13. Kapitel

»Warum muß es eigentlich immer so sein?« fragte Bremer. »Hat denn plötzlich niemand mehr den Anstand, Schlaftabletten zu nehmen, sich zu erschießen oder wenigstens ins Wasser zu gehen?«

»Ich finde das nicht komisch«, sagte Sendig. Unter normalen Umständen hätte allein die Schärfe in seiner Stimme ausgereicht, Bremer zu alarmieren. Aber jetzt hob er nicht einmal den Blick, sondern sagte nur sehr leise und sehr ernst: »Es war auch nicht witzig gemeint. Aber ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertrage. Auch ich habe nur Nerven, wissen Sie.«

Und die liefen im Moment beinahe Amok - zumindest die in seinem Magen und einigen anderen, tiefergelegenen Innereien. Dabei war der Anblick des Toten nicht einmal annähernd so schlimm wie der Löbachs in der vergangenen Nacht. Was ihn trotzdem beinahe schlimmer machte, war, daß er ihm ähnelte und Bremer wieder an das zerschmetterte blutige Etwas erinnerte, das zwischen Hansen und ihm auf dem Straßenpflaster gelegen hatte. Der Anblick von Mogrods Leichnam machte die Erinnerung an Löbach wieder lebendig und gab ihr eine Realität, die ihr nicht zustand.

»Beherrschen Sie sich«, sagte Sendig noch einmal - und er sagte es nicht nur überraschend sanft, sondern fügte nach einem kaum merklichen Zögern etwas noch viel Überraschenderes hinzu - zumindest für jeden, der ihn kannte: »Wenigstens so lange, wie wir nicht alleine sind. Sie tragen Uniform.«

Er atmete hörbar ein, ehe er sich mit einem sichtlichen Ruck vom Anblick des Toten losriß und herumdrehte. »Kommen Sie, Bremer. Sehen wir uns die Wohnung dieses Herrn Mogrod an.«

War es schon seine bisher ungewohnt großmütige Stimmung gewesen, die Bremer alarmiert hatte, so nun spätestens die Art, auf die Sendig Mogrods Namen aussprach. Es war nicht irgendein Name. Er bedeutete etwas für Sendig, und ganz offensichtlich erwartete er, daß er das für ihn ebenso tat. Während er Sendig über die abgesperrte Straße zum Haus hin folgte, kramte er angestrengt in seinen Erinnerungen. Aber da war nichts. Er hatte sich den Toten sehr genau angesehen, und anders als gestern abend gab es hier nichts, was er hätte wiedererkennen können. So war er sehr sicher, diesen Mann noch nie im Leben gesehen zu haben, und er hatte auch seinen Namen noch nie gehört; wenigstens nicht in einem Zusammenhang, der des Erinnerns wert gewesen wäre. Und was diese Gegend hier betraf ...

Bremer warf einen raschen Blick in die Runde. Die Straße gehörte nicht zu seinem Revier, und schon gar nicht zu den Gegenden, in denen er sich aufzuhalten pflegte, wenn er nicht im Dienst war. Die Ähnlichkeit zwischen Löbachs und Mogrods Tod war nicht total - die Regie mochte die gleiche sein, aber die Kulissen waren so verschieden, wie sie nur sein konnten. Das Haus, aus dessen Fenster sich Mogrod gestürzt hatte, als schäbig zu bezeichnen, wäre noch geschmeichelt gewesen. Es war eine bessere Ruine - nein, keine bessere, es war eine Ruine. Falls es jemals einen Anstrich erlebt hatte, war er längst zusammen mit dem größten Teil des Putzes in Staub aufgegangen; unter dem ungleichmäßigen Lochmuster kam grauer Ziegelstein zum Vorschein, in dem der Schwamm nistete. Die Fenster begannen herauszufaulen, und zumindest im Erdgeschoß mußten wohl einige Wohnungen leerstehen; es sei denn, ihre Bewohner liebten es, ohne Scheiben zu leben. Als sie das Haus betraten, schlug ihnen ein muffig-feuchter Geruch entgegen, der ihnen im ersten Augenblick fast den Atem nahm.

»Hübsch, nicht?« fragte Sendig.

