10. Kapitel

Er war auf dem Weg nach Hause im Taxi eingeschlafen und erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen und der wirren Erinnerung an einen noch wirreren Traum - er war reichlich unangenehm gewesen, an mehr erinnerte er sich nicht, und nach dem, was er in der vergangenen Nacht erlebt hatte, wollte er sich auch nicht an mehr erinnern. Mark verscheuchte den Gedanken, blinzelte ein paarmal und richtete sich dann auf dem Rücksitz des Mercedes hoch, auf dem er zusammengesunken und im Schlaf halb gegen die Tür gerutscht war.

»Wir sind da«, sagte der Taxifahrer vollkommen überflüssigerweise. Noch überflüssigererweise fügte er hinzu: »Zu Hause.«

Wahrscheinlich hatte er nur freundlich sein wollen, aber er erreichte das Gegenteil. Mark blickte einige Momente lang die in Altweiß gestrichene Villa an, die sich dreißig Meter hinter dem mannshohen Gitterzaun erhob, vor dem das Taxi angehalten hatte, und versuchte etwas im Klang dieses Wortes zu erkennen. Zu Hause... Nein - er war immer noch nicht sicher, ob dies wirklich sein Zuhause war.

Immerhin wohnte er hier.

Er machte Anstalten, die Tür zu öffnen, aber der Taxifahrer streckte rasch den Arm aus und drückte den Türknopf herunter. »Macht zweihundertsiebzehn«, sagte er. »Ohne die Anzahlung von vorhin.«

»Ich weiß«, sagte Mark. »Aber ich habe sie nicht bei mir. Kommen Sie mit zum Haus, oder trauen Sie mir?«

Der Fahrer sah ihn schief an, dann zog er kommentarlos den Zündschlüssel aus dem Schloß und stieg aus. Mark nahm es ihm nicht übel. Er an seiner Stelle hätte wohl nicht anders gehandelt.

Mark stieg aus dem Taxi, ging zum Tor und tippte eine sechsstellige Ziffernfolge in die Zahlentastatur, die die Stelle eines Schlosses einnahm. Ein kaum hörbares Summen erklang, und das Tor sprang einen Fingerbreit auf. Der Taxifahrer zog erstaunt die linke Augenbraue hoch, aber er sagte nichts, sondern schloß sich Mark wortlos an, als er das Tor aufschob und den breiten Weg zum Haus hinaufzumarschieren begann.

Er ging sehr viel langsamer, als nötig gewesen wäre - wie er sich selbst einredete, um den Moment der Heimkehr entsprechend zu genießen, in Wahrheit aber wohl eher, um Zeit zu gewinnen. Mit ein wenig Glück war sein Vater nicht zu Hause, aber irgend etwas sagte ihm, daß das nicht der Fall sein würde. Und jetzt hatte es keinen Zweck mehr, es zu leugnen: Er hatte Angst, ihm gegenüberzutreten. Ob Prein nun Wort gehalten hatte oder nicht - ihm stand ein nicht sehr angenehmes Gespräch bevor. Und nach dem, was er in den letzten Stunden erlebt und über sich selbst erfahren hatte, war er ganz und gar nicht mehr sicher, daß er wirklich als Sieger daraus hervorgehen würde.

Sie waren noch fünf Meter von der Haustür entfernt, als sie geöffnet wurde. Das elektronische Schloß vorne am Tor stellte nur einen Bruchteil der Ausstattung dar, mit der sein Vater das Haus in den letzten Jahren in eine High-Tech-Festung verwandelt hatte, auch wenn man es ihm nicht ansah. Sie waren natürlich längst entdeckt und von einem halben Dutzend mißtrauischer Kameraaugen beobachtet worden. Den Vorteil der Überraschung würde er in dieser Konfrontation auf keinen Fall mehr auf seiner Seite haben.

Aber es war nicht sein Vater, der ihnen die Tür öffnete, sondern Marianne, dessen Haushälterin. Mark war im ersten Moment erleichtert, sie zu sehen statt seines Vaters oder einen der anderen Angestellten. Marianne war ins Haus gekommen, als er noch ein Baby war, und sie gehörte nicht nur schon praktisch zum Inventar, sondern war auch zu etwas wie einer mütterlichen Freundin geworden; vielleicht der einzige wirkliche Freund, den er in diesem Haus noch hatte, seit seine Mutter nicht mehr da war.

Ein einziger Blick in ihr Gesicht beantwortete Mark die Frage, die ihn auf dem Weg vom Tor bis zum Eingang am meisten bewegt hatte: ob Prein Wort gehalten hatte oder nicht. Er hatte offensichtlich.

Marianne war nicht überrascht, ihn zu sehen. Sie hätte es sein müssen, auch wenn sie ihn schon ein paar Augenblicke eher auf einem Monitor erkannt hätte, aber der einzige Ausdruck, den Mark auf ihrem Gesicht las, war eine vage Spur von Trauer und eine sehr deutliche Bedrückung, die ihn alarmierte. Sein Vater wußte offensichtlich nicht nur bereits, daß er kam, sondern hatte auch schon den einen oder anderen Kommentar abgegeben.

»Hallo, Marianne«, sagte er. Und als hätte der Klang seiner Stimme einen unsichtbaren Bann gebrochen, verschwand der bekümmerte Ausdruck von ihrem Gesicht und machte einer ehrlich empfundenen Freude Platz. Die Haushälterin machte einen halben Schritt auf ihn zu und setzte zu einer Bewegung an, ihn in die Arme zu schließen. Aus irgendeinem Grund tat sie es dann schließlich doch nicht, doch Mark nahm ihr die Entscheidung ab, indem er seinerseits die Arme ausbreitete und sie kurz, aber heftig an sich drückte.

