2. Kapitel

»Kamikaze!« Prein schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, als hielte er sie tatsächlich für einen Mitsubishi-Jäger aus dem Zweiten Weltkrieg, den er ersatzweise statt auf einen amerikanischen Flugzeugträger auf den aufgeschlagenen Plastikhefter vor sich herabstürzen ließ. »Genau das ist es, was Sie tun, Sillmann. Wissen Sie eigentlich, was Sie im Begriff sind zu tun, mein lieber Junge?«

»Ich bin nicht Ihr lieber Junge«, antwortete Mark ruhig. »Und ich bin auch nicht hier, um mich mit Ihnen zu streiten, Herr Direktor.« Seine Ruhe wirkte aufgesetzt, das spürte er selbst. Aber sie war es nicht. Er hatte sich auf dieses Gespräch vorbereitet, und die Reaktion, die Prein gerade demonstrierte, war nur eine von mehreren Alternativen, die er vorausgesehen und auf die er sich vorbereitet hatte, seit sehr langer Zeit.

»Bitte - dann meinetwegen Herr Sillmann«, antwortete Prein. Obwohl er die Stimme nur um eine Winzigkeit hob, brachte er es irgendwie fertig, eine Verachtung in die letzten beiden Worte einfließen zu lassen, die Marks Ruhe erschütterte. Vielleicht war es damit doch nicht ganz so weit her, wie er sich selbst eingeredet hatte.

Der Direktor stand auf und flog einen zweiten Kamikaze-Angriff auf den Kunststoffordner, um ihn mit einem Knall zuzuklappen. Der daumendicke Hefter enthielt Marks Schulakte, wie das auf dem Deckblatt eingeklebte Foto eindeutig bewies. Er hatte schon auf dem Tisch gelegen, als er hereingekommen war. Offenbar war er nicht der einzige, der dieses Gespräch vorausgesehen hatte, und vielleicht auch nicht der einzige, der gründlich darauf vorbereitet war. Prein seufzte, rammte die Hände in die Hosentaschen und starrte einen Punkt neben Marks linkem Fuß auf dem Boden an. Er sah sehr aufgebracht aus, aber auch ein wenig müde - was in Anbetracht der Uhrzeit allerdings auch verständlich war. Ein Uhr nachts war seit ein paar Minuten vorbei.

»Also gut«, sagte er. »Versuchen wir es noch einmal in Ruhe.«

»Ich glaube nicht, daß das Sinn hat«, antwortete Mark. »Mein Entschluß steht fest.« Was leider nicht einmal annähernd für seine Stimme galt - sie zitterte jetzt, und Mark verfluchte sich in Gedanken dafür. Und noch einmal, als ihm klar wurde, daß er die Hände fest um die Armlehnen des Sessels gekrallt hatte. Der Verrat, den er seinen Worten verboten hatte, wurde von seiner Körpersprache begangen. Hastig löste er seinen Griff, und selbstverständlich blieb auch das Prein nicht verborgen. Fehler Nummer drei - aber wahrscheinlich eher Nummer dreißig.

Mark hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Er hatte sich so gut auf dieses Gespräch vorbereitet. Seit Wochen hatte seine Lieblingsbeschäftigung darin bestanden, genau diese Szene immer und immer wieder in Gedanken durchzuspielen, in allen möglichen Variationen und natürlich immer mit dem gleichen Ende: einem, in dem er nicht nur als Gewinner, sondern auch eindeutig als Sieger aus diesem Büro herausmarschieren würde. Er hatte die besseren Karten. Er hatte das Recht auf seiner Seite: juristisch, und moralisch noch viel mehr. Und trotzdem hatte er immer mehr das Gefühl, den Kampf bereits verloren zu haben, noch bevor er eigentlich richtig begonnen hatte. Im Grunde hatte der Direktor ihm mit einer Winzigkeit den Wind aus den Segeln genommen - mit der aufgeschlagenen Akte, die auf seinem Tisch gelegen hatte, als Mark hereinkam. Sie machte jede Erklärung überflüssig. Prein hatte ebenso gewußt wie er, daß dieses Gespräch kommen würde, und auch, wann. Und er hatte es wahrscheinlich gar nicht nötig, sich darauf vorzubereiten.

