5. Kapitel

Die Wohnung war ein Alptraum. Die vorherrschende Farbe war Schwarz - angefangen von den Jalousien vor den Fenstern über den Teppichboden, die Wände, Türrahmen und das spärliche Mobiliar. Bis hin zur Decke hatte sich jemand große Mühe gegeben, jede Farbe aus diesem Raum zu löschen. Es gab nur sehr wenige Möbel: ein einfaches, natürlich schwarzgestrichenes Holzregal, das eine Stereoanlage und einen Fernseher enthielt, einen Couchtisch und ein paar Stühle und anstelle eines Bettes einen großformatigen - schwarzen - Futon. Das fast vollständige Fehlen einer Einrichtung bedeutete jedoch nicht, daß die Wohnung leer war. Ganz im Gegenteil herrschte in dem großen Apartment ein unbeschreibliches Durcheinander. Auf dem Fußboden lag eine fast wadenhohe Schicht aus Kleidungsstücken, Büchern, Papierfetzen, Plastiktüten, aufgerissenen Kartons und Kissen, Hunderten von leeren Zigarettenschachteln und Zeitschriften, vollen Aschenbechern und Bierdosen, McDonalds-Kartons, Kerzenstummeln und Prospekten ... Eine Müllkippe war nichts dagegen. Trotz der offenstehenden Balkontür stank es erbärmlich. Bremer mußte immer schneller schlucken, um den schon wieder aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken. Was hatte er dem Schicksal eigentlich angetan, daß es ihm heute so übel mitspielte?

»Mein Gott«, murmelte er. »Das ist ja unvorstellbar. Wie kann ein Mensch so leben?«

Er trat einen weiteren Schritt hinter Sendig in den Raum hinein und stieß dabei mit dem Fuß gegen eine Papiertüte, die umfiel und ihren Inhalt über den Boden verteilte: ein halbes Dutzend leerer Bierdosen und Plastikschälchen mit Essensresten, die schon Schimmel angesetzt hatten. Bremer verzog angeekelt das Gesicht. Wahrscheinlich wimmelte es hier von Ungeziefer und Krankheitserregern. Der Gestank war so schlimm, daß er eigentlich noch drei Etagen tiefer zu spüren sein mußte. Es war ihm ein Rätsel, daß sich die anderen Mieter des Hauses nicht längst darüber beschwert harten.

»Rühren Sie nichts an«, sagte Sendig. »Rufen Sie das Präsidium. Die Spurensicherung soll herkommen. Und schließen Sie die Tür«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu. »Das hier muß niemand sehen.«

Dazu war es ein bißchen zu spät. Unter der Tür standen mittlerweile nicht nur der rothaarige Polizist und der Schlosser und starrten aus ungläubig aufgerissenen Augen zu ihnen herein, auch Schraiber mit ›ai‹ war zurückgekehrt, und er sah aus, als träfe ihn jeden Moment der Schlag.

»Aber das... das... das ist ja unfaßbar«, stammelte er. »Eine solche Schweinerei hab' ich ja noch nie gesehen! Das... das muß ich sofort der Hausverwaltung melden!«

»Tun Sie das«, sagte Sendig. »Am besten von einem Münzfernsprecher am Hauptbahnhof aus.« Er wiederholte seine Aufforderung, die Tür zu schließen, mit einer ungeduldigen Geste und schüttelte den Kopf, als Bremer ihr endlich nachkam.

»Idiot«, murmelte Sendig. Er war in der Mitte des überraschend großen Raumes stehengeblieben und sah sich noch immer unentwegt kopfschüttelnd um. Er sagte nichts mehr, aber es fiel ihm offenbar ebenso schwer wie Bremer, wirklich zu glauben, was er sah.