»Wie schön, daß Sie da sind, Herr Sillmann«, sagte sie ein wenig atemlos, nachdem er sie wieder losgelassen und auf halbe Armeslänge von sich geschoben hatte.

Mark zog die linke Augenbraue hoch. »Herr Sillmann? Das letzte Mal waren wir noch per du.«

Seine Worte brachten Marianne sichtlich in Verlegenheit. »Das letzte Mal ist -«

»- ein knappes halbes Jahr her«, fiel ihr Mark ins Wort. »Sie wollen sich doch nicht etwa mit mir streiten, oder? Denken Sie immer daran: Sie stehen Ihrem zukünftigen Boß gegenüber, auch wenn es vielleicht noch ein paar Jahre dauert. Verderben Sie es sich lieber nicht mit ihm.«

Der nächste Scherz, der danebenging. Marianne lächelte zwar, aber es wirkte nicht überzeugend; nicht einmal überzeugend geschauspielert. Anscheinend war er heute mit einer Art Fluch beladen, alle und jeden irgendwie zu verärgern.

Um den peinlichen Moment irgendwie zu überspielen, räusperte er sich zweimal und deutete dann auf den Taxifahrer, der in einigen Schritten Entfernung stehengeblieben war und die Szene mit unbewegtem Gesichtsausdruck verfolgte. »Seien Sie so lieb und bezahlen Sie das Taxi, Marianne«, bat er. »Und geben Sie dem Mann ein gutes Trinkgeld. Es wird meinen Vater nicht ruinieren. Wo ist er überhaupt? Ist er im Haus?«

Marianne nickte. »Ja. Er ist im Arbeitszimmer. Aber er hat gerade Besuch. Vielleicht sollten Sie ihn jetzt nicht stören.«

»Du«, verbesserte Mark sie. »Und ich glaube nicht, daß ich ihn noch weiter verärgern kann, als ich es schon getan habe.«

»Aber Sie... du solltest jetzt wirklich -«

Mark hörte gar nicht mehr zu, sondern trat an Marianne vorbei ins Haus und ging mit schnellen Schritten zur Treppe. Sie versuchte nicht noch einmal, ihn zurückzuhalten, sondern wandte sich dem Fahrer zu, und Mark hätte sowieso nicht auf sie gehört. Sicher hatte sie recht: Sein Vater war kein besonders duldsamer Mann, und es war bestimmt nicht sehr klug, ihn zu stören, falls er geschäftlichen Besuch hatte. Mark war auch nicht daran gelegen, ihn noch mehr zu reizen - aber er hatte noch weniger Lust, jetzt hier zu warten, wie ein Schüler, der einen Termin bei seinem Direktor hatte, um sich einen Rüffel abzuholen. Außerdem war er nicht sicher, ob er später überhaupt noch den Mut haben würde, seinem Vater gegenüberzutreten. Gestern abend hatte Prein sicherlich übertrieben, aber jetzt war er genau in der Stimmung, die er ihm da unterstellt hatte - nervös, erregt und vollkommen übermüdet.

So schnell, wie er gerade noch konnte, ohne wirklich zu rennen, lief er die Treppe hinauf und steuerte die Bibliothek an, die seinem Vater zugleich als Arbeitszimmer diente. Die Tür war nur angelehnt, und er konnte die Stimmen seines Vaters und mindestens zweier weiterer Männer hören. Er konnte die Worte nicht verstehen, aber der Klang der Unterhaltung schien ihm nicht geschäftlich, ja nicht einmal wirklich höflich. Vielleicht war dort drinnen kein wirklicher Streit im Gange, aber zumindest doch die Vorstufe dazu.

Als er die Hand nach der Türklinke ausstreckte, klingelte das Telefon. Er konnte hören, wie sein Vater abhob und sich meldete, dann sagte er: »Für Sie.«

Mark betrat die Bibliothek im gleichen Moment, in dem der Besucher den Telefonhörer entgegennahm und sich meldete, und der Anblick, der sich ihm bot, war so unerwartet, daß er mitten im Schritt stehenblieb und überrascht die Augen aufriß.

Sein Vater saß hinter dem wuchtigen Schreibtisch, der vor dem Fenster aufgebaut war, und trug noch immer einen seidenen Hausmantel, Pantoffeln und Pyjamahosen, obwohl es bereits nach zehn war. Seine Frisur war wirr, als hätte er statt eines Kamms die gespreizten Finger benutzt, und er rauchte - wenn er sich in den vergangenen sechs Monaten nicht radikal verändert hatte, ein Zeichen höchster Erregung. Und seine Besucher boten ein kaum weniger auffälliges Bild. Beide sahen ungefähr so frisch und ausgeruht aus, wie Mark sich fühlte, und er schätzte beide auf Anfang fünfzig - aber damit hörten ihre Gemeinsamkeiten auch schon wieder auf. Der Mann am Telefon trug einen Trenchcoat, dem man auf hundert Meter ansah, daß er aus einem Designerladen stammte und ein mittleres Vermögen gekostet haben mußte, und darunter einen offenbar maßgeschneiderten Anzug. Sein Haar war streng zurückgekämmt und begann sich an den Schläfen deutlich zu lichten, der Gesichtsausdruck hatte etwas Verbissenes.

Der andere schien das genaue Gegenteil. Er hatte dunkles, sehr volles Haar und einen gleichfarbigen Schnauzbart, der eine Spur zu lang war, um noch modisch zu wirken, so, wie er auch schätzungsweise zwanzig Pfund zuviel auf den Rippen hatte, um wirklich noch sportlich auszusehen. Sein Gesicht wirkte hart, aber trotzdem auf eine schwer zu beschreibende Weise freundlich - und er trug die grüne Uniform eines Schutzpolizisten. Polizei? Hier? Hatte sein Vater Ärger?