»Ihr Entschluß steht also fest.« Prein schüttelte den Kopf, ging zu seinem Tisch zurück und ließ sich in den zerkratzten Ledersessel auf der anderen Seite fallen, daß das altersschwache Möbelstück ächzte. »Und das vermutlich seit Monaten. Seit... nicht ganz einem Jahr. Stimmt's?«

Mark war ziemlich überrascht, aber er versuchte, es sich wenigstens nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, und änderte nur seine Taktik, sofern er jemals eine gehabt hatte. Die Idee, einen großen Abgang zu inszenieren, sich sechs Jahre Frust und Zorn, sechs Jahre heruntergeschluckte Wut und pubertäre Rachephantasien in einer einzigen großen Szene von der Seele zu reden und mit Donnerhall und Wetterleuchten abzutreten, war hübsch als Idee, aber mehr auch nicht. Er würde einfach aufstehen und gehen. Jetzt. Er stand auf, und Prein sagte ganz ruhig und auf eine Art, die es Mark einfach unmöglich machte, nicht zu gehorchen: »Bitte setzen Sie sich wieder.«

»Herr Direktor, bitte«, sagte er. »Es hat wirklich keinen Sinn. Sie verschwenden nur Ihre Zeit, wenn Sie versuchen, mich umzustimmen.«

»Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Prein. »Ich habe schon seit einer geraumen Weile gewußt, was Sie vorhaben.«

»Woher?« fragte Mark.

Prein lächelte. »Niemand hat Sie verraten, wenn es das ist, was Sie glauben«, sagte er. »Ich bin der Direktor dieses Internats. Der Oberquälgeist. Glauben Sie wirklich, irgendeiner Ihrer Kameraden würde dem Statthalter Luzifers auf Erden ein Geheimnis anvertrauen?«

Mark blieb ernst. »Woher wissen Sie es dann?«

»Sie sind nicht der erste, der an seinem achtzehnten Geburtstag zu mir kommt, um genau das zu tun, was Sie vorgehabt haben: mir einmal richtig die Meinung zu sagen. Mir ins Gesicht zu sagen, was Sie von mir persönlich und diesem ganzen Scheißladen hier halten, und mir zumindest rhetorisch den Schreibtisch umzuwerfen. Das hatten Sie doch vor, öder?«

Mark machte nicht einmal den Versuch, seine Überraschung zu verbergen. Gut, dann konnte Prein eben Gedanken lesen. Das änderte auch nichts mehr.

»Wenn es Sie beruhigt«, fuhr Prein fort, als er einsah, daß Mark nicht antworten würde, »keiner hat es bisher getan. Jedenfalls ist keiner bisher damit durchgekommen. Ein paar sind frech geworden, aber die meisten sind am Ende einfach wieder gegangen - übrigens zum Großteil zurück auf ihr Zimmer, nicht zum Bahnhof.«

»Ich werde nicht auf mein Zimmer gehen«, sagte Mark.

Prein deutete ein Achselzucken an und sah auf die Uhr. »Sie wollen den Nachtzug nehmen, richtig? Dann haben wir noch etwas Zeit.«

Dieser Meinung war Mark eigentlich ganz und gar nicht. Es war beinahe Viertel nach eins, und er mußte sich im Gegenteil sputen, um noch rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Allen Unkenrufen zum Trotz fuhr die Bundesbahn nämlich meistens doch pünktlich, und nachts eigentlich immer.

»Ich fahre Sie zum Bahnhof, wenn Sie möchten«, sagte Prein.

