»Sie verschweigen mir etwas«, sagte Bremer. Sendig warf die Autotür ins Schloß und kam um den Wagen herum auf ihn zugeeilt, ohne sich die Mühe zu machen, abzuschließen. »Stimmt«, sagte er einsilbig. Bremer hatte nichts anderes erwartet. Aber Sendig hatte ganz bestimmt nicht erwartet, daß er ihm plötzlich den Weg vertrat und ihn ziemlich unsanft am Arm ergriff, um ihn festzuhalten. Im allerersten Moment schien er viel zu verblüfft, um überhaupt zu reagieren. Dann blitzte es zornig in seinen Augen auf, und er versuchte sich loszureißen, allerdings mit mäßigem Erfolg. Bremers Griff war so entschlossen, daß er schon Gewalt hätte anwenden müssen, um ihn zu sprengen.
»Was soll das?« fragte Sendig erbost.
»Das frage ich Sie «, antwortete Bremer. Er war ein bißchen erstaunt über seinen eigenen Mut, vor allem, als er Sendig in die Augen sah und die Wut erkannte, die allmählich darin aufzulodern begann. Aber er war jetzt schon zu weit gegangen, um noch einen Rückzieher zu machen; nicht, wenn er überhaupt noch eine Chance haben wollte, irgendwann einmal eine klare Antwort auf eine klare Frage zu bekommen. Immerhin ließ er Sendigs Arm los, machte aber ganz bewußt keine Bewegung, um den Weg freizugeben.
»Ich finde Ihr Verhalten nicht besonders fair«, sagte er. »Ich dachte, wir hätten ein Abkommen getroffen, ehrlich zueinander zu sein.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern«, antwortete Sendig kühl. »Ich habe Ihnen vorgeschlagen, eine Weile für mich zu arbeiten, und Sie waren einverstanden. Ich kann mich nicht erinnern, versprochen zu haben, fair zu sein.«
Das war die falsche Taktik. Bremer war nicht mehr in der Laune, sich einschüchtern zu lassen, und Sendig schien das auch zu spüren, denn nach einigen Augenblicken fügte er hinzu: »Vielleicht haben Sie recht. Ich sollte Ihnen das eine oder andere erklären.«
»Das stimmt«, sägte Bremer, und Sendig unterbrach ihn sofort: »Aber nicht jetzt. Keine Sorge«, fügte er hastig hinzu, »ich will Sie nicht wieder vertrösten. Ich verspreche Ihnen, daß Sie alles erfahren werden, was Sie wissen wollen. Ich brauche nur noch ein paar Minuten. Lassen Sie mich ein, zwei Telefongespräche führen, und dann reden wir.«
»Und warum nicht jetzt?« fragte Bremer.
Sendig seufzte. »Weil jetzt weder die Zeit noch der Ort dafür ist«, antwortete er mit besonderer Betonung; und zumindest, was den Ort anging, mußte Bremer ihm widerwillig recht geben. Sie standen auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums, und sie waren nicht allein. Zwar hielt sich niemand in ihrer unmittelbaren Umgebung auf, aber es mochte eine Menge neugieriger Augenpaare geben, die in diesem Moment aus irgendeinem der zahllosen Fenster über ihnen auf den Parkplatz herabblickten. Es wäre überflüssig, Sendig Gelegenheit zu geben, sich darauf zu besinnen, daß er einen gewissen Ruf zu verteidigen hatte; einen Ruf, zu dem es eindeutig nicht gehörte, daß er sich von einem gewöhnlichen Streifenpolizisten am Arm festhalten und herumschubsen ließ.
»Also gut«, sagte er widerwillig. »Gehen Sie telefonieren. Aber wenn Sie zurückkommen, will ich ein paar Antworten.«
»Sie können mich gerne begleiten«, antwortete Sendig.
»Zu gnädig«, erwiderte Bremer höhnisch. »Ich kann mich aber auch gerne auf dem Rücksitz verstecken oder so lange auf der anderen Straßenseite warten, damit uns niemand zusammen sieht.«
Sendig starrte ihn böse an, aber er zog es vor, den ohnehin sinnlosen Streit nicht fortzusetzen, sondern ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei auf das Gebäude zu, und nach kurzem Zögern folgte ihm Bremer.