»Mark!« sagte sein Vater. Er klang eher unwillig als überrascht. »Wo bist du gewesen?«

Ja, dachte Mark, das war genau die Begrüßung, wie er sie erwartet hatte - vor allem im Ton. Aber er beherrschte sich. Im Moment war er noch zu verblüfft, um überhaupt zu reagieren. »Ich hatte... noch zu tun«, sagte er ausweichend. »Guten Morgen.«

Er ließ absichtlich offen, ob die Begrüßung nun allen im Raum oder nur seinem Vater galt. Sein Vater antwortete auch gar nicht darauf, sondern sah ihn nur aufmerksam an, während er mit der linken Hand einen Aktenhefter schloß, der aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lag und offenbar eine ganze Anzahl großformatiger Schwarzweißfotos enthielt; was sie zeigten, konnte Mark aus seiner Position heraus nicht erkennen. Es spielte im Moment auch keine Rolle. Der Polizeibeamte erwiderte Marks Gruß, während der andere - vermutlich ebenfalls ein Polizist, nur in Zivil - mit einem wortlosen Nicken reagierte und sich ansonsten auf das konzentrierte, was er am Telefon hörte.

Mark schob die Tür hinter sich zu und trat zögernd näher. »Die Polizei im Haus?« fragte er. »Ist irgend etwas... passiert?«

»Ja, so könnte man es nennen«, sagte sein Vater. »Aber es hat nichts mit uns zu tun.« Er musterte die beiden Beamten finster und schien noch mehr sagen zu wollen, aber der uniformierte Polizist wandte sich in diesem Moment vollends zu Mark um und sagte:

»Mein Name ist Bremer. Das dort am Telefon ist mein Kollege, Herr Sendig. Und Sie sind ...?«

Mark antwortete ganz automatisch. »Ich bin Mark Sillmann«, sagte er.

»Mein Sohn«, fügte sein Vater überflüssigerweise hinzu. »Aber es ist nicht nötig, ihn zu belästigen. Er hat mit der ganzen Geschichte nun wirklich nichts zu tun.«

»Mit welcher Geschichte?« fragte Mark. Was, zum Teufel, ging hier vor?

»Nichts«, sagte sein Vater. »Es ist wirklich nichts. Ich weiß auch nicht, warum man uns damit belästigt.«

»Aber ich bitte Sie, Herr Doktor Sillmann«, sagte Bremer geduldig. »Wir belästigen Sie nicht. Leider ist es nötig, gewisse Nachforschungen anzustellen.«

»Nachforschungen worüber?« wollte Mark wissen. Er versuchte, ein wenig schärfer zu klingen, ohne direkt unhöflich zu werden. Für seinen Geschmack benahm sich sein Vater schon unmöglich genug.

Sendig hängte ein, ohne daß Mark auch nur ein Wort des Abschieds gehört hätte, und sah ihn zum ersten Mal direkt an. »Über Doktor Löbach, Herr Sillmann«, sagte er. »Sie kennen ihn, nehme ich an?«

Mark nickte. »Natürlich kenne ich ihn. Er ist einer unserer ...« Er verbesserte sich. »Er ist ein Angestellter meines Vaters.«

»War«, verbesserte ihn Sendig. »Es muß heißen, er war ein Angestellter Ihres Vaters. Doktor Löbach ist tot.«

»Tot?« Mark erschrak, beinahe tiefer, als er sich im ersten Moment selbst erklären konnte. Er hatte Löbach gekannt, aber nicht sehr gut. »Was ist passiert? Ein Unfall?«

»Das versuchen wir ja gerade herauszufinden«, antwortete Sendig, wobei er Marks Vater einen bedeutsamen Blick zuwarf, sich aber sofort wieder an Mark wandte und das Thema wechselte. »Was tun Sie hier, wenn ich fragen darf?«

Allmählich begann Mark sich über Sendig zu ärgern. Es war gar nicht so sehr das, was er sagte, sondern vielmehr, wie er es tat. Sendig schien zu jenen Menschen zu gehören, bei denen selbst die Frage nach der Uhrzeit schon wie eine verkappte Provokation klang. Er begann allmählich zu ahnen, warum sein Vater so übler Laune war.

»Ich wohne hier«, antwortete er.

Sendig blieb vollkommen gelassen, obwohl ihm kaum entgangen sein konnte, wie Marks Antwort gemeint war. »Das ist mir klar«, sagte er. »Aber sind Sie nicht seit einigen Jahren in einem Internat? Soviel ich weiß, haben die Ferien noch nicht angefangen.«

Mark wollte antworten, aber sein Vater kam ihm zuvor. »Mein Sohn war eine Weile krank. Nichts Ernstes, aber der Arzt meinte doch, daß er sich ein paar Tage zu Hause erholen sollte. Ich habe mit dem Direktor seiner Schule gesprochen. Es geht in Ordnung.«

Mark war ziemlich überrascht, wie gut er sich selbst in der Gewalt hatte. Er war sicher, daß Sendig ihm seine Verblüffung über diese Antwort nicht ansah - aber er suchte auch vergebens nach irgend etwas Verschwörerischem oder Warnendem im Blick seines Vaters. Konnte es sein, daß Prein ihm diese Geschichte wirklich erzählt hatte?

»Sie sehen auch nicht besonders fit aus«, sagte Bremer. »Eine Sommergrippe, hm?«

Mark zuckte mit den Schultern. »Es war nichts Ernstes. Immerhin hat es mir ein paar Tage Extraurlaub eingebracht.«

»Seit wann sind Sie hier?« fragte Sendig.