»Sie?«

»Ich kann Auto fahren«, versicherte ihm Prein. »Sie wissen doch - diese Dinger mit vier Rädern, zwei Türen und einem Lenkrad vorne links.«

Mark begann sich allmählich zu fragen, ob Preins Humor wirklich echt war oder nur Bestandteil seiner Taktik, ihn einzuseifen. Wenn es ums Einseifen ging, war er gut.

»Ich dachte eigentlich, daß Sie mich dazu überreden wollen, hierzubleiben.«

»Natürlich will ich das«, gestand Prein gelassen. »Aber überreden bedeutet nicht zwingen. Geben Sie mir die Chance? Bestenfalls gelingt es mir, und wenn nicht - nun, dann sind Sie bequemer und schneller zum Bahnhof gekommen als zu Fuß. Übrigens auch trockener.«

Warum eigentlich nicht? dachte Mark. Er durchschaute Preins Falle sofort, aber dummerweise war es eine von der Art, die man ruhig erkennen konnte - man tappte trotzdem hinein. Seine guten Vorsätze und der sorgsam kultivierte Zorn, den er mit in dieses Gespräch gebracht hatte, richteten sich nun gegen ihn. Er konnte die Bitte des Direktors kaum ausschlagen, ohne vollends das Gesicht zu verlieren. Und so ganz nebenbei - Prein hatte recht: Der Weg zum Bahnhof war weit, und es war verdammt kalt draußen. Widerwillig nickte er.

»Dann lassen Sie uns gehen.« Prein stand auf, verstaute mit einer schwungvollen Bewegung Marks Schulakte in der Schreibtischschublade und zog im Hinausgehen die Jacke an, die an einem Haken neben der Tür hing. Kein Zweifel - er war gut vorbereitet gewesen. Wesentlich besser als Mark.

Sie redeten nicht, während sie die zwei Treppen in die Haupthalle hinuntergingen. Die Nacht hatte das Internat fest in ihrem Griff, auf den Fluren brannten nur die blassen Lichter der Nachtbeleuchtung, die die Proportionen der Dinge verzerrten und das Gleichgewicht von Licht und Schatten vertauschten. Und eine eigentümliche Stille schien von dem ganzen weitläufigen Gebäude Besitz ergriffen zu haben; ein Schweigen, wie Mark es hier selten erlebt hatte - und er war hier nicht das erste Mal mitten in der Nacht unterwegs.

Wahrscheinlich lag es an ihm. Nichts hier hatte sich verändert. Nicht wirklich. Er war es. Es war das unwiderruflich letzte Mal, daß er diesen Weg ging, und Mark mußte sich zu seiner eigenen Überraschung eingestehen, daß er so etwas wie Wehmut empfand. Er hatte das Internat und alles, was damit zu tun hatte, gehaßt. Vom ersten Tag an, an dem er hier angekommen war, und jedem, der ihm gefolgt war. Aber plötzlich konnte er das nicht mehr. Trotz allem war dieses Internat seine Heimat, viel mehr, als ihm bisher bewußt gewesen war. Er hatte ein Drittel seines Lebens hier verbracht - eigentlich sogar weit mehr als die Hälfte, wenn er nur jenen Teil berücksichtigte, an den er sich wirklich erinnerte -, und eine solche Zeit ging nicht spurlos vorüber. Jeder Zentimeter hier war ihm vertraut, viel mehr als sein eigenes Elternhaus, das er in den letzten sechs Jahren nur viermal gesehen hatte. Er kannte jeden Schritt, er wußte, was hinter jeder Tür lag, welche Gesichter, welche Geräusche und welche Gerüche ihn erwarteten, und er empfand tatsächlich so etwas wie einen Abschiedsschmerz, der wahrscheinlich sogar noch viel intensiver gewesen wäre, hätte er sich nicht mit aller Macht dagegen gewehrt. Das Gefühl war sehr intensiv, doch er kämpfte es mit großer Willensanstrengung nieder. Später, wenn er in der Bahn saß und es kein Zurück mehr gab, konnte er sich dem großen Katzenjammer hingeben.