Beinahe hätte er es nicht getan. Er hatte sich von Anfang an nicht besonders wohl bei dieser ganzen Geschichte gefühlt, genauer gesagt: bei Sendig. Ihm jetzt dort hinein zu folgen hieße, sich ihm vollends auszuliefern. Bisher waren sie immerhin sozusagen auf neutralem Boden gewesen. Das fünfstöckige Gebäude mit seinen einseitig verspiegelten Fenstern auf der anderen Seite des Parkplatzes zählte jedoch eindeutig für Sendig. Trotzdem beeilte er sich, ihn einzuholen.
Sie betraten die Eingangshalle, die ebenso groß, hell und supermodern war wie das gesamte Gebäude. Ein uniformierter Beamter hinter einer Glasscheibe nickte Sendig nur flüchtig zu und drückte eine verborgene Taste unter seinem Tisch, woraufhin die innere der beiden Glastüren aufsprang. Sendig öffnete sie schwungvoll, doch als Bremer ihm folgen wollte, winkte ihn der Beamte hinter der Scheibe zurück.
Bremer seufzte, schickte sich aber in sein Schicksal. Immerhin kannte er die strengen Sicherheitsvorschriften, die nicht nur hier galten. Daß sich Sendig darüber hinwegsetzte, bedeutete offensichtlich nicht, daß es auch jeder in seiner Begleitung tun konnte. Ergeben trat er wieder an die gläserne Barriere heran und griff in die Tasche, um seinen Ausweis hervorzuziehen. Aber der Mann auf der anderen Seite der Scheibe schüttelte nur den Kopf.
»Sind Sie Bremer?« fragte er.
Bremer nickte. »Ja. Warten Sie. Ich habe meinen Ausweis -«
»Die junge Dame dort hinten wartet auf Sie«, unterbrach ihn der andere.
Bremer sah überrascht hoch, dann drehte er sich herum und blickte in die Richtung, in die die Hand des Polizister; wies. Im ersten Moment erkannte er durch das spiegelnde Glas kaum etwas; dann identifizierte er eine schlanke Frauengestalt, die unweit des Eingangs stand und erwartungsvoll zu ihm herübersah.
»Mich?« vergewisserte er sich. Niemand wußte, daß er hierherkommen würde. Vor einer halben Stunde hatte er es ja noch nicht einmal selbst gewußt.
»Sie hat nach Ihnen gefragt.«
Bremer bedankte sich, steckte seinen Ausweis wieder ein und trat ebenfalls durch die Tür, die Sendig noch immer ungeduldig aufhielt. Sein fragender Blick machte deutlich, daß er von dem kurzen Gespräch nichts mitbekommen hatte, aber Bremer ignorierte ihn. Es war zwar nur ein kleiner Triumph, aber immerhin - sollte Sendig doch zur Abwechslung einmal raten, was Sache war.
Die Frau kam ihm mit nervösen Schritten entgegen. Sie wirkte sehr unsicher und sehr ängstlich, fand Bremer. Er überlegte angestrengt, woher er sie kannte - sie war ihm nicht vollkommen fremd, das wußte er -, kam aber zu keiner Antwort. Sie war blond, sehr schlank und allerhöchstens zwanzig Jahre alt. Hätte sie nicht so verängstigt und müde ausgesehen, wäre sie sicher sehr hübsch gewesen.
»Herr Bremer?« Die Art, auf die sie ihn und nicht Sendig ansah, bewies Bremer, daß zumindest sie wußte, wer er war.
»Ja, bitte?« antwortete er.
»Bitte entschuldigen Sie, wenn ich... wenn ich Sie störe, aber ich...« Sie stockte. Ihre Stimme schwankte plötzlich, und Bremer hatte das sichere Gefühl, daß sie nur noch mit letzter Kraft die Tränen zurückhielt. Schließlich atmete sie hörbar ein und setzte neu an: »Haben Sie eine Minute Zeit für mich?«
»Sicher«, sagte Bremer. »Worum geht es denn? Kennen wir uns?«
»Ich... ich bin Angelika«, antwortete die junge Frau mit einem unsicheren Blick in Sendigs Richtung. »Angelika Hansen. Wir haben uns vor zwei Wochen kennengelernt.«
Hansen? Hansens Frau? Bremer erschrak. Natürlich. Der Junge hatte seine Frau am ersten Tag mit aufs Revier gebracht, um ihr seine neuen Kollegen vorzustellen. Aber damals hatte sie anders ausgesehen. Strahlender. Nicht so traurig. Bremer fühlte sich plötzlich sehr unwohl. Er hatte seit der vergangenen Nacht nicht mehr an Hansen gedacht, aber der Anblick seiner Frau erinnerte ihn schmerzlich wieder daran, daß diese ganze wahnsinnige Geschichte schon mehr Opfer gefordert hatte, als er wahrhaben wollte.