»In Berlin? Seit heute morgen. Warum?«

»Nur so.« Sendig machte eine wedelnde Handbewegung und lächelte ungefähr so freundlich wie eine Schlange, die ein Kaninchen mustert. »Ich muß immerzu Fragen stellen. Eine schlechte Angewohnheit, ich weiß. Aber das bringt mein Beruf nun mal mit sich. Bleiben Sie lange in der Stadt?«

»Ein paar Tage«, antwortete Mark kühl. »Allerhöchstens eine Woche - es sei denn, Sie sagen mir jetzt, daß ich die Stadt nicht verlassen darf, ohne mich bei Ihnen abzumelden.«

Sendigs Augen verengten sich ein wenig, aber Mark sah auch, daß Bremer alle Mühe hatte, nicht zu grinsen. Er fragte sich, wieso ausgerechnet diese beiden Beamten zusammenarbeiteten. Er hatte selten zwei Männer gesehen, die so wenig zusammenpaßten wie Bremer und Sendig.

»Das wird wohl nicht nötig sein«, antwortete Sendig. »Wir sind jetzt auch schon fertig - zumindest für den Moment. Möglicherweise haben wir noch ein paar Fragen, die -«

»- Ihnen mein Anwalt viel besser beantworten kann als ich«, unterbrach ihn Marks Vater. »Seine Adresse ist Ihnen ja noch bekannt, oder?« Er stand auf. »Und wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden? Mein Sohn und ich haben einiges zu besprechen. Sie finden allein den Weg hinaus, nehme ich an.«

Mark war nicht der einzige, den dieser plötzliche Ausbruch überraschte. Sein Vater war auch bisher nicht gerade freundlich zu den beiden Beamten gewesen. Trotzdem kam dieser kaum noch verhohlene Hinauswurf einer Hundertachtzig-Grad-Wendung gleich.

Sendigs Augen wurde noch schmaler, doch der Ausbruch, auf den Mark wartete, blieb aus. Er starrte seinen Vater nur noch einen Moment lang durchdringend an, ehe er sich mit einer ruckhaften Bewegung zur Tür wandte und ging. Sein uniformierter Kollege folgte ihm nach einem Augenblick - aber er hatte wenigstens den Anstand, Mark und seinem Vater zum Abschied zuzunicken. Mark erwiderte die Geste, während sein Vater den dunkelhaarigen Beamten nur finster anblickte.

Er sagte kein Wort, auch nicht, als die beiden das Zimmer verlassen hatten und ihre Schritte die Treppe draußen hinunterpolterten. Und selbst dann schwieg er beharrlich weiter, bis sie das Geräusch der Haustür hörten, die ins Schloß fiel. Und selbst dann war es Mark, der die Stille unterbrach, und nicht sein Vater.

»Was ist hier los?« fragte er geradeheraus. »Warum warst du so unfreundlich?«

»Unfreundlich?« Sein Vater lachte. »Nein. Du hast mich noch nicht erlebt, wenn ich wirklich unfreundlich werde.«

Das stimmte nicht, und sie wußten es beide. Sie wußten auch beide, was diese Antwort wirklich bedeutete: nämlich, daß sein Vater nicht weiter über dieses Thema reden wollte. Aber Mark war schließlich nicht hierhergekommen, um das alte Spiel nach den alten Regeln fortzusetzen, und so sagte er: »Sie tun nur ihre Arbeit. Und wenn einer deiner Angestellten ums Leben kommt -«

»Löbach war nicht mehr unser Angestellter«, unterbrach ihn sein Vater scharf. »Ich habe ihn schon vor einem halben Jahr entlassen.«

»Warum?«

»Seit wann interessierst du dich für meine Firma?« schnappte sein Vater. »Aber bitte: Er hatte angefangen zu trinken. Ich habe keine Ahnung, warum, und ich will es auch nicht wissen. Frauen, nehme ich an. Oder Geld. Vielleicht auch beides. Was weiß ich. Ich habe ihn zweimal gewarnt und dann gefeuert.«

Das klang einleuchtend und entsprach auch durchaus dem Charakter seines Vaters - aber es überzeugte Mark trotzdem nicht endgültig. Er hatte Löbach zwar wirklich nicht besonders gut gekannt, aber immerhin wußte er, daß er einer der wichtigsten und vor allem ältesten Angestellten seines Vaters gewesen war. Einen solchen Mann feuerte man nicht einfach so, weil er ein Alkoholproblem hatte oder anderen Ärger.

»Und jetzt ist er tot«, sagte Mark.

»Das ist nicht meine Schuld«, blaffte sein Vater. »Was ist los mit dir? Bist du -« Er brach mitten im Satz ab, starrte Mark eine geschlagene Sekunde lang aus brennenden Augen an - und dann ging eine ganz erstaunliche Veränderung mit ihm vonstatten. Der Zorn, jener Ausdruck, den Mark so oft auf seinen Zügen gesehen hatte, daß er sich sein Gesicht manchmal schon gar nicht mehr anders vorstellen konnte, verschwand urplötzlich und wich etwas, das ihn an den Ausdruck in Mariannes Augen vorhin erinnerte, nur daß es bei seinem Vater viel verwirrender wirkte. Er atmete hörbar ein, entspannte sich sichtbar und sagte mit einer Sanftmut, die Mark erneut und noch mehr überraschte: »Lassen wir das, okay? Ich glaube, wir haben jetzt wohl Wichtigeres zu tun, als uns zu streiten. Wie geht es dir?«

Im ersten Moment verstand Mark die Frage nicht einmal wirklich; er argwöhnte eine der rhetorischen Fallen, in die sein Vater seine Gesprächspartner mit Vorliebe lockte - wobei er auch bei seinem eigenen Sohn keine Ausnahme gemacht hatte -, aber die Sorge in seinen Augen sah tatsächlich echt aus. Vorhin, als er den Gedanken das erste Mal erwogen hatte, hatte er nicht ernsthaft geglaubt, daß Prein seinem Vater wirklich die Geschichte von seiner Krankheit und dem Erholungsurlaub aufgetischt haben könnte. Aber es sah tatsächlich so aus, als wäre es so.