Sein Gepäck stand in einem Winkel neben der Tür, der vom Licht der Notbeleuchtung ausgelassen wurde. Manchmal machte der Hausmeister nachts noch eine Runde, und Mark hatte nicht das Risiko eingehen wollen, womöglich zurückzugehen und an seine Tür hämmern zu müssen, falls er die beiden Koffer und die Reisetasche fand und etwa mitnahm. Prein zog die linke Augenbraue hoch, als er Marks Fluchtvorbereitungen sah, doch sein Kommentar beschränkte sich auf ein wissendes Lächeln. Wortlos griff er in die Jackentasche, nahm den Hauptschlüssel heraus und öffnete die Tür. Ein weiterer Pluspunkt für ihn und ein weiterer Minuspunkt für Marks Planung. Er hatte vorgehabt, durch ein Fenster zu steigen. Nicht besonders gefährlich, aber unbequem, und ganz gewiß nicht das, was man sich unter einem großen Abgang vorzustellen hatte.

Dicht hinter dem Direktor verließ er das Gebäude und erlebte die nächste Überraschung, als er Preins Wagen nur wenige Meter neben der Tür geparkt sah. »Sie hätten mir sagen können, daß Sie Gedanken lesen können«, sagte er. »Das hätte mir in den letzten Jahren wahrscheinlich eine Menge Ärger erspart.«

Prein lachte. »Aber das ist Grundvoraussetzung für meinen Job«, sagte er. »Wenn man nicht telepathisch veranlagt ist, wird man gar nicht erst eingestellt - wußten Sie das etwa nicht?« Er öffnete den Kofferraum, wartete, bis Mark sein Gepäck hineingelegt hatte, und warf den Deckel dann so schwungvoll zu, daß Mark hastig die Hand zurückziehen mußte.

»Jemand hat mich verraten«, sagte Mark grimmig.

»Nein«, antwortete Prein. »Oder doch, ja, Sie selbst.«

»Ich?«

Mark blieb überrascht mitten im Schritt stehen und starrte Prein an. Aber der Direktor war schon auf der anderen Seite des Wagens und weigerte sich, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, sondern schloß die Tür auf und stieg ein. Erst als Mark auf dem Beifahrersitz Platz genommen und sich angeschnallt hatte, redete Prein weiter.

»Das mit dem Wagen, da war ich nicht sicher«, sagte er. »Ich habe gehofft, daß Sie mir diese Chance geben, aber ganz überzeugt war ich nicht. Aber ich war sicher, daß Sie gehen. Und zwar heute, an Ihrem achtzehnten Geburtstag. Eigentlich habe ich Sie schon eine Stunde früher erwartet. Schlag zwölf. Übrigens - herzlichen Glückwunsch.«

»Und wieso?« fragte Mark. Preins Gratulation überhörte er absichtlich. Heute war sein Geburtstag, aber es bestand absolut kein Grund zum Feiern. Der Direktor startete den Motor und schaltete nacheinander das Licht und die Scheibenwischer ein. Es nieselte leicht, und die Regentropfen zerschellten auf der Windschutzscheibe zu Millionen winziger Prismen. »Weil ich Sie kenne, mein lieber Junge«, antwortete er. »Ja, ja, ich weiß - Sie sind nicht mein lieber Junge, aber ich bleibe trotzdem dabei. Aus alter Gewohnheit, sozusagen. Sie sind seit sechs Jahren hier, und Sie waren in diesen sechs Jahren nicht unbedingt das, was man einen Musterschüler nennt, nicht wahr? Ich erinnere mich nicht an einen einzigen Monat, in dem Ihr Name nicht aus dem einen oder anderen Grund in irgendeiner Besprechung erwähnt wurde - oder bei einer Beschwerde auftauchte. Und vor einem knappen Jahr hat sich das schlagartig geändert. Sie sind immer noch kein Musterschüler, aber längst nicht mehr so renitent und aufsässig wie früher. Dafür gibt es eigentlich nur zwei Erklärungen: Sie sind schlagartig vernünftig geworden oder haben sich entschlossen, die Zähne zusammenzubeißen und es irgendwie durchzustehen, ohne allzuviel Schaden zu nehmen. Und Schüler, die von einem Tag auf den anderen vernünftig werden, sind äußerst selten, das können Sie mir glauben.«