»Natürlich«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht sofort erkannt habe. Aber es ist -«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Es macht nichts. Ich... ich will Sie auch gar nicht lange aufhalten. Aber man hat mir gesagt, daß ich Sie hier finde, und -«
»Wer?« mischte sich Sendig ein.
Angelika blickte ihn verängstigt an, und Bremer fügte rasch und in möglichst beruhigendem Ton hinzu: »Das ist mein Kollege, Kommissar Sendig. Sie können ganz offen sprechen.«
»Auf dem Revier«, antwortete Angelika zögernd. »Ihre... Ihre Kollegen dort sagten, daß Sie mit Herrn Sendig unterwegs wären, und daß ich ihn wahrscheinlich hier finde. Und Sie auch.«
Sendig runzelte die Stirn, schwieg aber. Soviel zum Thema Geheimhaltung, dachte Bremer. Er fragte sich, ob es überhaupt irgend jemanden in dieser Stadt gab, der noch nicht wußte, daß Sendig und er zusammenarbeiteten.
»Wie geht es Ihrem Mann?« fragte er. »Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, ihn zu besuchen. Er ist doch wieder okay, oder?«
»Ich... ich weiß es nicht«, sagte Angelika. Und damit war ihre Selbstbeherrschung endgültig erschöpft. Plötzlich begann sie zu schluchzen, kämpfte noch einen Moment lang weiter vergeblich gegen die Tränen und warf sich dann an Bremers Brust.
»Ich... ich weiß nicht, wo er ist«, schluchzte sie. »Sie wollen es mir nicht sagen.«
Bremer war vollkommen überrascht. Im ersten Moment verstand er nicht einmal, was Angelika meinte. Er sah Sendig an, erntete aber nur einen verwunderten Blick. Er hielt einige Sekunden still, ehe er die junge Frau an den Schultern ergriff und sehr sanft ein kleines Stück weit von sich fortschob, um ihr ins Gesicht zu sehen.
»Was soll das heißen: Sie wollen es Ihnen nicht sagen?«
Angelika schluchzte noch ein paarmal, dann hatte sie die Tränen wieder unter Kontrolle. Mit einer fahrigen Bewegung klappte sie ihre Handtasche auf und zog ein Papiertaschentuch hervor. Aber sie benutzte es nicht, sondern begann es nur nervös mit den Fingern zu kneten. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich wollte nicht -«
»Das ist schon in Ordnung«, unterbrach sie Sendig. »Ich wäre wahrscheinlich genauso aufgeregt an Ihrer Stelle. Was haben Sie damit gemeint, als Sie sagten, Sie wüßten nicht, wie es Ihrem Mann geht?« Er sah kurz zu Bremer hin. »Ihr junger Kollege von letzter Nacht?«
Bremer nickte. »Ja. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, als Sie angekommen sind. Aber er hatte nur einen leichten Schock.«
»Ich war da«, sagte Angelika. Ihre Stimme zitterte noch immer leicht, aber sie weinte jetzt nicht mehr. »Gleich heute morgen, nachdem der Anruf vom Revier kam. Sie sagten, sie hätten ihn in die Unfallklinik gebracht. Aber da... da war er nicht.«
»Was soll das heißen?« fragte Bremer. »Ich habe selbst gesehen, wie man ihn in den Krankenwagen gelegt hat.«
»Zuerst wollten sie mich nicht zu ihm lassen«, fuhr Angelika fort. »Sie sagten, er stünde unter Schock und dürfte nicht gestört werden. Aber ich habe darauf bestanden, ihn zu sehen, und dann... dann ist ein Arzt gekommen.«
»Welcher Arzt?« fragte Sendig. »Wie war sein Name?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Angelika. »Er hat mir seinen Namen genannt, aber ich... ich habe gar nicht richtig hingehört. Ich war so aufgeregt. Ich wollte zu Gerd, aber er hat es nicht zugelassen. Er hat gesagt, er läge in Narkose.«
»Narkose?« Bremer starrte die junge Frau an. »Blödsinn. Ich versichere Ihnen, Dir Mann ist nicht verletzt worden. Er hatte einen gehörigen Schock, aber mehr auch nicht.«
»Und weiter?« fragte Sendig ruhig. Er wirkte mit einem Male sehr gespannt.