»Gut«, sagte er. »Ich bin nicht krank.«

»Ja, du siehst aus wie das blühende Leben«, sagte sein Vater ironisch.

»Ich habe schlecht geschlafen«, antwortete Mark. »Aber das ist auch schon alles. Ich bin nicht krank, und ich war es auch nicht.«

»Aber dein Direktor -«

»- ist ein sehr netter Mann«, unterbrach ihn Mark. »Ich nehme an, er hat dir diese Geschichte erzählt, um mir einen Gefallen zu tun - schließlich kennt er dich. Aber sie ist nicht wahr. Er hat mich nicht nach Hause geschickt, damit ich mich erhole. Ich bin von mir aus gegangen. Und ich kehre auch nicht zurück ins Internat.«

Diesmal vergingen Sekunden, bis sein Vater reagierte. Aber er tat es auch jetzt wieder auf eine völlig unerwartete, untypische Art. Daß Mark seinen Vater nicht gerade liebte, bedeutete nicht, daß er ihn für dumm hielt. Im Gegenteil - er war sicher, daß er sofort begriffen harte, was seine Worte bedeuteten. Und trotzdem fuhr er auch jetzt nicht hoch, machte ihm keine Vorhaltungen oder ließ die eine oder andere Drohung hören - mit alledem hatte Mark gerechnet und war darauf vorbereitet, so gut er konnte - sondern sah ihn nur ruhig und irgendwie resignierend an, ehe er sagte: »Ich verstehe. Du hast nicht viel Zeit verloren. Bei der Gelegenheit: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

»Danke«, antwortete Mark. »Und das ist alles?«

»Dein Geschenk ist bestellt, aber noch nicht -«

»Das meine ich nicht, und das weißt du auch verdammt genau«, fiel ihm Mark ins Wort. Es fiel ihm immer schwerer, ruhig zu bleiben. Die so vollkommen unerwartete Gelassenheit, die sein Vater an den Tag legte, machte ihn rasend. »Willst du mir nicht erklären, daß ich verrückt bin? Oder mich ein bißchen anschreien und mir befehlen, sofort wieder ins Internat zurückzukehren?«

»Hätte das denn Sinn?« fragte sein Vater sanft. Er machte eine einladende Geste auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, vor dem Sendig zuvor gestanden hatte. »Setz dich, Mark. Ich glaube, wir sollten uns unterhalten - auch wenn es kein besonders glücklicher Moment ist.«

Mark gehorchte ganz automatisch - und ärgerte sich ebenso automatisch sofort wieder über sich selbst, daß er seinen Part in diesem uralten Spiel von Befehlen und Gehorchen so bereitwillig weiterspielte. Aber selbst dieser Ärger War nicht mehr wirklich echt. Sein mühsam kultivierter Zorn begann bereits wieder zu verrauchen. Offenbar hatte er sehr viel weniger davon gehortet, als er selbst geglaubt hatte. Mit einer Stimme, die sehr viel mehr von seiner Unsicherheit verriet, als ihm recht war, sagte er: »Wenn du versuchen willst, mich umzustimmen, kannst du dir die Mühe sparen.«

»Natürlich will ich das«, sagte sein Vater. »Aber keine Sorge - ich werde dir weder etwas befehlen, noch versuchen, dich zu etwas zu überreden, was du nicht wirklich willst.«

War es wirklich Zufall, dachte Mark, daß er fast die gleichen Worte benutzte wie Prein am vergangenen Abend, oder redeten einfach alle Erwachsenen so?

Und hatten sie vielleicht recht damit?

»Ich wußte, daß du so etwas tun würdest«, sagte sein Vater. »Ich habe nicht so schnell damit gerechnet, aber in den nächsten Tagen oder Wochen schon. Es war nicht schwer zu erraten.«

Plötzlich wünschte sich Mark, er wäre zehn Jahre jünger - dann hätte er vor lauter Enttäuschung und Frustration wenigstens laut losheulen können. Standen ihm seine Gedanken eigentlich in roten Leuchtbuchstaben auf der Stirn geschrieben, oder benahm er sich wirklich so vorhersehbar?

»Dein Direktor wollte dir wahrscheinlich wirklich einen Gefallen tun, indem er mir diese kleine Notlüge aufgetischt hat, aber es wäre nicht nötig gewesen. Ich bin dir nicht böse. Im Gegenteil - ich bin froh, daß du nach Hause gekommen bist, statt irgendeinen Unsinn zu machen und dich vielleicht in drei Monaten aus Alaska zu melden.«

»Das ist gar keine schlechte Idee«, sagte Mark. »Vielleicht hätte ich es tun sollen.«

»Dazu bist du zu klug«, behauptete sein Vater. »Du gibst es im Moment vielleicht nicht zu, aber du bist gar nicht so rebellisch, wie du tust. Jedenfalls nicht rebellisch genug, um auf gewisse... Bequemlichkeiten zu verzichten.«

»Da wäre ich nicht so sicher«, antwortete Mark. Soviel, fügte er in Gedanken hinzu, zum Thema: überraschendes Verhalten. Sein Vater war gar nicht so verständnisvoll und geduldig, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte - es war einfach nur eine andere Taktik, die nichts mit Respekt zu tun hatte, sondern vielleicht nur seinem Alter angepaßt war. Und jetzt war der Zorn wieder da, nach dem er vorhin vergeblich gesucht hatte. »Vielleicht freue ich mich seit Jahren darauf, auf die Bequemlichkeiten verzichten zu dürfen, die du mir bereitest.«

»Kaum«, sagte sein Vater ruhig. »Du wirst bestimmt nicht -«

»Du hast mich vorhin gefragt, wo ich war«, fiel ihm Mark ins Wort. »Ich habe dir zwar geantwortet, aber es war eine Lüge. Ich bin schon seit dem frühen Morgen in der Stadt, weißt du. Ich war bei Mutter.«

»Ich weiß«, sagte sein Vater gelassen. »Jemand aus dem Stift hat mich angerufen.«

»Wer?« fragte Mark scharf. Schwester Beate? Das war möglich, aber er konnte es sich kaum vorstellen - vielleicht, weil es ihn sehr enttäuscht hätte.