»Ich wußte nicht, daß ich so leicht zu durchschauen bin«, sagte Mark zerknirscht.

»Nur keine Sorge, das sind Sie nicht«, antwortete Prein. Plötzlich lachte er wieder. »Soll ich Ihnen verraten, woher ich so genau wußte, wann Sie abreisen? Sie haben vor zwei Wochen das Ticket gekauft. Der Mann am Fahrkartenschalter hat mich angerufen.«

»Wie bitte?« fragte Mark entrüstet.

»Das hier ist eine kleine Stadt«, sagte Prein. »Sie sind nicht der erste Internatszögling, der sich klammheimlich eine Fahrkarte besorgt und abreist. Wir haben... gewisse Vereinbarungen mit den Leuten am Bahnhof.«

»Interessant«, sagte Mark. »Aber nicht so ganz legal, oder?«

»Keine Ahnung«, gestand Prein. »Und im Moment wohl auch ziemlich gleichgültig. Haben Sie wenigstens vor, weiter zur Schule zu gehen? Sie wissen, daß Sie das Abi mit links schaffen können, wenn Sie sich nur ein bißchen anstrengen.«

»Also kommen Sie endlich zum Thema«, sagte Mark. Der Wagen hatte die Ausfahrt erreicht, und Prein warf einen raschen Blick in beide Richtungen die Straße hinunter, bevor er Gas gab. Obwohl das Internat mitten in der Stadt lag, waren sie das einzige Fahrzeug, das unterwegs zu sein schien.

»Das bin ich schon die ganze Zeit«, antwortete Prein. »Wir reden über Sie, oder etwa nicht? Und um nichts anderes geht es. Ob Sie es glauben oder nicht - ich kann Sie verstehen.«

»Das glaube ich kaum«, sagte Mark leise. Vermutlich glaubte Prein sogar genau zu wissen, was in ihm vorging, aber das konnte er gar nicht. Er hatte sechs Jahre Einzelhaft in der Hölle hinter sich, und er wußte nicht einmal, warum. In ihm saß ein Schmerz, der so tief war und so fest verwurzelt, daß er ihn wahrscheinlich nie wieder völlig loswerden würde. Man hatte ihn verletzt. Nicht nur sein Vater, die ganze Welt hatte ihn verletzt, vollkommen grundlos und sehr tief. Dafür haßte er sie: die ganze Welt, seinen Vater und am allermeisten sich selbst, daß er diese grausame Strafe so lange ertragen hatte, ohne den Mut aufzubringen, sich zu wehren. Und im Grunde tat er das auch jetzt noch nicht. Er lief davon, das war alles.

»Ich war nicht besonders begeistert, als Ihr Vater Sie damals hergebracht hat«, sagte Prein. »Ich leite zwar ein Internat, aber ich lebe trotzdem nicht im vorletzten Jahrhundert. Ich glaube nicht, daß man irgend jemanden zu seinem Glück zwingen kann. Sie wollten nicht hier sein. Sie wollten nicht kommen, und Sie wollten nicht bleiben. Und Sie waren jeden einzelnen Tag unglücklich, an dem Sie hiergewesen sind. Richtig?«

Mark schwieg, doch das war Prein Antwort genug.