»Ich bin gegangen, aber nicht wirklich«, sagte Angelika. »Ich meine, ich habe so getan, als ob ich nachgebe. Aber als der Arzt weg war, bin ich heimlich zurückgegangen und habe gewartet, bis die Stationsschwester einen Moment weg war, um in ihr Buch zu sehen. Ich wollte die Zimmernummer wissen.«
Sendig lächelte, schwieg aber.
»Und?« fragte Bremer.
»Er war nicht da«, antwortete Angelika. »Ich meine: Es gab eine Eintragung, aber das Zimmer war leer. Ich bin hingegangen und habe nachgesehen. Es stand nur ein leeres Bett darin. Mehr nicht. Als ich zurückkam, war der Arzt wieder da. Er war ziemlich wütend und hat gedroht, mich hinauswerfen zu lassen.«
»Sie werden sich in der Zimmernummer getäuscht haben«, vermutete Sendig. »Dieses Krankenhaus ist sehr groß.«
»Nein«, sagte Angelika überzeugt. »Es war das richtige Zimmer. Ich habe nicht lockergelassen, und schließlich hat er mir gesagt, daß man Gerd weggebracht hat.«
»Wohin?« fragte Sendig.
Angelika schüttelte den Kopf. »In ein anderes Krankenhaus. Eine Spezialklinik. Aber sie haben mir nicht gesagt, welche.« Sie knüllte das Papiertaschentuch in ihrer Hand fester zusammen, und in ihren Augen schimmerten jetzt wieder Tränen. »Ich... ich habe den ganzen Morgen herumtelefoniert. Ich habe jedes einzelne Krankenhaus in der Stadt angerufen, aber er ist in keinem davon. Jedenfalls haben sie das gesagt. Was ist mit ihm passiert? Was ist wirklich passiert?«
Bremer mußte plötzlich selbst mit den Tränen kämpfen, als er den Schmerz in ihren Augen sah. Die junge Frau war mit ihren Kräften vollkommen am Ende. Wenn er jemals einen verzweifelten Menschen gesehen hatte, dann sie.
»Nichts«, sagte er hilflos. »Ich schwöre Ihnen, Angelika - ihm ist nichts passiert. Es war eine häßliche Sache. Ein Selbstmord, wissen Sie. Jemand ist vom Balkon gesprungen, und Ihr Mann und ich standen praktisch daneben. Kein schöner Anblick. Aber Gerd ist nicht verletzt worden. Es kann sich nur um einen Irrtum handeln.«
»Aber wieso ist er dann verschwunden? Und wieso sagt mir niemand, wo er ist?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Sendig an Bremers Stelle. »Bitte glauben Sie mir, Frau Hansen - Herr Bremer sagt die Wahrheit. Wahrscheinlich handelt es sich wirklich nur um einen Irrtum. Irgendeine dumme Verwechslung. Ich verspreche Ihnen, daß wir die Sache ganz schnell aufklären.« Er lächelte aufmunternd. »Wissen Sie was? Sie geben meinem Kollegen Ihre Telefonnummer, und wir rufen Sie so schnell wie möglich an. Wir finden schon raus, was da schiefgegangen ist. Wozu sind wir schließlich Polizisten?«
»Ich habe Hansens Nummer«, sagte Bremer. Auch er versuchte zu lächeln, aber es mißlang. Leise und sehr mitfühlend, allerdings wenig überzeugend fuhr er fort: »Keine Sorge. Gehen Sie jetzt nach Hause, und versuchen Sie sich ein bißchen zu beruhigen. Wir melden uns bei Ihnen, sobald wir herausgefunden haben, was da schiefgegangen ist.«
Angelika nickte. Sie versucht tapfer zu sein, dachte Bremer, aber wahrscheinlich war ihr Vorrat an Tapferkeit aufgebraucht. Was um alles in der Welt ging hier vor?
»Danke«, sagte sie. »Und entschuldigen Sie noch einmal, daß ich Sie belästigt habe, aber ich wußte mir keinen anderen Rat.«
»Das ist völlig in Ordnung«, sagte Sendig. »Aber jetzt gehen Sie nach Hause. Sind Sie mit dem Wagen hier? Wenn ja, lassen Sie ihn besser stehen. In Ihrem Zustand sollten Sie nicht Auto fahren.« Er wartete Angelikas Antwort nicht ab, sondern gab dem Mann hinter der Glasscheibe einen Wink.
»Lassen Sie diese junge Frau nach Hause fahren.« Er wartete, bis Angelika gegangen war. Dann sah er Bremer sehr lange und sehr ernst an, und schließlich sagte er: »Ich denke, ich werde doch mehr als nur ein Telefonat führen müssen.«