Er war schließlich doch noch eingenickt und wurde erst wach, als der Zug die Endstation erreichte. Seine vielleicht etwas vorschnell gefaßte Meinung über den Kellner revidierte er in Form eines Zehnmarkscheines, den er als Trinkgeld neben seiner Tasse zurückließ; immerhin hatte der Mann ihn schlafen lassen, obwohl dies der Speisewagen und er gerade zur Frühstückszeit sicher knapp an Plätzen war. Und das war ganz und gar nicht selbstverständlich.
Marks Traum war nicht wiedergekommen, was ihn einigermaßen beruhigte. Es war wohl doch nur ein Traum gewesen, ein ganz besonders scheußlicher Traum vielleicht, aber trotzdem nicht mehr. Was erwartete er nach einer Nacht wie der, die hinter ihm lag? Streß, Aufregung, Furcht, dazu kam, daß er seit annähernd vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte, so daß sein Blutzuckerspiegel gegen Null tendieren mußte... Er hatte sich ja geradezu darauf programmiert, Alpträume zu haben!
Mark verließ als einer der letzten Fahrgäste den Zug und eilte zu den Taxiständen vor dem Bahnhof. Es gab noch einmal eine kurze peinliche Erinnerung an die vergangene Nacht, als er die Frau aus seinem Abteil wiedersah, die behauptet hatte, bei der nächsten Station aussteigen zu müssen. Aber Mark war diplomatisch genug, so zu tun, als erkenne er sie nicht, und sie verlegen genug, das Spiel mitzuspielen und hastig in einem Taxi zu verschwinden. Mark wartete, bis es abgefahren war, ehe er selbst einen zweiten Wagen herbeiwinkte und auf dem Beifahrersitz Platz nahm, sehr zur Verstimmung des Fahrers übrigens, der mit demonstrativ zur Schau getragenem Unmut ein Sammelsurium aus Zeitungen, Papieren, Zigarettenschachteln und einem zerlesenen Stadtplan nach hinten schaufelte, damit er sich setzen konnte.
»Wo soll's hingehen?«
Mark fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen und versuchte einen Moment lang vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken, ehe er seine Adresse nannte - eigentlich aus einem reinen Reflex heraus, nicht weil er wirklich nach Hause wollte. Er hatte Prein zwar versprochen, es zu tun, aber irgendwie hatte er sich die ganze Nacht hindurch erfolgreich davor gedrückt, wirklich darüber nachzudenken. Nach Hause... Was hieß das eigentlich? Die Adresse, die er dem Taxifahrer genannt hatte, war es jedenfalls nicht. Es war ein Haus in einer der vornehmeren Gegenden der Stadt, die Adresse, unter der er gemeldet war und wo er auch ein Zimmer hatte und den allergrößten Teil seines persönlichen Besitzes. Aber sein Zuhause war es nicht. Mark versuchte zwar noch eine Weile, sich gegen die Erkenntnis zu wehren, aber es blieb wohl dabei: Das einzig wirkliche Zuhause, das er in den letzten Jahren gehabt hatte, war das Internat.