»Ich kenne solche Geschichten zur Genüge«, sagte er. »Sie gehen fast immer schief. Und bei Ihnen hat es mir besonders leid getan.«

»Und wieso?« fragte Mark einsilbig. Er fühlte sich immer unbehaglicher. Er hatte erwartet, daß Prein ihm drohen oder ihn ködern oder mit einer Kombination aus beidem versuchen würde, ihn umzustimmen, doch er tat nichts von alledem, und damit verstieß er irgendwie gegen die Spielregeln. Was er tat, das war nicht fair.

»Weil ich Sie mag«, antwortete Prein ganz offen. »Sie sind ein intelligenter Junge. Sie waren damals ein intelligentes Kind, und Sie sind zu einem cleveren jungen Mann herangewachsen, der seinen Weg ganz bestimmt geht. Ich nehme meinen Beruf sehr ernst, wissen Sie. Ich glaube nicht, daß meine Pflicht sich darin erschöpft, Ihnen acht Stunden am Tag lateinische Vokabeln einzuhämmern und es Ihnen möglichst schwerzumachen, sich außerhalb der Sperrstunde aus dem Internat zu entfernen. Außerdem zahlt mir Ihr Vater eine Menge Geld dafür, daß ich mich um Sie kümmere.«

Endlich kam er zur Sache, dachte Mark. Sein Vater hatte die Hand im Spiel, natürlich hatte er das. Was hatte er erwartet? »Weiß er Bescheid?« fragte er.

»Ihr Vater?« Prein schüttelte den Kopf. »Gott bewahre, nein. Noch nicht. Ich werde ihn anrufen - das muß ich -, aber nicht sofort. Sie sind um sieben am Bahnhof, richtig? Dann reicht es, wenn ich ihn kurz danach benachrichtige. Er wird mir glauben, wenn ich behaupte, daß Ihr Verschwinden erst am Morgen aufgefallen ist. Versprechen Sie mir, nach Hause zu gehen und nicht irgendeinen Blödsinn zu machen?«

»Sie haben doch gerade selbst gesagt: Ich bin ein intelligenter Junge. Würde ein intelligenter Junge irgendeinen Blödsinn machen?«

»Gerade die Intelligentesten machen den größten Blödsinn«, sagte Prein lachend. »Sie würden sich wundern.«

Mark warf einen Blick nach vorne. Sie waren nicht mehr weit vom Bahnhof, entfernt. Die Dreiviertelstunde Fußmarsch, die er einkalkuliert hatte, war auf knapp fünf Minuten zusammengeschrumpft, aber er wünschte sich fast, er hätte Preins Angebot ausgeschlagen. Der Direktor spielte dieses Spiel nach seinen Regeln, die Mark weder kannte noch beherrschte. Er sollte nicht so freundlich sein.

»Warum tun Sie das?« fragte er.

»Was?«

»Das wissen Sie genau«, antwortete Mark. »Sie geben sich doch nicht mit jedem Ihrer Schüler so große Mühe. Es ist mitten in der Nacht, und Sie sollten eigentlich wütend auf mich sein.«

»Und wer sagt Ihnen, daß ich es nicht bin?«

»Hat mein Vater Ihnen den Auftrag gegeben?« fragte Mark ganz direkt.

»Ich sagte Ihnen doch: Ihr Vater weiß nichts davon«, antwortete Prein. »Warum ich es tue? Zum einen, weil ich meinen Beruf sehr ernst nehme, wie ich schon sagte, und zum anderen, weil ich es ehrlich bedauern würde, wenn Sie jetzt alles wegwerfen. Sie konnten eine glänzende Zukunft vor sich haben. Sie sind intelligent genug, um ein Studium zu schaffen. Sie sind nicht faul, Ihr Vater hat Geld - und Sie laufen vielleicht gerade Gefahr, das alles zu verlieren.«

»Geld«, murmelte Mark düster. »Ja, das hat er. Aber sonst auch nichts.«

Prein sah ihn auf eine sonderbare Weise an. Er antwortete nicht, sondern warf einen Blick in den Rückspiegel, setzte trotz der vollkommen leeren Straßen den Blinker und bog auf den Bahnhofsvorplatz ein.