»Ja«, antwortete Bremer. »Wie gut, daß ich nicht bei der Baupolizei bin. Wäre ich es, hätte ich jetzt für einen Monat zusätzliche Arbeit.«

»Mindestens«, pflichtete ihm Sendig bei. »Das sieht nicht gerade so aus wie das Haus, in dem Löbach gewohnt hat, finden Sie nicht?«

»Wieso?« fragte Bremer. Er sah Sendig scharf an, aber sein Gesicht verriet nichts, außer einem Ausdruck leiser Konzentration, den ihm die Anstrengung abverlangen mochte, die knarrenden Holzstufen hinaufzueilen. Selbst Bremer spürte nach der zurückliegenden Nacht jede einzelne Stufe, die sie hinaufgingen, und immerhin war Sendig gute zehn Jahre älter als er und hatte seit gut zwanzig Jahren einen Schreibtischjob.

»Weil es eigentlich so sein sollte«, antwortete Sendig mit bedeutsamer Verzögerung.

»Und warum?«

Sie hatten den ersten Stock erreicht. Vor ihnen lag ein kurzer, schmuddeliger Flur mit insgesamt vier Türen. Alle standen offen, und ein gutes Dutzend Gesichter starrte sie neugierig an - jedenfalls so lange, bis Bremer weit genug ins Licht trat, daß man seine grüne Uniformjacke erkennen konnte. Dann verschwanden zwei oder drei der gaffenden Gestalten hastig. Eine Tür wurde mit einem Knall zugeschlagen, und ein Viertel des Lichtes verschwand. Bremer sah automatisch hoch und erkannte, daß es keine Flurbeleuchtung gab - wo die Lampe hängen sollte, kräuselten sich nur zwei abgerissene Drahtenden aus der Decke, Was für eine fürchterliche Bruchbude!

»Was haben Löbach und dieser Mogrod miteinander zu tun?« fragte er, nachdem sie das Ende des Korridors erreicht hatten und die Treppe zum zweiten Stockwerk in Angriff nahmen. In welcher Etage hatte Mogrod gewohnt? Der vierten oder fünften?

»Nun, zum einen, daß sie tot sind«, antwortete Sendig kurzatmig. »Der Name sagt Ihnen wirklich nichts?«

Bremer schüttelte den Kopf und sparte sich den Atem, laut zu antworten.

»Schade«, sagte Sendig. »Ich hatte gehofft, daß Sie sich erinnern. Aber möglicherweise haben Sie ihn damals ja gar nicht kennengelernt.«

»Wen?« fragte Bremer betont. »Diesen Mogrod? Wer war er?«

»Eine Ratte«, antwortete Sendig. »Ein Fotoreporter - jedenfalls nannte er sich selbst so. Aber nicht unbedingt eine Zierde seines Berufsstandes. Ich konnte den Kerl nicht ausstehen. Schon vorher nicht.«

Damit hatte Mogrod sich wahrscheinlich in der Gesellschaft des allergrößten Teiles der übrigen Menschheit befunden, dachte Bremer. Er gab sich ja alle Mühe, Sendig irgend etwas Positives abzugewinnen, aber es gelang ihm immer weniger. Sendig hatte Mogrod nicht leiden können? Und? Bremer bezweifelte mittlerweile allen Ernstes, daß Sendig sich selbst leiden konnte. Sie erreichten das zweite Stockwerk, und als sie die dritte Treppe hinaufgingen, fragte Sendig unvermittelt: »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen heute morgen erzählt habe? Daß damals nach der Geschichte mit Sillmann eine Menge Leute plötzlich Karriere gemacht haben?«

Wie du selbst? »Ja.«

Sendig sah ihn an, als hätte er seine Gedanken gelesen, runzelte vielsagend die Stirn und fuhr in hörbar kühlerem Ton fort: »Mogrod gehörte dazu.«

»Mogrod?« Bremer wäre vor Überraschung stehengeblieben, wäre ihm nicht im allerletzten Moment die Erkenntnis gekommen, daß ein Innehalten nur eine unnötige zusätzliche Verzögerung bedeuten würde.

