19. Kapitel

Den ganzen Nachmittag über war er vermeintlich ziellos durch die Stadt geirrt. Er konnte nicht mehr sagen, wo er überall gewesen war und wie lange; und er wußte auch nicht, was er in dieser Zeit getan oder auch nur gedacht hatte. Hinter seiner Stirn herrschte ein einziges heilloses Chaos. Erst sehr viel später wurde ihm klar, daß es nicht der ganze Nachmittag gewesen war, sondern allenfalls zwei Stunden, und daß er auch nicht ziellos durch die Stadt gelaufen war, sondern ganz im Gegenteil höchst zielbewußt. Aber während er unterwegs war, war es, als bewege er sich durch eine fremde Welt. Alles kam ihm mit einem Male feindselig und aggressiv vor: Die Menschen, denen er begegnete, schienen ihn mißtrauisch zu belauern, die Geräusche waren zu schrill und zu laut, das Licht zu grell und zu hart, die Häuser, an denen er vorbeikam, erschienen ihm wie die Mauern eines gewaltigen, die ganze Welt umspannenden Labyrinthes, in dem er herumirrte wie eine Laborratte im Glaskasten, die einfach nicht begriff, daß es keinen Ausweg daraus gab.

Aber vielleicht war er ja auch nicht viel mehr. Für seinen Vater und Petri - genau wie für Löbach? - war er möglicherweise niemals mehr gewesen, ganz egal, wie oft sie das Gegenteil beteuerten: ein Experiment. Selbst einmal unterstellt, ihre Geschichte wäre die Wahrheit - was er keine Sekunde lang glaubte. Er gestattete sich nicht, sie zu glauben - selbst dann hätten sie kein Recht gehabt, ihm das anzutun. Sein Vater hatte behauptet, es nur seinetwegen getan zu haben, um seiner und seiner Mutter willen - lächerlich! Sie hatten kein Recht. Niemand hatte das Recht, so etwas zu tun. Sie hatten ihm sechs Jahre seines Lebens gestohlen - mehr noch: im Grunde sein ganzes Leben, denn sie hatten auch die Erinnerung an die Zeit davor fast vollkommen ausgelöscht, und es gab nichts, was das rechtfertigte. Er kam sich benutzt vor: auf die schlimmste vielleicht mögliche Art benutzt und manipuliert.

Und doch war das nicht einmal das Schlimmste. Dies waren die Gedanken und der Schmerz, die an der Oberfläche waren. Darunter wuchs noch etwas anderes heran - etwas noch immer Körperloses und Dunkles, das aus dem Verlies am Grunde seiner Seele gekrochen war und nun heraufwollte. Vielleicht war es nichts anderes als das Wissen, daß sein Vater doch die Wahrheit gesagt hatte. Oder die Angst.

Er hatte verzweifelt versucht, sich zu erinnern. An irgend etwas - Löbach, seine Tochter, die anderen, jene schicksalhafte Nacht, von der sein Vater gesprochen hatte, irgendeine Kleinigkeit, und sei sie noch so nebensächlich, die nicht in das Bild einer ganz normalen, ein wenig langweiligen Jugend paßte, das in seinem Gedächtnis war. Aber da war nichts. Mark verstand mit jeder Minute weniger, wieso es ihm in all den Jahren nicht selbst aufgefallen war, denn jetzt, wo sein Vater und Petri ihn darauf aufmerksam gemacht hatten, begriff er mehr und mehr, wie falsch das war, was er die ganze Zeit für seine Erinnerung gehalten hatte. Und es war nicht einmal eine sehr überzeugende Fälschung. Was in seinem Kopf war, war bloß Requisite: eine bunt angemalte Pappmache-Kulisse, die einer Betrachtung aus großer Entfernung standhalten mochte, aber nicht einmal das für lange Zeit. Dahinter war nichts. Es gab Lücken und dünne Stellen in dieser Kulisse, aber wenn er daran kratzte und die blasse Farbschicht entfernte, kam nur eine allumfassende Schwärze und Leere zum Vorschein. Die Erinnerungen an die Zeit vor seinem zwölften Geburtstag existierten nicht mehr. Petri hatte zwar behauptet, daß sie wiederkehren würden, aber Mark war nicht sicher. Da hätte irgend etwas sein müssen, das erwachen wollte. Irgend etwas, das er, wenn schon nicht erkannt, so doch gespürt hätte. Doch alles, was er am Grunde dieser schwarzen Leere fühlte, war das Ungeheuer der Furcht. Es lag dort unten wie ein Ding, das seine Vergangenheit gefressen hatte und nun vielleicht daranging, auch seine Gegenwart zu verschlingen.