Bremer erinnerte sich endlich an den Rest des Befehles, den Sendig ihm erteilt hatte, und hatte es plötzlich sehr eilig, sein Funkgerät einzuschalten und die Zentrale anzurufen. Während er es tat, bewegte sich Sendig raschelnd durch den Raum und verschwand hinter einer der beiden anderen Türen, die es gab. Bremer erledigte seinen Anruf und folgte ihm. Es war nicht unbedingt so, daß er Sendigs Gesellschaft übermäßig schätzte - aber allein in dieser unheimlichen Wohnung zu bleiben, gefiel ihm noch sehr viel weniger.

Die Tür führte in ein großzügig bemessenes Bad, das neben Toilette und Badewanne eine zusätzliche Duschkabine und ein Bidet enthielt. Und alles war mit einer dicken Schicht schwarzer Ölfarbe überzogen. Auf den glasierten Fliesen und dem Porzellan haftete die Farbe nicht gut, weshalb Löbach mehrere Schichten übereinander aufgetragen hatte, bis sie so rauh und uneben wie glänzender Teer geworden waren. Es gab sogar ein Fenster, das Bremer aber erst beim zweiten Hinsehen überhaupt bemerkte. Scheibe und Rahmen waren so dick mit schwarzer Farbe bekleistert, daß sie mit der Wand zu verschmelzen schienen. Es war auch nicht sehr hell. In den Deckenpaneelen befanden sich die gleichen, einen Sternenhimmel simulierenden Halogenlämpchen wie im Wohnzimmer, aber die meisten Birnen waren herausgezogen, so daß der Raum nur aus einem Konglomerat schwarzer Schatten mit verschwimmenden Kanten bestand.

»Unheimlich«, murmelte Sendig. »Ich frage mich, was in einem solchen Menschen vorgehen muß.«

Er machte einen weiteren Schritt in den Raum hinein, und die Dunkelheit und das allgegenwärtige Schwarz verliehen der Bewegung eine sonderbare Tiefe. Es war, dachte Bremer, als mache er zugleich einen Schritt in eine bizarre, fehlfarbene Welt mit verschobenen Dimensionen.

»Wahrscheinlich werden wir das nie erfahren.« Sendig beantwortete seine Frage selbst, als Bremer es nicht tat. »Aber vielleicht muß man den Verstand verlieren, in einer solchen Umgebung.«

»Er hat sich selbst so eingerichtet«, gab Bremer zu bedenken.

»Ja, das hat er wohl.« Sendig drehte sich einmal um seine Achse und trat schließlich an den Spiegelschrank über dem Waschbecken heran. Löbach hatte sämtliche Plastikteile und zwei der drei Türen geschwärzt; nur ungefähr ein Drittel des mittleren Spiegels war seiner Malwut entgangen. Sendig betrachtete ihn einen Moment nachdenklich, dann hob er die Hand und öffnete den Schrank, wobei er nur den Nagel des kleinen Fingers benutzte. Vorsichtig, dachte Bremer, aber ziemlich überflüssig. Welchen Beweis brauchte er nach dem Anblick dieser Wohnung eigentlich noch, daß Löbach einen Riß in der Schüssel gehabt hatte, der so breit war wie der Grand Canyon?

Der Schrank war fast leer: ein schmutziges Glas, eine noch in Cellophan eingepackte Zahnbürste und ein halb aufgebrauchtes Röhrchen Thomapyrin. Löbach hatte versäumt, auch das Innere des Schrankes schwarz anzumalen, und auf dem weißen Kunststoff war eine mehrere Millimeter dicke Staubschicht zu erkennen. Es mußte Monate her sein, daß dieser Schrank das letzte Mal geöffnet worden war.

Sendig musterte das Innere des Schränkchens erstaunlich lange und erstaunlich ausgiebig, ehe er das Röhrchen mit Schmerztabletten herausnahm. Er schraubte es auf, schüttete sämtliche Tabletten auf seine Handfläche und berührte jede einzelne mit der Zungenspitze, als wollte er sich persönlich davon überzeugen, daß sie auch wirklich nichts anderes als ein harmloses Schmerzmittel enthielten. Ebenso sorgfältig praktizierte er die Tabletten wieder in das Kunststoffröhrchen zurück und ließ es dann in seiner Manteltasche verschwinden. Bremer blickte fragend, aber Sendig machte sich nicht die Mühe, sein sonderbares Verhalten irgendwie zu erklären.

