49. Kapitel

Bruno sah die Katastrophe kommen, aber er war nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Der Wagen drehte sich anderthalbmal um seine Achse und schoß gleichzeitig auf das Pförtnerhäuschen zu, und Bruno wußte mit absoluter Gewißheit, daß er ihn treffen würde - obwohl er gleichzeitig ein verzweifeltes Stoßgebet zum Himmel schickte, daß er vielleicht ein weiteres Mal seinen Kurs ändern, gegen ein unsichtbares Hindernis stoßen oder einfach noch eine Vierteldrehung vollführen würde, die ihn an seinem Ziel vorbeischleuderte. Nichts von alledem geschah.

Er war in seine Pförtnerloge zurückgeeilt, so schnell er konnte, und hatte die Polizei angerufen - viel zu spät, wie ihm jetzt klar wurde. Er hatte den Kerlen in dem Krankenwagen von Anfang an nicht getraut. Der Ältere in seiner viel zu großen Jacke hatte einfach nicht ausgesehen wie ein Krankenwagenfahrer, und der andere Bursche war für Brunos Geschmack ein bißchen zu nervös gewesen, auch wenn er nichts gesagt hatte. Aber Direktor Sillmann hatte ja Besuch angekündigt; er bekam öfter sonderbare Gäste, und Bruno hatte keine Lust gehabt, sich an einem Tag gleich zwei Zigarren einzuhandeln. Sillmann war zwar ein Chef, der gut zahlte und normalerweise zu der angenehmen Sorte gehörte - die, die man selten sah -, aber auch launisch sein konnte, und Bruno wollte seinen Job behalten. Nach fünfundzwanzig Jahren setzte man nicht alles aufs Spiel, nur wegen eines dummen Gefühls.

Hätte er nur darauf gehört! Er hatte ganz genau gesehen, daß sie den Wagen, der kurz nach dem des Direktors auf den Hof gerollt war - Bruno hatte ihn durchgewinkt, genau wie Sillmann es befohlen hatte -, absichtlich gerammt hatten! Und dann hatten sie ihn noch mit einer Waffe bedroht! Wahrscheinlich hatte er Glück, daß sie nicht auf ihn geschossen hatten. Was allerdings nicht hieß, daß sie das nicht nachholen würden, zum Beispiel, wenn sie wieder herauskamen. Wenn die Kerle wirklich das waren, wofür er sie hielt - Terroristen, Industriespione oder vielleicht auch Mafia-Typen, die hinter Drogen her waren, von denen es unten im Labor bestimmt genug gab -, waren sie bestimmt nicht versessen darauf, Zeugen zu hinterlassen, die sie identifizieren konnten. Er hatte die Polizei angerufen, den Eingang und die drei Wagen dabei aber keine Sekunde aus den Augen gelassen. Sollte sich dort drüben irgend etwas rühren, bevor die Polizei eintraf, würde er weglaufen und sich irgendwo in der Dunkelheit auf dem Fabrikgelände verstecken. Vermutlich wäre es sehr viel klüger gewesen, dies sofort zu tun, aber fünfundzwanzig Jahre Dienst als Nachtwächter und Pförtner hinderten ihn dann doch daran, seinen Posten zu verlassen.

Jetzt würde ihn sein Diensteifer wahrscheinlich das Leben kosten.

Die Polizei war nach weniger als zwei Minuten gekommen - wenigstens dachte er, daß es die Polizei war, als er die beiden Wagen die Zufahrt heraufkommen sah. Sie hatten zwar weder Sirene noch Blaulicht, aber das lag wahrscheinlich daran, daß sie die Typen nicht frühzeitig warnen wollten. Bruno war hinter seinem Schreibtisch aufgestanden und hatte sich bereit gemacht, hinauszugehen und ihnen zu sagen, wo sie suchen sollten, hatte es aber dann doch nicht getan - der Wagen war mit mindestens achtzig Sachen einfach durch das Tor geschossen und abgebogen, so daß er ihn nicht einmal richtig erkannt hatte. Immerhin sah er, daß es kein Streifenwagen war, sondern ein ziemlich großer, dunkler PKW - ein Mercedes oder BMW - mit getönten Scheiben und einer Funkantenne auf dem Dach. Kripo, vielleicht sogar Geheimdienst. Möglicherweise hatte er mit seiner Vermutung, was die Mafia anging, gar nicht so falsch gelegen. Nur einen Augenblick später raste ein zweiter, noch schnellerer Wagen heran.