»Mogrod«, bestätigte Sendig. »Ich weiß, es sieht nicht so aus, aber damals war er ganz oben. Für eine Weile wenigstens. Aber ich schätze, ihm ist die Höhenluft nicht bekommen. Scheint, als wäre er zweimal ziemlich tief gefallen. Das erste Mal vor drei oder vier Jahren.«

»Hm«, machte Bremer. Sendigs aufgesetzte Wortspielchen gingen ihm allmählich auf die Nerven. »Sie meinen, er hat es nicht geschafft.«

»Genau das meine ich«, bestätigte Sendig. »Eine Weile war er die Nummer eins. Die besten Aufträge, gutes Geld - und ich schätze, jemanden, der die Hände über ihn gehalten hat.«

»Und dann?« fragte Bremer.

»Keine Ahnung«, behauptete Sendig. Sie durchquerten einen weiteren schummerigen Flur, auf dem es zwar eine Beleuchtung gab, aber keine offenstehenden Türen mehr, so daß es fast dunkler war als unten. Aus einer der Wohnungen, an denen sie vorüberkamen, drang ein solches Geschrei, daß Bremer ganz automatisch im Schritt innehielt und wahrscheinlich geklingelt hätte, hätte ihn Sendig nicht mit einem spöttischen Blick und einer entsprechenden Geste davon abgehalten. Wieder auf der Treppe, setzte er den angefangenen Satz fort, als hätte es gar keine Unterbrechung gegeben:

»Ich habe ihn aus den Augen verloren, wenigstens für eine Weile. Aber man hört ja das eine oder andere. Ich schätze, es war die normale Geschichte. Alkohol, Frauen, Angabe... Sie kennen das. Eine Ratte bleibt eine Ratte, auch wenn Sie sie in einen Maßanzug stecken. Irgendwann kehrt sie ganz von selbst dorthin zurück, wo sie hingehört.«

Bremer zog es vor, nichts dazu zu sagen. Sendigs Worte machten ihn zornig. Er hatte diesen Mogrod nicht gekannt, aber es machte ihn einfach wütend, daß er so über ihn sprach. Ganz egal, was er getan hatte oder nicht, er lag jetzt tot drei - nein, mittlerweile fast vier - Stockwerke unter ihnen auf der Straße, und das sollte genügen, ihm ein Mindestmaß an Respekt entgegenzubringen. Statt direkt auf Sendigs Worte einzugehen und über Mogrod zu reden, fragte er betont: »Finden Sie nicht, daß es langsam an der Zeit wäre, mir zu erklären, was damals wirklich passiert ist?«

Sendig blieb drei Stufen vor Erreichen des vierten Stockwerkes stehen und sah ihn lange genug durchdringend an, daß Bremer in Gedanken bis drei zählen konnte. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein. Noch nicht.«

Es fiel Bremer jetzt wirklich schwer, sich noch zu beherrschen. Er wußte auch gar nicht mehr, ob er es wirklich noch wollte. »Noch nicht?« wiederholte er. »Und wann ist noch vorbei?«

»Wenn ich Gewißheit habe«, antwortete Sendig.

»Gewißheit worüber?«

Sendig lächelte matt. »Zum Beispiel, ob ich diese verdammte Treppe jemals schaffe, ohne einen Herzinfarkt zu erleiden. Kommen Sie, Bremer. Endspurt.«

Er ging weiter, die ersten Schritte so schnell, als wollte er tatsächlich einen Endspurt einlegen, so daß Bremer gar nicht dazu gekommen wäre, ihn festzunageln, auch wenn er es versucht hätte. Aber vermutlich hätte ihm sowieso der Atem dafür gefehlt. Die letzte Nacht forderte immer nachdrücklicher ihren Preis. Sein Herz jagte, als hätte er eine Stunde Freihand klettern hinter sich, als sie endlich das Dachgeschoß erreichten.

Mogrods Wohnung lag hinter einer von nur zwei Türen, die es hier oben gab. Beide standen offen, so daß Bremer erkennen konnte, daß die andere Hälfte des Dachstuhles nicht ausgebaut, sondern einfach ein großer, mit Gerumpel und - dem Geruch nach zu schließen - Abfällen vollgestopfter Raum war. Schatten bewegten sich in dem fensterlosen Raum, und die Geräusche, die er hörte, machten ihm klar, daß seine Kollegen offensichtlich damit beschäftigt waren, den Speicher zu durchsuchen. Wonach? Und warum eigentlich, wenn es sich tatsächlich um einen so klaren Fall von Selbstmord handelte, wie Sendig auf dem Weg hierher behauptet hatte?