Er versuchte auch die anderen beiden Türen zu öffnen, aber es ging nicht. Sie waren mit Farbe verklebt, dasselbe galt auch für den Wasserhahn darunter; ebenso übrigens wie für die Dusche und die Armaturen der Badewanne.

»Scheint, als hätte er sich auch nicht mehr gewaschen«, sagte Sendig kopfschüttelnd. »Völlig plemplem, wenn Sie mich fragen. Ich verstehe das nicht... Sie sagen, den Nachbarn ist nichts an ihm aufgefallen?«

»Nichts Besonderes«, antwortete Bremer. »Außer eben, daß er ein ziemlicher Eigenbrötler war.«

»Paranoid trifft die Sache wohl eher«, sagte Sendig. »Sehen Sie sich nur diese Tür draußen an. Was ich nur nicht verstehe, ist... das hier.« Er ließ seine Hände in einer flatternden Bewegung kreisen. »Ich meine, daß... daß sich jemand bedroht fühlt, kommt vor. Aber warum verwandelt er seine eigene Wohnung in eine Gruft?« Er seufzte. »Sehen wir uns den Rest an. Und versuchen Sie, irgendwo Licht aufzutreiben. Ich komme mir allmählich vor wie lebendig begraben.«

Sie verließen das, was einmal ein Badezimmer gewesen war, und Bremer durchsuchte das Apartment nach einem weiteren Lichtschalter oder einer Lampe, ohne allerdings fündig zu werden. Wie im Bad waren die meisten Birnchen aus der Decke herausgezogen worden. Er fand auf dem nur spärlich bestückten Bücherregal hinter dem Fernseher zwar eine Leselampe, die allerdings nicht mehr funktionstüchtig war: Löbach hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Birne herauszuschrauben. Er hatte sie kurzerhand übermalt.

Nur aus Neugier versuchte Bremer, die Titel der wenigen Bücher zu entziffern. Soweit er es in dem kaum vorhandenen Licht erkennen konnte, handelte es sich ausnahmslos um Bücher, die sich mit religiösen oder esoterischen Themen befaßten. Die Titel der wenigen CDs, die er fand, paßten dazu. Es war schwere, zum größten Teil schwermütige Klassik: Wagner, Mussorgski, Grieg. Er hörte ein Geräusch, und als er aufsah, glaubte er eine Bewegung aus den Augenwinkeln heraus zu bemerken. Ein Schatten, der sich - draußen auf dem Balkon? - bewegte. Aber noch bevor er sich ganz herumdrehen konnte, hörte er Sendigs Stimme, die hinter der Tür auf der anderen Seite des Raumes erklang.

»Bremer! Kommen Sie her!«

Er hatte nicht einmal sehr laut gesprochen, aber das war auch nicht nötig. In seiner Stimme war etwas, das Bremer alarmierte. Er vergaß augenblicklich den Schatten, den er sich wahrscheinlich sowieso nur eingebildet hatte. So rasch er gerade noch konnte, ohne zu rennen, folgte er Sendig - und prallte erschrocken unter der Tür zurück.

Sendig stand in einer kleinen, aber komplett eingerichteten Küche, die sich nicht nur in ebenso verwahrlostem Zustand befand wie der Rest des Apartments, sondern ebenfalls komplett schwarz angemalt worden war. Angefangen von den Möbeln bis hin zu den Fliesen über der Arbeitsplatte. Das einzige, was nicht schwarz war, waren die Kochplatten - und die krakeligen, zwanzig Zentimeter großen Druckbuchstaben, die jemand in stumpfem Rot an die Wand neben der Tür gemalt hatte.

»O verdammt!« murmelte er. »Was ist das?« Er wollte nähertreten, doch Sendig hob rasch die Hand und hielt ihn zurück.

