42. Kapitel

Er hatte sich verschaltet, so daß der Wagen plötzlich und sehr viel heftiger abbremste, als Bremer erwartet hatte. Der Motor heulte auf, und Bremer reagierte überhastet und zum zweiten Mal falsch und hatte um ein Haar zu allem Überfluß auch noch die Lenkung verrissen, so daß der Krankenwagen auf kreischenden Reifen um die Kurve schlingerte. Hinter ihm quietschten Bremsen. Ein greller Lichtreflex huschte über den Rückspiegel, und nur einen Augenblick später schoß ein Wagen an dem Krankentransporter vorüber. Der Fahrer drückte abwechselnd auf Hupe und Lichthupe, aber er fand im Vorbeifahren noch immer Zeit, ihm einen Vogel zu zeigen. Bremer tat so, als hätte er es gar nicht bemerkt, aber er schickte dem Mann in Gedanken eine Entschuldigung hinterher - und sich selbst einen scharfen Verweis. Er zog es vor, lieber nicht darüber nachzudenken, wie nahe die Scheinwerfer im Rückspiegel gewesen waren.

Sendig meldete sich über die Sprechanlage: »Was ist los?«

»Nichts«, antwortete Bremer. »Ich war ein bißchen unaufmerksam. Entschuldigung. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

»Im Moment noch«, sagte Sendig.

Täuschte sich Bremer, oder hörte er in seiner Stimme einen nervösen Unterton, der das genaue Gegenteil behauptete? Offensichtlich schon, denn nach einem winzigen Moment des Zögerns fügte Sendig hinzu: »Aber wir sollten uns ein bißchen beeilen.«

Bremer verkniff sich im letzten Moment die Frage, ob irgend etwas mit Mark nicht in Ordnung sei. Sie wäre ziemlich überflüssig gewesen. Die Frage war vielmehr, was mit Mark noch stimmte, nicht umgekehrt.

»Wie lange brauchen wir noch?«

»Zehn Minuten«, antwortete Bremer - aber das war eigentlich mehr geraten als eine realistische Schätzung. Er kannte sich in diesem Teil der Stadt nicht besonders gut aus; Berlin war schließlich kein Dorf, und sein Revier lag fast am anderen Ende. Er war seit Jahren nicht mehr hiergewesen. Außerdem mußte er sich zusammenreißen, wenn er nicht riskieren wollte, daß ihre Fahrt abrupt an einem Baum oder dem Kühlergrill eines entgegenkommenden Wagens endete. Der Fehler gerade war vielleicht sein bisher größter gewesen, aber nicht der erste.

»Zehn Minuten«, wiederholte Sendig. »Das ist lang.« Diesmal war der panische Ton in seiner Stimme auch beim besten Willen nicht mehr zu überhören. Was zum Teufel ging dort hinten vor? Bremer sah nervös auf den Tachometer. Sie fuhren schon achtzig, selbst in einem Krankenwagen eine ziemlich sichere Methode, von der ersten Polizeistreife angehalten zu werden, der sie begegneten. Vor allem in einem gestohlenenKrankenwagen, der mit ausgeschalteter Sirene und ohne Blaulicht fuhr. Bremer berührte die entsprechenden Schalter und korrigierte diese Fehler.

Er konnte Sendigs erschrockenes Keuchen über die Sprechanlage hinweg deutlich hören. »Bremer, sind Sie verrückt geworden? Was... was tun Sie?«

»Ich verschaffe uns ein bißchen Zeit«, antwortete Bremer. Er gab Gas. Der Wagen beschleunigte auf neunzig, dann auf fast hundert Stundenkilometer. Die heulende Sirene und das zuckende blaue Licht scheuchten den Verkehr vor ihnen zwar zur Seite, aber noch schneller zu fahren wagte er trotzdem nicht.

»Sie verschaffen uns die Aufmerksamkeit der gesamten Berliner Polizei«, stöhnte Sendig.

»Aber die haben wir doch sowieso schon«, antwortete Bremer. Natürlich hatte Sendig recht - es war schon ein kleines Wunder, daß sie überhaupt so weit gekommen waren. Seit sie den Fabrikhof verlassen hatten, war praktisch keine Sekunde vergangen, in der er nicht damit gerechnet hatte, das Blaulicht eines Streifenwagens im Rückspiegel auftauchen zu sehen oder gleich den Scheinwerfer eines Polizeihubschraubers am Himmel. Wie sich die Dinge doch änderten, dachte Bremer spöttisch. Gestern um diese Zeit hatte er noch zu den guten Jungs gehört, und jetzt wurde er von seinen eigenen Kollegen gejagt.