»Ich habe es mir überlegt«, sagte er plötzlich. »Fahren Sie raus zum Institut.«
Der Fahrer warf einen schrägen Blick auf das Taxameter, das wunderbarerweise bereits einen Fahrpreis von etwa acht Mark anzeigte, obwohl sie gerade erst losgefahren waren, dann auf seinen Fahrgast und fragte: »Was für ein Institut?«
»Das St.-Eleonor-Stift«, antwortete Mark. »Ich weiß nicht, wie die Straße heißt.«
»Die Klapsmühle, meinen Sie? Kein Problem. Ist aber ein ziemlich weiter Weg. Das wird nicht ganz billig.«
Mark seufzte. Er mußte dringend etwas an seiner Aufmachung ändern. Allmählich wurde es lästig, jedermann und ständig beweisen zu müssen, daß er nicht so war, wie er aussah. Mit einer ärgerlichen Bewegung zog er seine Geldbörse heraus, entnahm ihr einen Fünfziger und reichte ihn dem Fahrer. »Das sollte wohl reichen. Und ich ziehe den Ausdruck Nervenklinik vor.«
Der Mann strich den Geldschein ein und war klug genug, nichts mehr zu sagen, sondern sich zumindest für die nächsten Minuten ganz darauf zu konzentrieren, den Mercedes durch den einsetzenden Berufsverkehr zu manövrieren. Die Anzahl der Wagen, die auf der Straße waren, überraschte Mark. Er wußte, daß die Stadt sich verändert hatte und immer noch veränderte, aber die Schnelligkeit dieses Wandels verblüffte ihn jedesmal. Sein ruppiges Auftreten hatte dafür gesorgt, daß der Fahrer nicht mehr versuchte, Kilometer zu schinden, sondern den kürzesten Weg zu ihrem Ziel einschlug, aber sie kamen trotzdem kaum von der Stelle. Andererseits war er bisher auch noch nie zu dieser Uhrzeit hier angekommen, sondern meistens an einem Samstag- oder Sonntagabend, an dem die Straßen einen radikal anderen Anblick boten. Vielleicht veränderte sich seine Umwelt gar nicht immer schneller, sondern er hatte nur aufgehört, diese Veränderungen wahrzunehmen.
Er sah auf die Uhr. Wenn Prein Wort gehalten hatte, dann wußte sein Vater noch nicht, daß er in der Stadt war, sondern würde es in frühestens zwei oder drei Stunden erfahren. Mark hätte es im Grunde gleich sein können, aber das war es nicht. Wenn sein Vater wußte, daß er in der Stadt war, ohne direkt nach Hause zu kommen, dann würde er auch wissen, wo er war - und das machte einen großen Unterschied. Mark war nicht oft im St.-Eleonor-Stift, aber jedesmal, wenn er es tat, war ihm der Unterschied deutlicher aufgefallen: Irgend etwas war anders, wenn sein Vater wußte, daß er dort war.
Der Verkehr nahm ein wenig ab, als sie aus dem Zentrum heraus waren, und schließlich fuhren sie auf die Stadtautobahn. Zwanzig Minuten später bog das Taxi von der Straße ab und rollte, langsamer werdend, die Zufahrt des Stifts hinauf, um schließlich direkt vor dem Haupteingang zu halten.
Ein banges Gefühl begann sich in Mark breitzumachen. Er fühlte sich nie gut, wenn er hierherkam, das tat niemand. Und es war eine der großen Absurditäten von Orten wie diesem: Sie dienten dem erklärtermaßen einzigen Zweck, Menschen zu helfen und Leid zu lindern, und doch riefen sie bei allen, die sie betraten, die genau gegenteiligen Gefühle wach - nämlich Unwohlsein und Beklemmung, und nur allzuoft Furcht.
Aber all dies kannte er. Heute war es anders. Schlimmer. Irgend etwas war hinzugekommen. Vielleicht etwas, das er aus seinem Traum mitgebracht hatte.
Mark wurde plötzlich klar, daß er jetzt schon fast eine geschlagene Minute dasaß und die Treppe vor dem gewaltigen Eichenholzportal anstarrte. Hastig öffnete er die Tür und schwang die Beine aus dem Wagen, wandte sich aber dann noch einmal an den Fahrer. »Es wird nicht sehr lange dauern - vielleicht eine halbe Stunde. Wenn Sie wollen, können Sie warten. Ich muß dann zurück in die Stadt.« Er zögerte einen Moment, dann fügte er hinzu: »Sie können die Uhr laufen lassen.«
»Kein Problem.«
Mark stieg endgültig aus und begann, langsamer als nötig, die Treppe hinaufzugehen. Sein Blick tastete über die durchbrochene Fassade und blieb schließlich an den beiden lebensgroßen Engelsfiguren über der Tür hängen.
Vielleicht war es das. Er hatte diese Statuen nie besonders gemocht. Ihre barocke Wucht und ihre strengen Gesichter schienen viel mehr dazu angetan, Besucher abzuschrecken, als Vertrauen zu verbreiten. Und heute kam noch etwas dazu: Die beiden Figuren erinnerten ihn an den Engel aus seinem Traum.