»Rühren Sie nichts an«, sagte er. »Wir warten auf die Spurensicherung.«

Bremer fand diese Bemerkung ebenso überflüssig wie die von vorhin. Er hatte nicht vorgehabt, irgend etwas anzurühren, schließlich war er lange genug Polizist. Aber er schluckte seinen Ärger herunter und beugte sich statt dessen nur zur Seite, um an Sendig vorbei einen genaueren Blick auf die Schrift an der Wand zu werfen.

»Das... das ist Blut«, murmelte Sendig. Ungeachtet dessen, was er selbst gerade zweimal gesagt hatte, hob er die Hand und tastete mit den Fingerspitzen über die Schrift. Sie hinterließen kleine, runde Flecken in den verschmierten Buchstaben, in denen man bei genauerem Hinsehen sogar noch seine Fingerabdrücke erkennen konnte, und Bremer hatte das absurde Gefühl, daß er dadurch irgendwie zum Mittäter wurde. Er rieb die Finger aneinander, roch daran und verzog angeekelt das Gesicht, ehe er noch einmal und mit größerem Nachdruck sagte: »Das ist Blut!«

Bremer kämpfte tapfer weiter gegen das flaue Gefühl, das von seinem Magen Besitz ergriffen hatte und seine Kehle hinaufzukriechen versuchte, und zwang sich, die Schrift genauer zu betrachten. Die Buchstaben waren verschmiert und offensichtlich mit zitternden Fingern geschrieben, so daß er sie kaum identifizieren konnte.

»A... Z... R... A... E... L«, buchstabierte Sendig. »Azrael. Was bedeutet das?«

Bremer konnte nur mit den Schultern zucken. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber...«

Sendig sah ihn fragend an. »Aber?«

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Bremer, »aber der Tote - Löbach... Auf seiner Brust waren Schnittwunden. Der Arzt hat mich darauf aufmerksam gemacht. Es sah fast aus, als hätte er versucht, sich etwas in die Brust zu ritzen. Ich konnte es nicht entziffern, aber es könnte dasselbe Wort gewesen sein.«

»Azrael...« Sendig wandte seine Aufmerksamkeit wieder den blutigen Buchstaben auf der Wand zu und schüttelte abermals den Kopf, »Irgendwoher kenne ich dieses Wort. Ich weiß nicht mehr genau, woher, aber ich habe es schon einmal gehört.«

Bremer erging es übrigens ebenso. Aber auch er konnte nicht sagen, wieso ihm dieser Begriff bekannt vorkam. Er wollte auch nicht darüber nachdenken. Er fühlte sich... wie erschlagen. Bisher war alles, was sie gefunden hatten, bizarr und vielleicht ein bißchen unheimlich gewesen, aber ihre grausige Entdeckung rückte die ganze Geschichte in ein vielleicht nicht neues, aber doch anderes Licht. Sie gab dem Entsetzen über Löbachs Tat eine Tiefe, die es bisher trotz allem nicht gehabt hatte. Ganz plötzlich und nur für ein paar Sekunden, in dieser Zeit aber sehr intensiv, haßte er Löbach. Er hatte diesen Mann nicht einmal gekannt, und er verdiente wohl sehr viel eher sein Mitleid als seinen Zorn, aber er hatte ihn gezwungen, sich einer Facette der menschlichen Psyche zu stellen, die er in dieser Ausprägung bisher weder gekannt hatte, noch jemals hatte kennenlernen wollen. Und dafür haßte er ihn. Dann wurde ihm klar, wie ungerecht dieses Gefühl war, und sein schlechtes Gewissen nahm die Stelle des Hasses ein, allerdings war es auch nicht viel leichter zu ertragen.

Vielleicht half ja Normalität, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Mit einer bewußten Anstrengung löste er seinen Blick von der Blutschrift an der Wand und sah sich aufmerksam in der kleinen Küche um. Er wurde fast sofort fündig. Wäre er nicht so schockiert gewesen, dann hätte er es wohl noch viel eher bemerkt.