Sendig blieb schwer atmend auf der letzten Stufe stehen, wischte sich mit dem Jackenärmel den Schweiß von der Stirn und sagte: »Scheint, als hätte ich dem verstorbenen Herrn Mogrod doch unrecht getan. Ich kann mir jedenfalls keine Penthouse-Wohnung leisten.«

»Ungeheuer komisch«, murmelte Bremer. »Sobald ich wieder genug Luft habe, lache ich darüber.«

Sendig warf ihm einen schrägen Blick zu, aber er sparte sich die Antwort und ging weiter. Er wirkte plötzlich sehr angespannt, fand Bremer, auf eine Art, die nicht allein an den fünf Treppen liegen konnte, die sie hinaufgegangen waren. Hätte er es nicht besser gewußt, hätte er geschworen, daß er vor irgend etwas Angst hatte.

Dicht hinter Sendig betrat er Mogrods Wohnung und stellte eine weitere Parallele zu der Szene aus der vergangenen Nacht fest: Das Apartment des Journalisten war zwar nicht schwarz angemalt wie das Löbachs, aber beinahe ebenso verwüstet. Ein Großteil der ohnehin spärlichen Möblierung war zertrümmert oder umgeworfen, und überall lag zerbrochenes Glas. Und was die erste Welle der Zerstörung überstanden hatte, das bemühten sich jetzt mindestens ein Dutzend von Bremers Kollegen endgültig zu verheeren. Bremer identifizierte mit nicht geringem Erstaunen gleich zwei Teams der Spurensicherung und sieben oder acht seiner uniformierten Kollegen, die buchstäblich jedes Staubkorn umdrehten.

»Was ist denn hier los?« murmelte er. »Reicht die gesamte Spurensicherung nicht mehr?«

Sendig lächelte flüchtig. »Es hat gewisse Vorteile, wenn man der Chef ist«, sagte er, zögerte einen halben Atemzug lang und fügte dann mit hörbarer Betonung und einem noch sehr viel unmißverständlicheren Blick in Bremers Richtung hinzu: »Zum Beispiel, daß niemand dumme Fragen stellt. Warten Sie hier. Es dauert wahrscheinlich nicht lange.«

Das war Bremer nur recht. Er wußte nicht, wie lange er Sendigs Art noch ertragen hätte, ohne etwas zu sagen, was ihm wirklich leid tun würde. Er trat nur einen Schritt zur Seite, um die Tür freizugeben, und nutzte die Zwangspause zu einem zweiten, aufmerksameren Blick in die Runde.

Was er sah, das ließ ihn plötzlich gar nicht mehr so überzeugt davon sein, sich tatsächlich am Schauplatz eines Suizids zu befinden. Es sah sehr viel mehr nach einem Kampf aus, fand Bremer. Es war jetzt schwer zu sagen, was von der unvorstellbaren Unordnung auf Mogrods Konto ging und was auf das der Beamten der Spurensicherung, die sich gleich sechs Mann hoch im Weg standen und so eifrig fotografierten, pinselten, einsammelten und begutachteten, daß Bremer nur noch den Kopf schütteln konnte. Sendig täuschte sich, wenn er glaubte, daß niemand dumme Fragen stellen würde. Man würde sie nicht besonders laut stellen, aber das war auch schon alles. Trotzdem - Polizeibeamte pflegten weder Glastische zu zertrümmern, noch Bilder von den Wänden zu reißen oder Scheiben einzuschlagen, und das war nur ein Teil der Verwüstung, die er sah. Wenn es hier keinen Kampf gegeben hatte, dann mußte der Journalist vor seinem Sprung aus dem Fenster regelrecht Amok gelaufen sein.

Wie Löbach.

Der Gedanke löste irgend etwas in ihm aus, das ihn schaudern ließ. Es war keine Furcht, sondern eine Art von... Unbehagen, die ihm vollkommen fremd war und auf ihre Art beinahe schlimmer als Angst. Ganz plötzlich glaubte er Sendig sehr viel besser zu verstehen als noch vor ein paar Augenblicken. Es gab eine Verbindung zwischen Löbach und Mogrod. Und sie bestand aus weit mehr als der bloßen Tatsache, daß beide tot waren. Vielleicht war es nicht einmal Zufall, daß sie beide auf die gleiche Weise gestorben waren.