»Wahrscheinlich kommt es darauf auch schon nicht mehr an«, murmelte Sendig. »Also gut - aber wenn Sie schon schnell fahren müssen, dann beeilen Sie sich wirklich. Und geben Sie Bescheid, wenn wir uns der Fabrik nähern.«

Er schaltete ab, und Bremer gab noch ein bißchen mehr Gas, allerdings nicht sehr viel. Die Sirene verschaffte ihnen ein wenig Luft, aber sie machte sie nicht unverwundbar. Für die nächsten Minuten mußte er seine gesamte Konzentration darauf verwenden, den Wagen heil durch den Verkehr zu bekommen: eine Aufgabe, die beinahe mehr von ihm verlangte, als er noch zu leisten imstande war. Zu der geistigen Erschöpfung kam nun allmählich auch ganz profane körperliche Müdigkeit. Trotzdem war er irgendwie froh darüber - auf diese Weise mußte er wenigstens für ein paar Minuten nicht über Sendig, Mark und die Schatten nachdenken. Und das, was sie erwartete.

Seine Schätzung war aber trotz allem noch zu optimistisch gewesen. Obwohl er so schnell fuhr, wie er nur konnte, brauchten sie annähernd zehn Minuten, um Sillmanns Fabrik zu erreichen - und dann wäre er um ein Haar noch daran vorbeigerast. Im buchstäblich allerletzten Moment erkannte er die pappelgesäumte Zufahrt wieder und trat so hart auf die Bremse, daß im hinteren Teil des Wagens irgend etwas umfiel und klirrend zerbrach.

Sendig selbst meldete sich eine halbe Sekunde später über die Sprechanlage. »Ich nehme an, das heißt, daß wir da sind«, sagte er säuerlich.

»Ich sollte Ihnen doch Bescheid sagen, oder?« Bremer kurbelte heftig am Lenkrad und brachte das Kunststück fertig, den Wagen doch noch in die Einfahrt zu lenken, ohne die Hälfte der Pappeln auf der linken Seite abzurasieren. »Ist irgend etwas passiert?«

»Nein«, sagte Sendig. »Aber halten Sie trotzdem für einen Moment an. Ich komme nach vorne. Ich will es genießen, wenn wir einen Looping schlagen.«

Bremer bremste behutsam ab. Er ließ das Blaulicht laufen, schaltete aber die Sirene ab und lenkte den Wagen an den rechten Straßenrand. Der Weg war nicht mehr sehr weit, aber er konnte die Fabrik trotzdem noch nicht sehen. Vor dem dunklen Hintergrund der Nacht erhob sich nur ein Gebirge aus Schatten, das ebensogut fünfzig Meter wie eine Million Meilen entfernt sein konnte. Er wußte, daß Sillmanns Fabrik zum größten Teil in den Gebäuden eines ehemaligen Gutshofes untergebracht war, aber die Schatten dort vorne deckten sich auf eine unheimliche Weise nicht mit seinen Erinnerungen. Sie waren zu schwarz und zu groß und sahen auf eine bedrohliche Art fast organisch aus, als wäre es etwas Lebendiges, das am Ende der Straße auf sie wartete. Wenn er genau hinsah, konnte er sogar Bewegung erkennen. Der Scharten schien zu fließen, wie ein zäher Ölfleck in schwarzem Wasser, und hier und da in dieser klobigen, finsteren Masse funkelten kleine Lichter, die manchmal erloschen, wieder angingen oder auch ihre Positionen veränderten, als wären es tatsächlich Augen, die ihm zublinzelten.

Gerade, als diese Vorstellung die Grenze zwischen unangenehm und angsteinflößend zu überschreiten drohte, erkannte er, was es wirklich war: Das Fabrikgelände war von einem Ring hoher Bäume umgeben, deren Äste sich im Wind bewegten. So einfach war das.

Bremer lächelte verkrampft. Er war wirklich nervös. Aber er hatte wahrscheinlich auch allen Grund dazu.