»Dort!« Bremer deutete auf ein blutiges Steakmesser, das auf der Arbeitsplatte lag. Eine dünne rote Spur führte von dort aus zur Wand unter der Schrift und in der anderen Richtung hinaus ins Wohnzimmer. »Damit hat er es wohl getan.«

»Wahrscheinlich. Und er war sogar ordentlich genug, das Messer wieder zurückzulegen, ehe er hinausgegangen ist, um sich vom Balkon zu stürzen.« Sendig zog eine Grimasse. »Völlig verrückt. Das ist wohl eher ein Fall für die Psychiater als für uns.«

Und was tust du dann hier? dachte Bremer. Er hütete sich, das laut auszusprechen, aber es mußte entweder deutlich in seinem Gesicht geschrieben stehen, oder Sendig hatte begriffen, welche Frage er mit seinen Worten implizierte, denn er fuhr nach einem kurzen Moment unaufgefordert fort: »Ich kannte Löbach, wissen Sie. Ich hatte schon einmal mit ihm zu tun, wenn auch nur indirekt. Sie übrigens auch.«

»Ich?«

Sendig nickte. »Sillmann«, sagte er. »Na, klingelt's jetzt? Die Geschichte vor sechs Jahren, in die er verwickelt war. Erinnern Sie sich?«

Ob er sich erinnerte? dachte Bremer. Sollte das ein Witz sein? Niemand, der auch nur am Rande mit dieser Geschichte, wie Sendig es genannt hatte, in Berührung gekommen war, würde sie jemals wieder vergessen. Es hatte ein paar Tote zuviel gegeben, und ein paar Antworten zuwenig. Außerdem hatte er damals Sendig kennengelernt.

»Ich erinnere mich«, sagte er. »Aber was -«

»Löbach arbeitet als Chemiker für die Sillmann-Werke«, fiel ihm Sendig ins Wort. »Wenigstens hat er das getan. Wenn ich mich allerdings hier so umsehe, frage ich mich, ob er überhaupt noch irgendwo arbeitete.«

»Die Leute hier im Haus sagen, daß er viel auf Reisen gewesen ist und offenbar Geld hatte.« Bremer warf einen übertrieben stirnrunzelnden Blick in die Runde. »Auch wenn es hier nicht so aussieht.«

»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, sagte Sendig. »Ich kenne die Gegend hier. Dieses Apartment dürfte im Monat mehr Miete kosten, als Sie verdienen.«

»Kein Wunder, daß nichts mehr für eine Putzfrau übrigblieb.«

Sendig lachte, aber es wirkte nicht besonders amüsiert. Vielleicht lag das auch an ihrer Umgebung. Löbach hatte sich mit Erfolg Mühe gegeben, diese Wohnung in einen Ort zu verwandeln, an dem jede Äußerung menschlichen Lebens - und ein Lachen vor allem - deplaciert wirkte. Der Laut durchbrach die Dunkelheit nicht, die sie umgab, sondern schien sie im Gegenteil zu betonen, und er ließ etwas wie einen schlechten Nachgeschmack zurück.

Sendig räusperte sich gekünstelt und wandte sich wieder der verschmierten Schrift an der Wand zu. »Azrael«, murmelte er zum dritten Mal. »Wenn ich nur wüßte, woher ich dieses Wort kenne. Er hat es sich in die Brust geritzt, sagen Sie?«

Konkret gesagt hatte Bremer das nicht, aber es war vielleicht nicht der passende Moment für Haarspaltereien. »Es sah so ähnlich aus«, sagte er vorsichtig. »Aber ehrlich gesagt, habe ich nicht sehr genau hingesehen. Er bot... keinen besonders schönen Anblick.«

»Es ist ein ziemlich langer Sturz nach unten.« Sendig war an diesem Abend ungewöhnlich versöhnlicher Stimmung; normalerweise wäre Bremers Eingeständnis ein guter Grund für einen Verweis gewesen und einen Vortrag darüber, daß Polizeibeamte keine Rücksicht auf ihre persönlichen Gefühle zu nehmen hatten und sie gefälligst bei Dienstantritt zusammen mit ihrer Zivilkleidung in den Spind hängen sollten. Aber vermutlich ließ etwas wie das hier nicht einmal ihn vollständig kalt. Wahrscheinlich ging Bremer auch mit sich selbst zu hart ins Gericht. Er hätte wohl eher Anlaß gehabt, sich Sorgen zu machen, wenn er bei diesem Anblick nicht ins Schleudern gekommen wäre.