Sein vorbildliches Verhalten als Autofahrer hörte dann aber auch schon auf. Er parkte nicht nur direkt vor dem Haupteingang, sondern machte sich einen Spaß daraus, den Wagen zweimal vor und zurück zu setzen, um auch ganz genau unter dem Halteverbotsschild zum Stehen zu kommen. Erst dann drehte er den Zündschlüssel herum, lehnte sich im Sitz zurück und fragte: »Hassen Sie Ihren Vater?«

Mark mußte tatsächlich einen Moment über diese Frage nachdenken. Es war nicht das erste Mal. Er hatte sich schon oft selbst gefragt, ob er seinen Vater tatsächlich haßte, aber er hatte bisher noch nicht wirklich eine Antwort auf diese Frage gefunden, und vielleicht wollte er das auch gar nicht. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich glaube nicht. Damals, als... als das mit meiner Mutter geschah und er mich hierhergebracht hat, da habe ich geglaubt, daß ich ihn hasse. Aber das stimmte nicht. Ich liebe ihn nicht besonders.«

Prein sah ihn an, als wäre dies schlimmer, als hätte er seine Frage mit einem klaren Ja beantwortet. »Wie geht es Ihrer Mutter?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, sagte Mark. »Ich habe seit mehr als einem halben Jahr nichts mehr von ihr gehört. Aber ich werde sie besuchen, gleich morgen.«

»Das sollten Sie auch«, sagte Prein. »Und vielleicht sollten Sie sich Gedanken über Ihre Zukunft machen. Ich meine, haben Sie sich je überlegt, wie sie aussehen soll?«

»Nein«, gestand Mark. »Aber ich weiß ziemlich genau, wie sie nicht aussehen wird. Ich werde nicht hierbleiben.«

»Sie können jederzeit zurückkommen«, versicherte Prein.

»Und warum sollte ich das?« wollte Mark wissen. »Warum erst weggehen, um dann wiederzukommen?«

»Weil man sich oft an einem Ort wohler fühlt, zu dem man zurückkehrt«, antwortete Prein mit großem Ernst. »Es sind noch anderthalb Jahre bis zum Abitur. So lange ist das nicht. Es gibt bessere Schulen als unsere, das ist mir klar. Aber es gibt auch eine Menge schlechterer. Überlegen Sie es sich. Es ist immerhin eine Alternative. Bleiben Sie einfach ein, zwei Wochen bei Ihrem Vater, und danach kommen Sie zurück, wenn Sie wollen.«

»Und dann?« fragte Mark. Spätestens jetzt sollte er wütend auf Prein werden, denn nach all diesen semantischen Kopfständen ging er nun ziemlich plump vor. Er hatte versucht, sich anzuschleichen, und es war ihm gelungen. Aber offensichtlich wollte er nun die letzten Meter im Sturmangriff zurücklegen.

»Das wird sich zeigen«, sagte Prein. »Ein Studium, nehme ich an. Ich habe mit Ihrem Vater schon vor einer ganzen Weile darüber geredet. Er ist ein sehr eigenwilliger Mensch, und er wird es Ihnen sicher nicht leichtmachen. Aber glauben Sie mir: Sie werden bestimmen, wie es weitergeht, nicht er.«

»Das tue ich doch bereits.«

»Nein«, widersprach Prein. »Was Sie gerade machen, ist etwas anderes. Sie haben endlich die Schlüssel zu Ihrem Abteil bekommen, und jetzt reißen Sie die Tür auf und springen blindlings hinaus. Es ist nicht ganz ungefährlich, von einem fahrenden Zug zu springen. Man kann ziemlich hart landen.«