»Das spielt keine Rolle«, sagte sein Vater.

»Artner?« wollte Mark wissen. Es war ein Schuß ins Blaue, aber er schien getroffen zu haben, denn sein Vater fuhr ganz leicht zusammen. Er wirkte fast erschrocken. Aber er schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Es spielt keine Rolle, wer es war. Und bevor du dich weiter aufregst - sie haben dich nur zu deiner Mutter gelassen, weil ich es ihnen gesagt habe.«

»Sehr großzügig«, sagte Mark zynisch. »Wie kann ich dir nur je dafür danken?«

»Zum Beispiel, indem du aufhörst, dich wie ein Idiot zu benehmen, und endlich anfängst, mit mir zu reden«, antwortete sein Vater ruhig. »Bist du nur hierhergekommen, um dich mit mir zu streiten? Das ist ein bißchen billig, findest du nicht?«

Hinter ihm bewegte sich etwas. Ein Schatten, vielleicht nur ein Lichtreflex, der durch das Fenster hereinfiel. Trotzdem starrte Mark diese gar nicht vorhandene Bewegung eine geschlagene Sekunde lang an, ehe er antwortete: »Möglicherweise. Ich bin...« Er suchte nach Worten, aber plötzlich war sein Kopf wie leergefegt. Er war nur noch müde. Seine Glieder fühlten sich an wie Blei.

»Ach verdammt, ich weiß es nicht«, sagte er zornig. »Ja, vielleicht. Vielleicht wollte ich auch einfach nur weg aus dem Internat.«

»Das kann ich verstehen«, sagte sein Vater. »Ich mache dir einen Vorschlag: Du gehst in dein Zimmer und schläfst dich erst einmal gründlich aus. Wir essen heute abend zusammen, und dann reden wir. In aller Ruhe und von Mann zu Mann.«

Wann hatte er je in aller Ruhe mit seinem Vater reden können? dachte Mark. Oder gar von Mann zu Mann? Sein Vater behandelte niemanden wie einen gleichgestellten Partner. Manchmal fragte er sich, ob er überhaupt fähig war, für einen anderen Menschen irgendein Gefühl zu empfinden, das nicht Verachtung oder Ärger hieß. Aber er widersprach nicht, sondern zuckte nur mit den Achseln. Der Streit, auf den er innerlich vorbereitet war, hatte zwar gar nicht stattgefunden, aber er fühlte sich trotzdem so ausgelaugt, als läge er hinter ihm. Und als hätte er ihn verloren.

»Ich bin wirklich etwas müde«, gestand er. »Aber ich weiß nicht, ob wir heute abend zum Essen gehen können. Ich habe eine Verabredung. Ein Mädchen«, fügte er unaufgefordert hinzu.

»Ein Mädchen?« Sein Vater zog die Augenbrauen hoch. Offenbar war es Mark nun doch gelungen, ihn zu überraschen. »Hast du sie mitgebracht?«

»Nein«, antwortete Mark. »Sie ist hier aus Berlin.«

»Und du bist heute morgen erst angekommen? Das ging schnell.«

Und geht dich nichts an, dachte Mark. Er antwortete nicht.

»Dann bring sie doch einfach mit«, sagte sein Vater. »Ich möchte deine Freunde gerne kennenlernen.«

»Warum?« wollte Mark wissen. »Um zu entscheiden, ob sie zu mir passen?«

»Nein«, sagte sein Vater. »Ich möchte sie einfach kennen, das ist alles.«

Mark wollte antworten, daß sich sein Vater noch nie für seine Freunde interessiert hatte, aber er schluckte die Bemerkung im letzten Moment herunter. Sie hätte zwar der Wahrheit entsprochen, aber eigentlich nur, weil er bisher niemals Freunde gehabt hatte. Außerdem war Schwester Beate nun wirklich nicht seine Freundin, Er kannte sie, das war alles. Er wußte nicht einmal, ob er überhaupt mehr wollte.

Wieder bewegte sich etwas an der Wand hinter seinem Vater, das gar nicht da war, und diesmal glaubte Mark für den Bruchteil einer Sekunde etwas wie einen menschlichen Schatten zu erkennen, aber zugleich auch nicht. Er widerstand im letzten Moment der Versuchung, sich herumzudrehen. Verrückt.

»Was hast du?« fragte sein Vater alarmiert.

»Nichts. Was soll sein?«

»Du bist plötzlich blaß geworden. Ist dir nicht gut?«

»Nein«, antwortete Mark. »Das heißt: nein, mir ist nicht nicht gut. Ich bin ziemlich übermüdet, das ist alles. Ich habe im Zug kaum geschlafen.«

»Unangenehme Mitreisende?«

»Unangenehme Träume«, antwortete Mark. »Okay - vertagen wir den Showdown auf heute abend oder morgen. Ich lege mich ein paar Stunden hin. Ich nehme an, du hast jetzt sowieso viel zu tun. Schließlich mußt du deinen Anwalt anrufen.«

Sein Vater blieb auf eine Art ruhig, die Mark allmählich zur Weißglut reizte - allerdings auf eine Art, die irgendwie nicht wirklich an die Oberfläche drang. Er spürte das Feuer, aber die Eruption blieb aus, obwohl er sie sich gewünscht hätte.