Sendig zog plötzlich mit einem übertriebenen Schnüffeln die Luft durch die Nase ein, und als reiche ihm diese Imitation eines witternden Polizeihundes noch nicht, legte er auch noch den Kopf schräg. »Wonach riecht es hier eigentlich?« fragte er.

Nach Müll, dachte Bremer. Aber das war es nicht, was Sendig gemeint hatte. Er hatte Bremer mit seiner Frage erst darauf aufmerksam machen müssen, aber nun, als er es einmal getan hatte, fiel es auch ihm auf: Unter dem süßlichen Abfallgeruch war noch etwas, ein Aroma, das längst nicht so aufdringlich und nicht einmal annähernd so stark wie der Verwesungsgestank war, trotzdem aber irgendwie seinen Platz behauptete. Und das er nicht nur kannte, sondern jetzt endlich auch erkannte.

»Marzipan!« Sendig sprach es eine halbe Sekunde schneller aus, als Bremer es tun konnte. »Es riecht nach Marzipan.«

Bremer konnte nur wortlos nicken und die Lippen aufeinanderpressen. In Verbindung mit dem Müllkippengeruch, der die Wohnung erfüllte, war allein der Gedanke an etwas Eßbares ekelhaft.

Was aber nichts daran änderte, daß Sendig recht hatte - es war Marzipangeruch, der jetzt, wo sie ihn einmal identifiziert hatten, mit jedem Moment stärker zu werden schien. Und da war noch etwas: Bremer erkannte den Marzipangeruch jetzt nicht nur wieder, weil es Marzipangeruch war und man Marzipangeruch eben kannte - er hatte ihn vor ein paar Minuten erst in fast gleicher Intensität wahrgenommen und nur nicht richtig einordnen können. Unten, auf der Straße.

»Löbach!« sagte er.

Sendig starrte ihn an. »Löbach?«

»Er hat ganz genauso gerochen«, antwortete Bremer. »Ich habe es nicht erkannt, aber jetzt... Er hat so sehr nach dem Zeug gestunken, als hätte er darin gebadet.«

Sendig überlegte einige Sekunden, ehe er mit den Schultern zuckte und in bewußt beiläufigem Ton sagte: »Vielleicht hat er es ja, aber bestimmt nicht in der lackierten Badewanne dahinten.«

Bremer verzichtete diesmal darauf, so zu tun, als würde er über den Scherz lachen. Statt dessen sah er sich aufmerksam in dem kubischen Schwarzen Loch um, in das Löbach die Küche verwandelt hatte. Auch hier stapelten sich Abfälle und aufgeplatzte Tüten mit verschimmelten Lebensmittelresten gut knöchelhoch, aber die Arbeitsfläche und die Spüle waren leer, abgesehen von dem Steakmesser und der roten Tropfenspur, die es hinterlassen hatte.

Sendig öffnete der Reihe nach und auf die gleiche, übervorsichtige Art wie im Bad sämtliche Türen oder versuchte es zumindest. Die meisten waren allerdings ebenso verklebt wie die des Spiegelschrankes. Irgend jemand hätte Löbach vielleicht sagen sollen, daß es kaum einen zuverlässigeren Kleber gab als frischen Lack.

Die wenigen Türen, die sich überhaupt öffnen ließen, waren eine Enttäuschung. Sie fanden ein halbes Dutzend Teller, einige Tassen und zwei Gläser, alles seit Monaten nicht mehr benutzt, und zwei Dosen Hühnersuppe mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum.