Ein Mann in weißem Kittel verließ eilig die Klinik. Mark wollte die sich vor ihm schließende Tür noch erreichen.
Er war nicht schnell genug. Das Portal schlug zehn Zentimeter vor seinem Gesicht mit einem schweren Laut zu. Er streckte die Hand nach dem Bronzegriff aus, drückte ihn nieder und mußte sich wie immer ziemlich anstrengen, um die Tür zu öffnen. Ein weiteres Rätsel, das er niemals lösen würde: Wenn dies ein Krankenhaus war, warum war das Portal dann eigentlich so schwer, daß selbst ein gesunder Mensch seine liebe Mühe hatte, es aufzubekommen?
Mark betrat die Eingangshalle und wandte sich nach rechts, während die Tür hinter ihm langsam zufiel. Ein vornehmes Schweigen empfing ihn, und wie jedesmal, wenn er hierherkam, wunderte er sich für einen kurzen Moment, daß so gar nichts an dieser Halle darauf hinwies, was sich in diesem Gebäude wirklich verbarg. Es hätte die Eingangshalle eines Museums sein können oder eines teuren Hotels, nur eines nicht, eine - wie hatte der Taxifahrer es genannt? - Klapsmühle. Andererseits konnte man das von einem Etablissement dieser Preisklasse auch erwarten. Sein Vater ließ sich seine Freiheit eine Menge kosten.
Mark steuerte das einzige an, was die Illusion vielleicht ein bißchen störte, nämlich den in schlichtem Teakholz gehaltenen Empfangsschalter, hinter dem zwei Computermonitore und eine Schwester in einer blütenweißen Tracht Wache hielten. Da er seit einigen Jahren regelmäßig hierherkam, kannte er einen Großteil des Personals. Diese Schwester gehörte jedoch nicht dazu. Mark schätzte, daß sie ein oder zwei Jahre jünger war als er. Wahrscheinlich arbeitete sie noch nicht lange hier.
»Guten Morgen«, begrüßte sie ihn. »Was kann ich für Sie tun?« Ihr Blick glitt rasch und taxierend über sein Gesicht und seine Kleidung, aber sie beherrschte sich perfekt. Mark konnte auf ihrem Gesicht nicht ablesen, zu welchem Schluß sie kam.
»Mein Name ist Sillmann«, antwortete Mark. »Mark Sillmann. Ich möchte meine Mutter besuchen.«
Ein Ausdruck von leiser Verblüffung zeigte sich auf dem durchaus hübschen Gesicht unter dem weißen Häubchen. »Ihre Mutter?«
»Erika Sillmann«, bestätigte Mark. »Sie ist Patientin hier.«
Die Finger der Schwester huschten geschickt über die Computertastatur, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht begann zwischen Verwirrung und Ratlosigkeit zu schwanken. »Hatten Sie einen Termin, Herr Sillmann?«
»Nein«, antwortete Mark. Er wußte, was nun unweigerlich folgen würde, aber er war müde und nicht unbedingt allerbester Laune, und er hatte verdammt noch mal keine Lust, sich mit einer Lernschwester herumzustreiten, ganz egal wie freundlich oder hübsch sie auch sein mochte, und so fuhr er in hörbar schärferem Ton fort: »Und ehe Sie es sagen: Ich weiß auch, wie spät es ist und daß die offizielle Besuchszeit erst in ein paar Stunden anfängt. Aber ich komme gerade vom Bahnhof. Ich bin die ganze Nacht gefahren, und ich habe meine Mutter seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Und ich muß sie wirklich dringend sprechen. Verstehen Sie?«
Das war eindeutig die falsche Taktik. Schwester Beate - wie das dezente Namensschild an ihrer Tracht verriet - mochte noch ziemlich jung sein, aber sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich so leicht einschüchtern ließen. Jeder Ausdruck verschwand von ihrem Gesicht. Sie wirkte nur noch kühl und kein bißchen verunsichert.