Bremer ertappte sich dabei, ganz instinktiv die Wände abzusuchen, aber so weit ging die Parallele nun doch nicht. Es gab keine Blutschrift, nur eine Reihe fettiger Schmutzflecke und fünf oder sechs großformatige Schwarzweißfotos, die, in schlichte Glasrahmen gefaßt, neben der Tür hingen.

Als Bremer sie betrachtete, begann er ein bißchen besser zu verstehen, was Sendig vorhin gemeint haben mochte, als er über Mogrod sprach. Sie zeigten unterschiedliche Motive, hatten aber allesamt das gleiche Thema. Auf einem war ein offensichtlich totes Kind zu sehen, das im Schlamm lag und von Ratten angefressen worden war, auf einem anderen ein brennendes Haus, aus dem Menschen stürmten. Zwei davon brannten ebenfalls. Ein drittes Bild zeigte eine Luftaufnahme einer Massenkarambolage auf der Autobahn - und so weiter. Bremer verspürte ein kurzes, heftiges Frösteln. Er verstand zuwenig vom Fotografieren, um zu sagen, ob diese Bilder nun gut oder schlecht waren - wahrscheinlich waren sie gut -, aber er fragte sich, was für ein Mensch sich solche Fotografien in sein Wohnzimmer hängte.

»Hübsch, nicht?«

Bremer fuhr unmerklich zusammen, wandte den Kopf und blickte ins Gesicht eines jungen Polizeibeamten. Er sah ihm nicht einmal ähnlich, aber er erinnerte ihn an Hansen, und offensichtlich spiegelten sich seine Gefühle sehr deutlich auf seinem Gesicht wieder, denn der andere wirkte plötzlich regelrecht erschrocken.

»Finden Sie?« fragte Bremer.

»Das... war natürlich nicht ernst gemeint«, versicherte der junge Beamte hastig. Er versuchte, sich in ein verlegenes Lächeln zu retten, das seine Unsicherheit aber eher noch unterstrich. »Der... der Kerl muß einen ganz schönen Sprung in der Schüssel gehabt haben, schätze ich. Wie kann man sich nur so etwas an die Wand hängen. Da unten liegt noch mehr von dem Zeug.«

Er deutete auf eine Anzahl zerborstener Glasrahmen, deren Scherben rings um die Tür herum auf dem Boden verstreut lagen. Bremer hatte eigentlich schon vom Anblick der Bilder an der Wand genug, ging aber trotzdem in die Knie, um einige der Fotos zu begutachten. Es war eine getreuliche Fortsetzung der Horrorgalerie, die neben der Tür hing, und mindestens eines davon war noch schlimmer: Es zeigte eine junge Frau, die vor einem Panzer davonlief.

Bremers Hände begannen ganz leicht zu zittern, während er das Foto betrachtete. Irgend etwas daran... erschreckte ihn. Dieses Foto war gut, das erkannte selbst er, aber es strahlte neben der ungeheuren Dramatik des Motives an sich noch etwas aus, das gar nicht wirklich sichtbar war, aber spürbar da. Vielleicht lag es einfach an dem Winkel, in dem es aus dem zerbrochenen Rahmen herausgerutscht und im unteren Drittel geknickt war, vielleicht hatte der Fotograf - Bremer wußte einfach, daß es Mogrod selbst gewesen war - auch einen besonderen Trick angewandt, aber gleich, warum: Das Bild besaß eine enorme Dynamik. Es gehörte nicht mehr sehr viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß der Panzer im nächsten Augenblick zum Leben erwachen und klirrend aus dem Bild herausrumpeln würde.

»Das muß die Kiste sein, die hier alles kurz und klein gewalzt hat«, sagte der junge Polizeibeamte. Bremer sah hoch, blickte ihn gerade lange genug an, um sein linkisches Lächeln vollends zum Erlöschen zu bringen, und richtete sich dann mit einer ruckhaften Bewegung wieder auf. Sein Fuß stieß gegen eine Glasscherbe. Das Klirren hörte sich an wie das Rasseln ferner Panzerketten.