»Viel gegessen scheint er hier in letzter Zeit nicht zu haben«, sagte Bremer. »Ich frage mich, wie jemand nach außen hin einen ganz normalen Schein wahren, aber in Wirklichkeit so leben kann.«

»So ganz normal war sein Leben nun auch wieder nicht.« Sendig rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander und roch daran. »Die Farbe ist noch nicht sehr alt. Allerhöchstens zwei, drei Tage, schätze ich. Es würde mich nicht wundern, wenn das Labor herausfindet, daß er diese ganze Verwüstung hier erst in den letzten Tagen angerichtet hat.«

Er ließ sich in die Hocke sinken und öffnete die Kühlschranktür. Auf den drei gläsernen Borden lagen ein paar vergammelte Lebensmittel - und eine Anzahl kleiner, durchsichtiger Plastikbeutel, die eine körnige weiße Substanz enthielten. Der Marzipangeruch entströmte eindeutig einem dieser Beutel, der aufgeschnitten und nicht besonders sorgfältig verschlossen worden war.

»Was ist das?« Bremer ließ sich neben Sendig in die Hocke sinken und verhielt sich, nicht zum ersten Mal an diesem Abend, nicht besonders professionell, denn er wollte die Hand nach einem der Beutel ausstrecken, aber Sendig hielt ihn zurück.

»Um Gottes willen, nicht anrühren!« sagte Sendig - nein, er keuchte es. Seine Finger umschlossen Bremers Handgelenk so fest, daß es weh tat. Schon im nächsten Moment hatte er sich wieder unter Kontrolle; er ließ Bremers Arm los und lächelte nervös.

»Tut mir leid«, sagte er.

»Aber was ist denn los?« fragte Bremer. Er rieb sich gedankenverloren das Handgelenk. Sendig hatte mit aller Gewalt zugegriffen. Er konnte jeden einzelnen seiner Finger noch immer auf der Haut spüren. »Was ist das für ein Zeug?«

»Woher soll ich das wissen?« fragte Sendig mit einer Stimme, in der schon wieder eine deutliche Spur der gewohnten Unfreundlichkeit mitschwang. »Ich wollte nicht, daß Sie es anfassen, das ist alles. Haben Sie Handschuhe dabei?«

Bremer zog ein Paar zusammengerollter Einmalhandschuhe aus der Jackentasche und reichte Sendig unaufgefordert noch eine Plastiktüte mit Clipverschluß. Sendig praktizierte die kleinen Kunststoffbeutelchen so vorsichtig hinein, daß er seiner Behauptung, nichts über ihren Inhalt zu wissen, damit auch noch den letzten Rest von Glaubwürdigkeit nahm. Er verschloß die Tüte pedantisch, verstaute sie in der Manteltasche und schob die Kühlschranktür zu, ehe er aufstand.

»Aber Sie wissen nicht, was das für ein Zeug ist, wie?« fragte Bremer spöttisch. Sowohl die Frage als auch erst recht der Ton, in dem er sie stellte, wären unter normalen Umständen eine glatte Unverschämtheit gewesen. Aber das hier war nun einmal nicht normal - und Sendig war entweder viel zu perplex über seinen unerhörten Ton oder selbst zu schockiert, um entsprechend darauf zu reagieren. Er sah Bremer nur einen Moment nachdenklich an, dann sagte er kühl: »Nein, ich weiß tatsächlich nicht, um welche Substanz es sich handelt, Herr Polizeiobermeister. Ich halte es nur für prinzipiell angeraten, vorsichtig zu sein.«

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Bremer, »ich wollte nicht -«

Sendig winkte ab. »Schon gut. Wir sind wohl beide ein bißchen nervös, schätze ich. Das beste wird sein, wir bringen das Zeug morgen früh ins Labor und überlassen es denen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, die dafür bezahlt werden.«

Bremer sagte nichts mehr. Er gestattete sich nicht einmal, sich zu ärgern. Er war hier mit Sendig zusammen, der wohl nicht ganz umsonst einen gewissen Ruf besaß. Was hatte er erwartet?

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