33. Kapitel

Die Treppe wurde von zwei langen Neonröhren beleuchtet, von denen aber nur eine funktionierte. Die andere flackerte unentwegt und verwandelte das untere Drittel des steil in die Tiefe führenden Schachtes in ein Spiegelbild dessen, was in Petri vorging. Auch seine Erinnerungen flackerten. Die Wand brach immer schneller zusammen, und im gleichen Maße wuchs die Schwärze dahinter heran. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren. Seine Erinnerungen waren nicht wirklich verschwunden, aber sie wären nicht mehr präsent. Sillmann hatte ihn hierher in den Keller des Laborgebäudes geführt, und er erinnerte sich an jeden Schritt, den sie getan hatten - aber er mußte sich dazu zwingen, mit einer Anstrengung, die ihm jedesmal ein bißchen schwerer fiel. Irgend etwas geschah mit ihm, und tief im Innern wußte er sogar, was es war. Aber der Gedanke war zu furchtbar, um ihn zu denken.

»Wo bleiben Sie, Doktor?« Sillmann hatte das Ende der Treppe bereits erreicht und vor einer schweren, mit zwei Schlössern gesicherten Tür haltgemacht. Mit der rechten Hand zog er einen Schlüssel hervor, mit dem er sie nacheinander öffnete. Die linke Hand blieb in seiner Manteltasche. Petri wußte, daß er irgend etwas darin hatte. Etwas Beunruhigendes, Gefährliches, aber er erinnerte sich nicht mehr, was es war. Als Petri nicht auf seine Frage antwortete, drehte er den Kopf und sah zu ihm hoch. In dem flackernden Licht dort unten vor der Tür schien auch sein Gesicht unentwegt zu vergehen und sich neu zu bilden. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«

»Nein«, sagte Petri hastig. »Ich komme.« Er versuchte, schneller zu gehen, aber es blieb bei dem Versuch. Er konnte es nicht - nicht, weil seine Glieder ihm den Gehorsam verweigert hätten, sondern weil er sich für einen Moment nicht mehr daran erinnerte, wie man schneller ging. Seine Zeit war zerbrochen, er lebte nur noch im Jetzt, den drei endlosen Sekunden, die sein Bewußtsein als Gegenwart akzeptierte, und das sich beständig von einem wachsenden Strom aus Erinnerungen und Bildern fortbewegte, verblassenden Bildern mit verblassenden Farben, die er immer schwerer erkennen konnte. Aber inmitten dieses aus Millionen und Abermillionen Trümmerstücken bestehenden Chaos gab es ein Bild, das Bestand hatte. Er dachte an etwas, das in seiner Tasche war. Der Grund seines Hierseins. Und der Grund für das, was mit ihm geschah.

Sillmann hatte die Schlösser geöffnet und schob jetzt die Tür auf. Obwohl er ein sehr kräftiger Mann war, kostete es ihn sichtlich Mühe, sie zu bewegen. Die Scharniere quietschten, als wären sie seit Jahren nicht mehr bewegt worden, und die Luft, die durch die Tür herausströmte, roch nach Schimmel und Alter. Sillmann machte einen halben Schritt in den dahinterliegenden Raum hinein, tastete mit der Hand nach dem Lichtschalter und betätigte ihn. Kaltes Neonlicht erfüllte den kleinen, vollkommen leeren Raum, der sich hinter der Tür erstreckte. Petri erkannte zwei weitere, massive Eisentüren, die tiefer in die Kellergewölbe des Labors hineinführten. Beide waren mit ebenso aufwendigen Schlössern gesichert wie die, durch die sie gerade gekommen waren, und zusätzlich versiegelt. Er blieb stehen, als Sillmann weiterging und mit einem anderen Schlüssel eine der beiden Türen zu öffnen begann. Seine Hände zitterten plötzlich. Er war schon einmal hiergewesen, schon oft! Seine Erinnerungen versagten immer rascher, aber was er nun spürte, hatte nichts mit Erinnerung zu tun. In diesem Raum war mehr als Licht und Staub und seit sechs Jahren nicht mehr geatmete Luft, etwas war hier, etwas, das getan worden war (von ihm?) und das Spuren hinterlassen hatte, die dem Gesetz vom ewigen Vergehen der Zeit trotzten. Es hatte etwas mit dem Ding in seiner Tasche zu tun. Dann fiel ihm noch etwas auf: Der Raum hatte keine Form. Keine, die es geben konnte. Er war genau quadratisch, fünf Schritte auf der rechten, fünf Schritte auf der linken und die gleiche Anzahl auf der vorderen und hinteren Seite, und doch war die Wand zu seiner Rechten kürzer als die anderen. Es war der gleiche Effekt wie vorhin im Wagen, nur viel deutlicher und viel erschreckender. Und diesmal konnte er ihn nicht mit der schlechten Beleuchtung oder seiner Nervosität erklären. Ein Stück der Wand fehlte. Jemand hatte einen Teil aus der Welt herausgeschnitten und die Ränder sorgsam wieder zusammengeklebt.

Sillmann hatte die nächste Tür geöffnet und zerriß das Siegel.

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