stach, aus dem die Infusionslösung in Marks Vene tropfte. »Mit einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit wird es ihn umbringen.«

»Wie lange dauert es, bis es wirkt?« fragte Sendig unbeeindruckt.

»Keine Ahnung.« Der Arzt hob die Schultern. »Fünf Minuten... zehn. Wenn überhaupt.«

»Wunderbar«, sagte Sendig. Er wedelte mit der Pistole. »Wenn Sie sich jetzt bitte zu Ihren Kollegen begeben würden, Herr Doktor. Ihr Funkgerät und Ihre Geldbörse, bitte.«

Der Arzt legte die verlangten Gegenstände neben die der beiden Sanitäter auf den Wagenboden, drehte sich dann aber noch einmal herum und zog eine weitere cellophanverpackte Wegwerfspritze aus einer Schublade. Er reichte sie Bremer. »Wenn er kollabiert, geben Sie ihm das«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob es hilft, aber es ist das einzige, was ich noch tun kann.« Du hättest mehr tun können, fügte sein Blick hinzu. Du hättest diesen Verrückten aufhalten können. Vielleicht kannst du es noch. Ehe er den Jungen umbringt. Bremer hatte nicht die Kraft, diesem Blick länger als eine Sekunde standzuhalten. Er schob die Spritze in die Innentasche seiner Jacke, wobei er sorgsam darauf achtete, die Nadel nicht zu verbiegen, und wandte sich ab.

Bremers Blick suchte die Straße ab. Es war da. Und es kam näher; immer dann, wenn das zuckende Blaulicht für einen Moment erlosch, kam es nähen eine schwarze Schimäre, die geduckt von Schatten zu Schatten sprang, wie ein Raubtier, das sich an seine Beute heranpirschte. Er war sicher, solange er hier drinnen blieb, aber wenn er den Wagen verließ, würde es ihn kriegen. Er schloß die Augen, aber es nutzte nichts. Der Terror fand hinter seinen Lidern statt.

»Geben Sie doch auf, Mann!« Der Arzt versuchte ein letztes Mal, an Sendigs Vernunft zu appellieren. »Ich... ich verspreche Ihnen, daß niemand etwas davon erfährt. Keiner von uns wird etwas sagen. Wenn dem Jungen nichts geschieht, vergessen wir die Sache einfach!«

Sendig deutete mit der Pistole die Straße hinab. »Gehen Sie, Doktor. Wenn Sie sich beeilen, sind Sie in zehn Minuten an der Hauptstraße und können einen Wagen anhalten. Und wenn Sie noch einen guten Rat von mir wollen: Vertrauen Sie in den nächsten Tagen niemandem. Erzählen Sie vor allem niemandem, daß Sie mit dem Jungen in Berührung gekommen sind. Und jetzt verschwinden Sie!«

Die drei Männer drehten sich um. Die ersten Schritte gingen sie noch langsam, aber dann verfielen sie in einen schnellen Laufschritt und rannten schließlich. Sendig wedelte ungeduldig mit seiner Waffe. »Bremer! Fahren Sie los. Wir haben nicht viel Zeit. Und schalten Sie dieses verdammte Blaulicht aus.«

Bremer wollte aus dem Wagen steigen, aber er konnte es nicht Er war wie gelähmt. Das Ding war dort draußen. Es wartete auf ihn. Er war verloren, wenn er die Sicherheit des Wagens verließ.

»Was ist mit Ihnen, Bremer?« fragte Sendig. Er klang plötzlich alarmiert. »Stimmt etwas nicht?«

Bremers Hände und Knie begannen zu zittern. Er war wieder fünf Jahre alt und lag mit über den Kopf gezogener Decke im Bett, und draußen schlich das Monster herum. Es war stickig unter der Bettdecke, es war heiß, und er bekam kaum noch Luft, aber das Monster würde ihn kriegen, sobald er die Decke auch nur um einen Spalt hob.

»Er... kommt«, flüsterte Bremer.

Sendigs Augen wurden schmal. Eine Sekunde lang starrte er ihn an, dann folgte er seinem Blick und sah lange und mißtrauisch auf die Straße hinaus. Vielleicht nahm er ebenfalls etwas wahr, vielleicht auch nicht. Nach einigen Sekunden jedenfalls steckte er die Waffe ein und deutete über die Schulter zurück zur Fahrerkabine. »Also gut. Ich fahre. Bleiben Sie hier und achten Sie auf den Jungen.«

Загрузка...