»Ich weiß«, sagte Mark. »Aber ich glaube, er fährt in eine Richtung, die mir nicht gefällt. Ich kann nicht warten, bis er von selbst anhält.«

»Dann ändern Sie seine Richtung«, antwortete Prein. »Sie können jetzt die Weichen stellen. Aber das geht nicht mit Gewalt. Sie wollen weg? Dann reden Sie mit Ihrem Vater, damit er Sie gehen läßt. Auf eine andere Schule meinetwegen. Obwohl ich es bedauern würde. Vielleicht in eine andere Stadt - eine, die Sie aussuchen.«

»Ja«, sagte Mark. »Und irgendwann einmal werden wir uns wiedersehen, und ich werde älter und viel vernünftiger geworden sein und meinen Doktor gemacht haben, damit ich als zukünftiger Chef der Sillmann-Werke auch vorzeigbar bin, und wir werden gemeinsam darüber lachen, wie dumm ich doch damals war. Nein, danke.« Seine Stimme wurde bitter. »Sie sind auch nicht anders als er.«

»Was ist so schlecht daran, vernünftig zu sein?« wollte Prein wissen.

»Nichts, sobald man sich darüber verständigt hat, was man unter dem Begriff vernünftig versteht.«

»Ich denke, so sehr unterscheiden sich unsere Auffassungen da gar nicht«, erwiderte Prein. »Denken Sie über meinen Vorschlag nach. Ich gebe Ihnen offiziell zwei Wochen frei vom Unterricht. Mehr kann ich nicht verantworten. Aber diese zwei Wochen kriege ich hin; auch Ihrem Vater gegenüber. Was halten Sie davon?«

Er hatte es geschafft, Mark ein weiteres Mal zu verblüffen. Sein Vorschlag klang verlockend, denn er schien ihm alle Optionen offen zu lassen. Aber zugleich spürte Mark auch, daß das eben nur so schien. Was Prein ihm wirklich bot, das war nicht die Möglichkeit, zurückzukommen und alles besser zu machen, sondern ein bequemer Weg, sich aus der Verantwortung zu schleichen. Nicht sehr weit und nicht für lange, aber vielleicht schon zu weit. Wenn es etwas gab, das Mark an sich selbst haßte, dann war es seine Unfähigkeit, nein zu sagen. Bei aller Zeit, die er gehabt hatte, darüber nachzudenken, war ihm sein Entschluß, an seinem achtzehnten Geburtstag ein neues Leben nach seinen Vorstellungen zu beginnen, trotzdem unendlich schwergefallen. Er hatte es getan - oder war zumindest auf dem besten Weg dazu -, aber er ahnte auch, daß er, wenn er Preins Angebot jetzt annahm, alles zunichte machen würde. Diese Zweiwochenfrist zu akzeptieren würde eben bedeuten, nicht nein zu sagen, und das nächste Mal würde es ihm noch schwererfallen.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte er.

Prein sah auf die grün leuchtende Digitaluhr im Armaturenbrett. Er hatte noch fast eine halbe Stunde, ehe sein Zug kam. Eine lange Zeit auf einem kalten, zugigen Bahnsteig. Aber er versuchte nicht mehr, Mark zu irgend etwas zu überreden, nicht einmal dazu, die restliche Zeit im geheizten, trockenen Wagen zu verbringen, sondern stieg wortlos aus und half ihm, das Gepäck aus dem Kofferraum zu holen.

Wenigstens ersparte er ihm eine große Abschiedsszene. Er stieg einfach wieder ins Auto, während Mark die Bahnhofshalle betrat, aber er fuhr nicht weg. Erst eine halbe Stunde später, als der Zug langsam aus dem Bahnhof hinausrollte und die Fünf-Stunden-Reise durch die Nacht antrat, sah Mark ihn vom Bahnhofsvorplatz wegfahren.

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