Wo blieb eigentlich Sendig? Er hatte gesagt, daß er nach vorne kommen wollte, aber sie standen nun schon fast eine Minute hier, und hinten im Wagen rührte sich nichts. Bremer streckte die Hand nach der Sprechtaste aus, ließ den Arm aber dann wieder sinken und stieg statt dessen aus. Rasch umkreiste er den Wagen und öffnete die hintere Tür. »Sendig, wo blei -«

Verblüfft hielt er inne. Sendig drehte ihm den Rücken zu und stand halb über Marks Liege gebeugt da. Seine Schultern verdeckten Marks Gesicht, so daß Bremer nicht sehen konnte, ob er wach war oder schlief, aber dafür sah er etwas anderes: Sendig zog gerade in diesem Moment die dünne Nadel einer Injektionsspritze aus Marks Vene. Als er das Geräusch der Tür hörte, fuhr er erschrocken zusammen und versuchte, mit einer hastigen Bewegung die Spritze verschwinden zu lassen.

»Was tun Sie da?« fragte Bremer scharf.

Sendig stand das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben. Vollkommen absurd führte er seine Bewegung noch ein kleines Stück weiter und versuchte die Spritze in der Hand zu verbergen. »Er... er hat plötzlich das Bewußtsein verloren«, sagte er stockend. »Vor zwei Minuten. Ich wollte Sie nicht beunruhigen, deshalb habe ich nichts gesagt.«

Bremer trat mit einem energischen Schritt in den Wagen hinein, packte Sendigs Hand und verdrehte sie so, daß die Spritze wieder sichtbar wurde. »Was ist das?«

Sendig riß seine Hand los. »Dasselbe, was ihm der Arzt gegeben hat«, sagte er trotzig. »Was dachten Sie denn?«

»Ich wußte gar nicht, daß Sie im Nebenberuf Arzt sind«, erwiderte Bremer. Er sah auf Mark hinab. Der Junge lag wieder schlaff und mit geschlossenen Augen da. Sein Atem ging gleichmäßig, aber sehr flach.

»Das bin ich auch nicht«, sagte Sendig. »Aber ich habe Augen im Kopf. Ich habe mir einfach gemerkt, welches Mittel er genommen hat.« Er machte eine Kopfbewegung zu der Schublade hinter sich. »Gott sei Dank ist das hier ein sehr ordentlicher Laden.«

Bremer glaubte ihm kein Wort. Seine Behauptung klang durchaus logisch, und doch: In diesem Moment war Bremer hundertprozentig davon überzeugt, daß Sendig Mark umbringen wollte. Möglicherweise hatte er es schon getan.

»Was hätte ich denn tun sollen?« fuhr Sendig fort. »Er ist plötzlich zusammengebrochen. Sie wissen, was passiert, wenn er einschläft.«

»Ja - da wäre es doch ganz praktisch, wenn er sterben würde, wie?« fragte Bremer kalt.

»Unsinn!« sagte Sendig. »Denken Sie nach, Mann! Wenn ich ihn umbringen wollte, hätte ich das einfacher haben können.« Er atmete tief ein, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und sah einen Moment auf Mark hinab, ehe er in leiserem Tonfall fortfuhr: »Außerdem bin ich nicht einmal sicher, daß das etwas ändert. Denken Sie an das Mädchen.«

Seine Worte machten Bremer schlagartig wieder klar, in welcher Lage sie sich wirklich befanden. Es spielte wahrscheinlich gar keine Rolle, was Sendig beabsichtigt hatte oder nicht. Sie durchlebten einen Alptraum, in dem die Gesetze von Ursache und Wirkung nicht mehr unbedingt galten.

Marks linke Hand bewegte sich. Seine Lider zitterten, ohne sich zu heben. Trotzdem begriff Bremer, daß er dabei war, aufzuwachen. Wie es aussah, hatte er Sendig unrecht getan.

»Sehen Sie?« sagte Sendig. »Er wacht auf.«

»Bedauern Sie es?« Bremer starrte sein Gegenüber durchdringend an, aber alles, was er außer Nervosität und der noch immer glimmenden Panik in seinen Augen las, war echte Erleichterung, das gleiche Gefühl, das auch er jetzt empfand. Der Gedanke, daß Mark sterben könnte, erschreckte ihn, aber erst im nachhinein wurde ihm wirklich klar, was die Alternative gewesen wäre. Möglicherweise war ein toter Mark Sillmann gefährlicher als ein lebender - aber ein schlafender war es ganz bestimmt.

»Entschuldigung«, murmelte er.

Sendig winkte ab. »Vergessen Sie's. Los jetzt. Wir haben genug Zeit verloren.«

Загрузка...