Dreißig oder vierzig Meter, bevor er das Tor erreichte, trat der Fahrer plötzlich auf die Bremse. Es gab absolut keinen Grund dafür - die Straße war vollkommen frei, und das Tor stand weit offen. Der Wagen schleuderte, brach aus, rutschte auf zerfetzten Reifen weiter und schoß auf die Pförtnerloge zu. Irgend etwas flog aus der Heckscheibe heraus, aber Bruno konnte nicht erkennen, was. Der Wagen schlingerte weiter und begann eine zweite Drehung, und erst in diesem Moment begriff Bruno wirklich, daß er ihn treffen mußte. Er versuchte sich in die Höhe zu stemmen und gleichzeitig irgendwie vom Schreibtisch wegzukommen, aber er war viel zu langsam. Die beiden geplatzten Hinterreifen des BMW flogen in Fetzen davon, und die nackten Felgen schlugen Funken auf der Straße. Der Wagen raste wie ein Berg aus Metall und Glas heran, hüpfte beinahe elegant über den niedrigen Bordstein und traf das Pförtnerhäuschen wie ein vier Meter großer Hammer. Wie in einer bizarren Zeitlupenaufnahme sah Bruno, wie die dünne Sperrholzwand eingedrückt wurde und auf ihn zuflog. Holzsplitter, abgerissene Drähte und Nägel explodierten ihm ins Gesicht. Die Scheibe verwandelte sich in ein Gespinst aus Milliarden ineinanderlaufender Risse und milchiger Splitter, das einen Augenblick später in sich zusammenfiel, und der gesamte Schreibtisch machte einen Satz auf ihn zu. Bruno wurde die Luft aus den Lungen gepreßt, als die zerschrammte Schreibtischkante seinen Leib dicht oberhalb des Magens traf und sich anschickte, ihn zu halbieren. Gleichzeitig kippte er nach vorne, tauchte mit dem Gesicht in den Regen niederprasselnder Glasscherben ein und spürte, wie irgend etwas sein Bein traf und auf grausame Weise verdrehte. Der Wagen pflügte immer noch auf ihn zu, wie der stählerne Bug eines Eisbrechers, der dem infernalischen Vorspiel ein brutales Ende setzen würde.

Das War also der Tod, dachte Bruno, während er hilflos dabei zusah, wie ein gezackter Holzsplitter sich seinen Augen näherte. Gleichzeitig wurden seine Rippen immer weiter zusammengequetscht, und -

und dann war etwas da.

Etwas Großes, Schwarzes, das sich im Bruchteil einer Sekunde hinter ihm materialisierte und ihn mit unvorstellbarer Kraft ergriff. Hände, stark wie die eines griechischen Gottes und schnell wie ein Blitz, packten ihn und rissen ihn im allerletzten Moment aus den Trümmern der zusammenbrechenden Pförtnerloge heraus. Etwas Riesiges, Dunkles hüllte ihn ein, und er glaubte das Rauschen mächtiger Flügel zu hören, die die Luft teilten, und für einen winzigen Moment war es ihm wirklich, als flöge er - was natürlich unmöglich war. Dann sah er Feuerschein: ein blendendes, weißes Licht, das ihn einhüllte und für Augenblicke blind machte. Eine Woge furchtbarer Hitze strich kochend über sein Gesicht und seine Hände, grausam genug, ihn aufschreien zu lassen, aber zu schnell, um ihn wirklich zu verletzen. Bruno schrie, krümmte sich und wartete auf den Aufprall, der allem ein Ende setzen würde.

Er kam nicht. Es gab keinen Aufprall. Statt dessen war es, als würde er von unsichtbaren Händen gehalten und beinahe sanft zu Boden gesetzt. Unter ihm war plötzlich Gras, und durch seine geschlossenen Lider drang noch immer greller Feuerschein. Irgend etwas explodierte mit einem ungeheuren Krachen, und wieder traf ihn eine Hitzewelle, vor der ihn diesmal nichts schützte, so daß er zu Boden geschleudert wurde und hastig die Arme über den Kopf schlug.

Als er die Augen öffnete, schien die ganze Welt in Flammen zu stehen. Er lag gut zehn Meter von der brennenden Pförtnerloge entfernt im Gras und blutete aus etlichen Dutzend winziger Schnitt- und Rißwunden im Gesicht und den Händen, und er hatte starke Schmerzen - aber er lebte. Er konnte sich nicht erklären, wieso: Alles, was links von ihm war, brannte. Die Flammen hatten das Pförtnerhäuschen und den Wagen vollkommen eingehüllt und leckten bereits gierig nach den Ästen eines Baumes, der danebenstand, und die Hitze war selbst hier so gewaltig, daß er keine Luft bekam. Aber er lebte.

Während sich Bruno auf Hände und Knie erhob und hastig von den Flammen fortzukriechen begann, meldete sich seine Logik, die ihm einzureden versuchte, daß er einfach von der Wucht der Explosion erfaßt und davongeschleudert worden sei, und das war auch die Version, die er später erzählte, als die Polizei eintraf und die Feuerwehr und alle anderen. Aber tief in seinem Innern wußte er, daß das nicht stimmte. Der Wagen war explodiert, nachdem er das Pförtnerhäuschen zermalmt hatte. Hätte ihn die Explosion hierhergeschleudert, dann hätten sie allerhöchstens einen verkohlten Leichnam gefunden, dem jeder Knochen im Leib zerbrochen worden war. Etwas hatte ihn gerettet. Es gab Schutzengel. Und er hatte seinen getroffen.

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