»Ja«, sagte er. »Es sieht wirklich so aus. Was ist hier eigentlich passiert?« Er machte eine fragende Handbewegung. »Ist es sicher, daß es Selbstmord war?«

»Scheint so«, antwortete der andere. Er wirkte jetzt sehr nervös, aber auch ein bißchen angespannt. Er sah Bremer nicht an, während er antwortete, sondern betrachtete scheinbar interessiert die Bilder hinter ihm. »Jedenfalls gibt es einen Zeugen, der gesehen hat, wie er gesprungen ist. Sagt er wenigstens. Wenn er die Wahrheit sagt, dann hat er Schreie und Lärm gehört und ist hochgerannt, um nach dem Rechten zu sehen. Schließlich hat er die Tür eingeschlagen - gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich dieser Fotograf durch das geschlossene Fenster stürzt.«

Er zuckte mit den Schultern und maß Bremer mit einem fragenden Blick. »Ich habe nicht alles mitbekommen, aber ich glaube, es sieht nicht nach Fremdeinwirkung aus. Sie?«

»Ich?« Bremer schüttelte den Kopf. »Woher soll ich das wissen. Ich bin gerade erst gekommen.«

»Na ja, aber ich meine... wenn sich der große Boß selbst um eine Sache kümmert...«

So viel zu deiner Theorie, daß niemand dumme Fragen stellt, dachte Bremer schadenfroh. Aber er ließ sich nichts von seinen wahren Gefühlen anmerken, sondern schüttelte nur wieder den Kopf und sagte: »Ich habe keine Ahnung, was wir hier tun. Vielleicht kannte er ihn ja persönlich. Er hat einen Fahrer gesucht, und ich hatte einfach das Pech, gerade im Weg herumzustehen. Sieht nach ein paar unbezahlten Überstunden aus«, fügte er noch hinzu.

Seine Worte schienen immerhin überzeugend genug zu klingen, um die Neugier des anderen zu befriedigen, wenigstens für den Moment. Bremer gab ihm auch keine Gelegenheit, weitere Fragen zu stellen, sondern ließ ihn stehen und schlenderte ziellos durch die Wohnung, soweit dies in der hier herrschenden Enge überhaupt möglich war. Sendig stand neben dem zerbrochenen Fenster und redete abwechselnd mit zwei Kriminalbeamten und einem heruntergekommenen dürren Kerl, dem das schlechte Gewissen regelrecht ins Gesicht gebrannt war und der so sehr in diese Umgebung paßte, als wäre dieses Haus eigens für ihn gebaut worden - und zwar in dem Zustand, in dem es sich jetzt befand. Das mußte der Zeuge sein, von dem der junge Beamte gesprochen hatte. Bremer fand nicht, daß er sehr vertrauenerweckend aussah. Oder gar glaubhaft.

Er beendete seine ohnehin eher ziellose Inspektion der Wohnung in einem winzigen Verschlag unter der Dachschräge, den er von außen für eine Abstellkammer gehalten hatte. Als er die Tür öffnete, erlebte er eine Überraschung - der Raum war zwar winzig, entpuppte sich aber als komplett eingerichtete Dunkelkammer. Unter der Decke brannte eine einzelne rote Lampe, in deren trübem Schein er im allerersten Moment nur Umrisse erkannte. Aber immerhin sah er, daß auch hier ein ziemliches Chaos herrschte. Mogrod hatte auch hier ganze Arbeit geleistet. Fotoschalen und Flaschen waren vom Tisch gerissen worden, der Belichter umgeworfen und Glas zerbrochen. Ein scharfer Chemikaliengeruch stieg ihm in die Nase, und auf dem Boden glänzte eine ölige Pfütze: Wasser, Entwickler und Fixierflüssigkeit, die ineinandergelaufen waren und in denen großformatiges Fotopapier schwamm, das im tiefsten Schwarz glänzte, das man sich nur vorstellen konnte.

Bremers Augen weiteten sich erstaunt, als sein Blick auf die Bilder fiel, die an die Wand neben der Tür geheftet waren. Selbst in dem schwachen Licht, das hier drinnen herrschte, erkannte er sofort, was sie zeigten: Löbachs zerschmetterten Leichnam, den Menschenauflauf vor seinem Haus, den Krankenwagen - und auf einem Bild ihn selbst und einen schreckensbleichen Hansen, der zumindest auf dieser Fotografie nicht sehr viel lebendiger aussah als Löbach, und schließlich sogar eine Aufnahme von Sendig, wie er gerade aus dem Wagen stieg.