»Ich hoffe, daß es nur mein Anwalt ist und nicht bald unser Anwalt«, sagte sein Vater ruhig. »Ich kenne diesen Polizisten, diesen Sendig. Er ist ein sehr unangenehmer Mensch.«

»Und was habe ich mit ihm zu tun?«

»Genausoviel wie ich, nämlich nichts«, behauptete sein Vater. »Aber das wird ihn nicht daran hindern, uns weiter zu belästigen.«

»Warum sollte er das tun? Wenn Löbach -«

»Löbach!« Sein Vater unterbrach ihn, scharf und mit einer wegwerfenden Geste. »Löbach hat mit der ganzen Geschichte nichts zu tun. Sendig verträgt keine Niederlagen, und ich habe ihm vor ein paar Jahren einmal eine bereitet. Ich schätze, er glaubt, jetzt wäre der Moment gekommen, sich zu revanchieren.«

»Was hast du mit der Polizei zu schaffen?« fragte Mark mißtrauisch.

»Gar nichts«, behauptete sein Vater. »Vor ein paar Jahren hat mich jemand denunziert - ein gefeuerter Angestellter, ein Konkurrent, was weiß ich. Angeblich soll in der Firma irgendeine Drogengeschichte gelaufen sein.«

»Drogen?« Mark riß erstaunt die Augen auf. Er konnte sich viel vorstellen, aber sein Vater und Drogen? Das war lächerlich. Sein Vater verachtete Menschen, die Drogen nahmen. Die meisten, die keine nahmen, übrigens auch. »Aber daran ist doch nichts Wahres, oder?«

»Natürlich nicht«, sagte sein Vater. »Aber Sendig hatte sich in die Idee verrannt. Ich konnte meine Unschuld beweisen, aber er ließ nicht locker, und so habe ich mich schließlich über ihn beschwert. Die Ermittlungen wurden eingestellt, und Sendig bekam einen Rüffel, den er mir bis heute wohl nicht verziehen hat. Es sollte mich nicht wundern, wenn er jetzt irgendwie versucht, die ganze Geschichte von damals wieder aufzuwärmen. Sei also vorsichtig, wenn er dich anspricht. Am besten redest du gar nicht mit ihm.« Er lächelte unecht und fügte in ebenso unecht aufmunterndem Ton hinzu: »Und jetzt ab ins Bett.«

»Wie kommt es nur, daß ich das Gefühl habe, du willst mich loswerden?« fragte Mark.

»Vielleicht, weil es so ist«, erwiderte sein Vater. »Ich habe in der Tat eine Menge zu tun - nicht nur wegen dieses Dummkopfes Sendig. Dein Besuch kam... etwas überraschend. Aber bis heute abend habe ich mich freigeschwommen, keine Angst.«

Soviel zu Marks Ankündigung, nicht mit ihm essen zu wollen. Aber er war viel zu müde, um zu widersprechen - in diesem Punkt hatte er wohl eindeutig recht. So stand Mark auf und ging zur Tür, blieb aber noch einmal stehen und wandte sich um. Sein Vater hatte bereits die Hand nach dem Telefonhörer ausgestreckt, sah aber weiter aufmerksam in seine Richtung.

»Ist noch irgend etwas nicht in Ordnung?«

Irgend etwas? Mark hätte am liebsten aufgelacht. Hatte sein Vater ihn gerade wirklich gefragt, ob irgend etwas nicht in Ordnung war? Und doch ... irgend etwas in dessen Blick hielt Mark davon ab, ihm laut ins Gesicht zu lachen. Die Frage, die sein Vater stellte, war vielleicht rein rhetorisch, aber nichtsdestotrotz ehrlich gemeint gewesen. Er war sich keiner Schuld bewußt - und welcher auch? Sollte er seinen Vater vielleicht für das verantwortlich machen, was er gestern und heute getan hatte? Oder gar für seine Alpträume? Das war lächerlich.

»Nein«, sagte er nur. »Ich bin nur...« froh, wieder zu Hause zu sein. Trotz allem. »... müde.«

Er schloß die Tür und ging zur Treppe. Sein Zimmer lag im Erdgeschoß, gleich unten neben der Haustür, aber er wurde immer langsamer, während er die Treppe hinunterging - obwohl er tatsächlich so müde war, wie er behauptet hatte. Trotzdem. Irgendwie spürte er, daß dies ein wichtiger Moment war, den er nicht mit Schlafen vergeuden sollte, wenigstens nicht gleich. Er war nach Hause gekommen, nicht für eine Stippvisite zwischendurch, nicht als Besucher für zwei, drei Tage oder eine Woche, sondern endgültig. Eine Heimkehr war immer etwas Besonderes, selbst wenn sie unter so unglückseligen Vorzeichen stattfand wie diese. Und eine Heimkehr war es. Es spielte keine Rolle, ob er für immer gekommen war oder vielleicht auch diesmal nur für wenige Tage. Was zählte, war allein, daß er zu Hause war, an dem Ort, an den er gehörte.

Es war ein sonderbar wohltuender Gedanke - und zugleich einer, der Mark sehr verwirrte, denn er widersprach so ziemlich allem, was er in den letzten Wochen und Monaten gedacht und selbst heute morgen noch empfunden hatte. War er nicht sicher gewesen, dieses Haus und vor allem seinen Hausherrn zu hassen? Hatte er nicht allen Grund, Groll gegen seinen Vater zu empfinden, den Mann, der ihm seine Jugend und seiner Mutter das Leben gestohlen hatte? Nichts hatte sich daran geändert. All diese Gefühle waren noch da, ebenso präsent wie am Morgen. Und trotzdem - es wurde ihm erst jetzt wirklich bewußt, aber im gleichen Moment, als er das Haus betreten hatte, war etwas in ihm geschehen. Er war nach Hause gekommen, zum ersten Mal seit sechs Jahren wirklich.Er war an dem Ort, an den er hingehörte.