»Herr Sillmann, das hier ist ein Krankenhaus«, sagte sie. »Unsere Patienten brauchen vor allem -«
»Hören Sie, Schwester Beate«, unterbrach sie Mark. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, und Sie haben vollkommen recht damit. Aber ich habe es auch wirklich eilig. Wir können uns jetzt also eine Weile streiten und vielleicht ein bißchen laut werden, und jeder von uns könnte eine Menge Dinge sagen, die er eigentlich gar nicht so meint und die ihm gleich darauf schon wieder leid tun, das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist, daß Sie jetzt den Telefonhörer nehmen und Professor Artner anrufen und ihm sagen, daß der Sohn von Gustav Sillmann hier ist und darum bittet, seine Mutter besuchen zu dürfen.«
»Professor Artner ist... im Moment nicht hier«, antwortete sie, eindeutig überrascht, aber auch ein bißchen erschrocken. Sie schien nicht damit gerechnet zu haben, daß Mark den Chefarzt der Klinik persönlich kannte. Das war im Grunde auch nicht der Fall. Er hatte Artner ein einziges Mal getroffen und sich vielleicht zehn Minuten mit ihm unterhalten, aber er wußte, daß sein Vater und er sich gut kannten, und baute einfach darauf, daß die bloße Erwähnung des Namens seiner Forderung den nötigen Nachdruck verlieh.
»Dann eben den zur Zeit diensthabenden Arzt«, sagte er.
Diesmal ging seine Rechnung auf. Schwester Beate blickte ihn noch eine Sekunde verstört an, aber dann streckte sie die Hand nach dem Telefon aus und sagte: »Ganz wie Sie wünschen. Bitte gedulden Sie sich einen Moment. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.«
Sie tippte eine dreistellige Nummer ein und lauschte, und Mark trat einen Schritt von der Theke zurück, um sie nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen, sich selbst übrigens auch. Er fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut, und schon gar nicht in der Rolle, die er plötzlich spielte. Wenn Prein ihn jetzt sehen könnte, dachte er, würde sich wahrscheinlich ein selbstzufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreiten. Tat er nicht genau das, was er ihm prophezeit hatte? Er schrie Protest und Widerstand, er behauptete, nichts von alledem haben zu wollen, was ihm das Schicksal als Geschenk mitgegeben hatte, und doch nutzte er das Gewicht seines Namens - genauer gesagt: des seines Vaters - und vor allem das seines Geldes aus, um ein Ziel zu erreichen. Und das schon bei der ersten kleinen Schwierigkeit, die sich zeigte. ›Die dunkle Seite der Macht‹, wie Darth Vader es wohl ausdrücken würde. Es war tatsächlich leicht, ihrer Verlockung zu erliegen.
Vor allem, wenn man müde, hungrig und vollkommen verstört war.
Die Schwester telefonierte eine ganze Weile, und obwohl Mark ganz bewußt nicht hinhörte, sagte ihm doch ihr Tonfall, wie sehr sie das überraschte, was sie erfahren mußte. Schließlich hängte sie ein und wandte sich mit einem Blick an Mark, in dem sich Verwirrung und eine Art widerwilliger Respekt miteinander mischten. »Sie können Ihre Mutter sehen. Wenn Sie sich nur noch einen Moment gedulden würden. Einer der Pfleger wird Sie zu ihr bringen.«
»Selbstverständlich«, sagte Mark. Er bemühte sich, so freundlich zu lächeln, wie es gerade noch ging, ohne aufgesetzt oder gar schadenfroh zu wirken. »Und nichts für ungut, okay?«
Er bekam keine Antwort. Er hatte damit gerechnet, aber es enttäuschte ihn trotzdem. Innerhalb weniger Stunden war es jetzt das zweite Mal, daß er bei einem vollkommen fremden Menschen einen unangenehmen Eindruck hinterlassen hatte - und übrigens auch das zweite Mal, daß ihm dies mehr zu schaffen machte, als es eigentlich sollte. Bisher zumindest verlief der Start in sein neues, selbstbestimmtes Leben ganz und gar nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.