Aber das war nur die Hälfte der Fotos. Die andere Hälfte zeigte Löbachs Apartment. Wie immer er es auch fertiggebracht hatte - irgendwie war es dem Journalisten gelungen, in die strengbewachte Wohnung einzudringen und einen ganzen Film zu verschießen.

Ganz plötzlich verlor für Bremer die Theorie von Mogrods Selbstmord sehr viel von ihrer Glaubhaftigkeit. Für diese Bilder hätte jedes Revolverblatt in der Stadt eine fünfstellige Summe bezahlt - eine Menge Geld, vor allem für jemanden, der in einem solchen Loch hauste. Warum zum Teufel sollte er sich umbringen, mit einem solchen Kapital?

Bremer fuhr herum, beugte sich halb aus der Tür und versuchte mit heftigem Gestikulieren Sendigs Aufmerksamkeit zu erregen. Die einzige Reaktion bestand jedoch aus einem ärgerlichen Blick eines der Männer von der Spurensicherung, der ihn lautstark anfuhr: »He, was tun Sie dort drinnen? Da sind wir noch nicht fertig!«

»Schon in Ordnung.« Sendig hob besänftigend die Hand und schenkte dem Mann seine Version eines freundlichen Lächelns. »Der Mann gehört zu mir. Warten Sie einen Moment, Bremer. Ich komme gleich. Und tun Sie Ihren Kollegen den Gefallen und rühren nichts an, okay?«

»Sicher.« Bremer zog sich hastig wieder in die Dunkelkammer zurück, ehe ihn die wütenden Blicke des Beamten von der Spurensicherung zur Salzsäule erstarren lassen konnten. Er war mit einem Male sehr aufgeregt. Diese Geschichte hatte erschreckend angefangen, war mysteriös weitergegangen und es auch bisher geblieben, aber allmählich begann sie sich von einer Gespenstergeschichte in etwas zu verwandeln, von dem er wirklich etwas verstand: einen Kriminalfall. In einem hatte Sendig vollkommen recht gehabt: Nichts von allem, was bisher geschehen war, war Zufall. Es gab eine Verbindung zwischen Löbach und Mogrod. Sie hing vor ihm an der Wand. Mogrod war garantiert nicht freiwillig aus dem Fenster gesprungen, dessen war sich Bremer jetzt sicher. Und Löbach wahrscheinlich auch nicht.

Ungeduldig wartete er darauf, daß Sendig endlich sein Gespräch beendete und hierherkam. Er hatte plötzlich eine Menge Fragen, die er seinem Wohltäter stellen mußte, und diesmal würde er sich nicht mit Ausflüchten und Halbwahrheiten abspeisen lassen.

Bremer machte einen weiteren Schritt zurück in den Raum, um die Fotos an der Tür aus etwas größerer Entfernung und damit in ihrer Gesamtheit betrachten zu können, aber es gab nicht sehr viel Platz, um irgendwohin zurückzuweichen. Er stieß gegen den Tisch, und irgend etwas fiel klappernd um und rollte über die Tischkante. Bremer machte eine hastige Bewegung zur Seite, um seine Hose vor Spritzern des Chemiegebräus am Boden zu schützen; möglicherweise ätzte das Zeug ja. Sein Blick streifte dabei wieder die vollkommen überentwickelten Fotos, die in der Lauge schwammen. Es waren ungefähr ein halbes Dutzend Blätter, DIN A4 groß und so schwarz, wie Fotografien nun einmal waren, wenn man sie ein paar Stunden lang entwickelt hatte.

Alle, bis auf eines.

Bremer stutzte. Etwas an diesem Bild war... falsch. Auf eine unheimliche Weise falsch und erschreckend. Das war der allererste, blitzartige Eindruck, den er hatte, ein Gefühl, das sehr dem ähnelte, das er draußen beim Betrachten der Fotografie des Panzers gehabt hatte, und der sich einstellte, ehe er wirklich sah, was daran so falsch war. Es war der Umstand, daß es dieses Bild gar nicht geben durfte.

Nicht so.

Nicht an diesem Ort.