Er hatte das Ende der Treppe fast erreicht, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Marianne, die ihm wahrscheinlich nacheilte, um ihm die Tür zu offnen, sein Bett aufzuschlagen und ihn auf genau die aufdringlich liebenswerte Art zu bemuttern, auf die sie es vom Tag seiner Geburt an getan hatte. Wahrscheinlich, dachte er spöttisch, hatte sein Vater sie bereits instruiert, ihm das königliche Prinzgemach zu richten und ein Glas warme Milch mit Honig bereitzustellen. Das war auch etwas, was er ändern würde, und zwar schnell. Marianne war zwar tatsächlich so etwas wie eine Ersatzmutter für ihn - und in den letzten Jahren mehr, als es seine richtige Mutter je gewesen war -, aber er würde ihr trotzdem erklären, daß er nicht mehr acht, sondern achtzehn war und sich somit das eine oder andere in ihrem Verhältnis ändern mußte.

Aber nicht heute. Nicht jetzt. Im Augenblick empfand er den Gedanken, ein wenig bemuttert zu werden, als ganz angenehm.

Er trat von der letzten Stufe herunter und drehte sich herum, weil er ihre Nähe spürte, aber hinter ihm war nichts.

Er spürte genau, daß er nicht allein war. Jemand war hier. Er spürte es, mit der unerschütterlichen Sicherheit eines Raubtieres, das Witterung aufgenommen hatte, dem Instinkt eines Blinden, der die unmerkliche Veränderung des Luftdrucks in seiner Nähe fühlte, er... wußte einfach, daß jemand hier war. Aber er war allein. Über ihm lag nichts als die Treppe und der perspektivisch abgeschnittene Rest des Korridors, und jetzt konnte er Marianne auch hören: Sie hantierte in der Küche unten mit Geschirr und summte dabei leise vor sich hin, wie sie es seit eh und je tat; und so falsch wie eh und je.

Was?

Marks Atem beschleunigte sich, und seine Hände begannen zu zittern. Was geschah hier? Was geschah mit ihm? Er machte einen unsicheren Schritt zurück, senkte den Blick und sah seinen Schatten, der als schwarzes Leporello vor ihm die Treppenstufen hinaufgefaltet war, aber er sah auch den anderen, zweiten Schatten, der dicht neben seinem eigenen stand, etwas kleiner, schlanker, der eines Mädchens oder einer sehr zierlichen Frau, ein Schatten, der keinen Körper hatte, sondern einfach nur da war, als hätte das Sonnenlicht oder der, der es schickte, einen Teil des Universums ausgelassen, vielleicht, weil es verboten war, weil dieser Teil etwas verbarg, dessen Anblick tödlich gewesen wäre, oder Schlimmeres.

Mark fuhr herum und hätte durch die hastige Bewegung fast das Gleichgewicht verloren. Sein Herz hämmerte jetzt so schnell, als wollte es aus seiner Brust heraushüpfen. Er war allein. Allein. Niemand war hier. Nur er und der Schatten, und das unsichtbare Etwas, das ihn warf.

Er strauchelte, fand mit einer instinktiven Bewegung am Treppengeländer Halt und preßte für eine Sekunde so fest die Lider zusammen, daß es weh tat und er bunte Sterne und Farbblitze sah. Als er die Augen wieder öffnete, war der Schatten verschwunden.

Weil er nie dagewesen ist! Er versuchte sich zur Ruhe zu zwingen, bot jedes Quentchen Logik und Verstand und Selbstbeherrschung auf, das er noch in sich fand. Da war kein Schatten. Da war nie einer gewesen. Übermüdung, Streß, Angst, Zorn, Frustration und Verwirrung - es gab tausend gute Gründe, Halluzinationen zu haben, aber keinen einzigen, tatsächlich ein Gespenst zu sehen. Jedenfalls keinen guten.

Doch das Wunder geschah. Gerade in dem Moment, in dem er spürte, wie die Barrieren aus Vernunft und logischem Überlegen zu wanken begannen, zog sich der Schrecken zurück. Sein Herz raste immer noch, und seine Hände zitterten so heftig, daß er es auch mit aller Macht nicht unterdrücken konnte, aber der schwarze Sumpf aus Wahnsinn, in dem er zu versinken begonnen hatte, war plötzlich weg.

»Mark?«

Diesmal war es wirklich Marianne. Mark sah auf und blickte in ihr schmales Gesicht, auf dem sich ein Ausdruck erschrockener Überraschung breitmachte. Er hatte nicht gehört, daß sie die Küche verlassen hatte und hergekommen war. »Was ist los mit Ihnen?«

»Nichts«, sagte Mark. »Was soll denn sein?« Er versuchte zu lächeln, konnte es aber nicht. Seine eigene Stimme klang wie die eines Fremden in seinen Ohren.

»Ich dachte, ich hätte ein Geräusch gehört.« Marianne kam näher, und die Überraschung in ihren Augen wurde nun eindeutig zu Sorge. »Ist auch wirklich alles in Ordnung? Sie sind kreidebleich.«

»Ich fühle mich nicht gut«, antwortete Mark. »Aber es ist nichts. Ich bin nur müde, das ist alles.«

Marianne sah ihn auf eine Art an, die jede Erklärung dazu, was sie von seiner Antwort hielt, überflüssig machte, und wäre die Situation auch nur ein wenig anders gewesen, hätte Mark sicher gelächelt - er war noch nie ein guter Lügner gewesen, und Marianne etwas vorzumachen war schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit. Aber die Situation war nicht anders, und so nickte er nur noch einmal schwach und sagte erneut und sehr leise: »Nur müde.«

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