Es lag wie alle anderen in einer fast zentimetertiefen Pfütze aus Chemie, die es eigentlich in einen schwarzen Spiegel hätte verwandeln müssen. Aber statt eines hoffnungslos überbelichteten Positivs zeigte das Blatt das genaue Gegenteil: das Negativ einer dunkel gestrichenen Wand, auf der mit Blut das Wort AZRAEL geschrieben stand. Es war verschmiert und kaum entzifferbar, aber Bremer hatte es in der vergangenen Nacht zu deutlich gesehen, um es nicht zu erkennen. Und trotzdem war es nicht das, was ihn so erschreckte. Die chemische Unmöglichkeit, daß das Bild unbeschadet geblieben war, registrierte er nur am Rande, und sie spielte in diesem Moment auch keine Rolle.

Auf dem Bild war noch etwas. Etwas, das nicht nur chemisch, sondern überhaupt unmöglich war; und wenn schon nicht das, etwas, das einfach nicht sein durfte.

Ganz langsam ließ sich Bremer in die Hocke sinken und streckte die Hand nach dem Blatt aus. Seine Finger zitterten plötzlich heftig, und er spürte, wie sein Herz immer schneller und mit immer härteren Schlägen zu hämmern begann. Mit einem Male hatte er fast panische Angst, das Blatt zu berühren, aber zugleich war es ihm auch unmöglich, es nicht zu tun. So behutsam, als berühre er weißglühendes Eisen, zog er das Bild aus der Pfütze und hob es hoch.

»So, da bin ich!« Sendig kam mit einem einzigen energischen Schritt herein und blinzelte ein paarmal, um sich an das trübrote Licht zu gewöhnen.

»Was haben Sie denn so Wichtiges - ups!« Offenbar verfügte er über eine etwas anpassungsfähigere Sehkraft als Bremer, denn er erkannte sofort, was Mogrods Bilder zeigten.

»Donnerwetter!« murmelte er. »Da laust mich doch der Affe! Der Kerl ist tatsächlich heute nacht in der Wohnung gewesen! Das darf doch nicht wahr sein! Er muß buchstäblich vor unseren Augen hereingeschlichen sein!«

Bremer antwortete nicht. Er hörte Sendigs Worte zwar, aber es gelang ihm nicht, ihnen irgendeinen Sinn zuzuordnen. Er konnte nicht mehr denken. Sein Herz hämmerte wie mit Fäusten von innen gegen seine Brust, und seine Hände zitterten jetzt so stark, daß er fast Mühe hatte, das Foto zu halten.

»Wie zum Teufel kann eine solche Schweinerei passieren?« Sendig drehte sich halb zu Bremer herum und zog fragend die Augenbrauen zusammen. »Bremer? Was ist los mit Ihnen? Antworten Sie, Mann!«

Bremer konnte es nicht. Sein Blick hing wie gebannt an der Fotografie. Er konnte jetzt immer mehr Details erkennen, als beginne sich das Foto auf gespenstische Art vor seinen Augen doch noch zu entwickeln. Es zeigte die Wand, vor der Sendig und er in der vergangenen Nacht gestanden hatten, sogar aus dem gleichen Winkel und vermutlich der gleichen Entfernung aufgenommen. Aber es zeigte auch noch mehr.

»Was ist los mit Ihnen?« fragte Sendig erneut. Er klang jetzt alarmiert. »Ist Ihnen nicht gut? Was haben Sie da?«

Irgendwie gelang es Bremer schließlich doch, seinen Blick von der Fotografie loszureißen, aber er konnte immer noch nicht antworten. Vielleicht wollte er es auch gar nicht. Vielleicht hatte er Angst, auszusprechen, was er sah. Statt dessen drehte er das Blatt herum, so daß nun auch Sendig die Fotografie sehen konnte. Die Bewegung beanspruchte nicht einmal eine halbe Sekunde, aber in dieser winzigen Zeitspanne flehte Bremer darum, daß er sich getäuscht haben möge; daß Sendig ihn einfach nur verständnislos anblicken oder auch eine seiner gefürchteten spitzen Bemerkungen loslassen würde, alles - nur nicht, daß es wahr war.

Aber Sendig sah ihn nicht verständnislos an. Er machte auch keine ironische Bemerkung. Er starrte nur auf das Foto und sagte kein Wort, aber Bremer konnte selbst in der schwachen Beleuchtung hier drinnen deutlich sehen, daß sich sein Gesicht kreidebleich färbte.

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