Hinter ihm hupte ein Wagen. Mark, der in mäßigem Tempo auf dem Bürgersteig entlangschlenderte und einen guten Meter vom Straßenrand entfernt war, stellte keine Beziehung zwischen sich und diesem Hupen her und ignorierte es zuerst. Aber dann wiederholte es sich und dann noch einmal, und er drehte im Gehen den Kopf und sah sich suchend um. Auf der Straße herrschte nicht viel Verkehr, und so bemerkte er den silbergrauen Mercedes sofort, der im Schrittempo hinter ihm herrollte. Der Fahrer sah in seine Richtung. Mark konnte mit seinem Gesicht im ersten Moment nicht viel anfangen, aber das Hupen hatte ganz eindeutig ihm gegolten, denn erstens war er allein auf dem Gehweg, und zweitens hob der Mann im Mercedes in diesem Moment die Hand und machte eine eindeutige Bewegung.

Einen Moment lang spielte Mark mit dem Gedanken, einfach weiterzugehen. Er kannte so gut wie niemanden hier in Berlin, und allein der kostspielige Wagen, den der andere fuhr, legte den Verdacht nahe, daß es jemand war, den sein Vater geschickt hatte. Hatte er ihn die ganze Zeit beobachtet? Mark beantwortete seine Frage gleich selbst: nein. Dieser Wagen wäre ihm aufgefallen.

Der Fremde hupte zum dritten Mal, und Mark gab sich einen Ruck und trat mit raschen Schritten auf die Fahrbahn hinaus und um den Mercedes herum. Die Gesten des Fahrers waren eindeutig: Mark öffnete die Beifahrertür, ließ sich in den niedrigen Schalensitz fallen und erkannte endlich den Mann hinter dem Steuer.

Ungläubig riß er die Augen auf. »Sie?« Er konnte sich nicht an den Namen erinnern, aber es war eindeutig der Polizeibeamte von heute morgen. Mit seiner grünen Jacke und der weißen Mütze wirkte er in diesem Wagen vollkommen fehl am Platze, und obwohl er lächelte, sah er zugleich nicht so aus, als ob er sich hinter dem teuren Sportlenkrad besonders wohlfühlte.

»Guten Tag, Herr Sillmann«, begann der Beamte. »Erinnern Sie sich? Wir haben uns heute morgen kennengelernt. Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?«

»Sie sind...?«

»Bremer«, antwortete der Polizist. Zugleich machte er klar, daß seine zweite Frage nur rhetorisch gewesen war, denn er fuhr bereits weiter, ohne Marks Antwort abzuwarten. Trotzdem sagte Mark: »Gern. Aber wohin fahren wir?«

»Zum St.-Eleonor-Stift«, antwortete Bremer. »Sie wollen doch dort hin, oder?«

Mark sah Bremer einen Moment lang verständnislos an, ehe er rechts und links aus den Fenstern blickte. Zum ersten Mal nahm er seine Umgebung wirklich bewußt wahr. Er erinnerte sich vage, eine Weile kreuz und quer mit der U-Bahn durch die Stadt gefahren zu sein, und er hatte geglaubt, die Züge vollkommen willkürlich gewählt zu haben. Offenbar war das ein Irrtum gewesen. Er befand sich auf dem Weg zur Klinik.

»Verfolgen Sie mich?« fragte er mißtrauisch.

Bremer fuhr ein wenig schneller und sah wie beiläufig in den Rückspiegel. Obwohl der Motor kaum hörbar lauter wurde, sah Mark doch, daß sie viel zu schnell fuhren. Die Tachonadel näherte sich der Achtzig.

»Hätte ich denn Grund dazu?« fragte Bremer.

Mark verzog ärgerlich das Gesicht und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. »Ich glaube, ich steige hier besser aus«, sagte er.

»Nicht doch.« Bremer machte eine beruhigende Geste. »Nein. Ich verfolge Sie nicht. Aber wir haben den gleichen Weg - warum sollte ich Sie nicht mitnehmen?«

Es klang so sehr nach einer Ausrede, dachte Mark, daß es schon wieder überzeugend war. Beinahe wenigstens.

»Hat die Polizei jetzt neue Dienstfahrzeuge?« fragte er.

Bremer nickte. »Ja, es war auch an der Zeit, daß man uns angemessen ausstattet.« Er lachte. »Nein - das ist kein Dienstwagen. Ich... überführe ihn nur, sozusagen.«

»Aha«, sagte Mark. »Und dabei haben Sie zufällig den gleichen Weg wie ich?«

Bremer maß ihn mit einem nachdenklichen, aber auch ganz leicht spöttischen Blick. »Wenn ich Sie beschatten würde, Mark, würden Sie es nicht merken«, sagte er. »Ich würde es zum Beispiel nicht mit diesem Wagen tun. Daß wir uns getroffen haben, ist wirklich Zufall.«

»Und eine praktische Gelegenheit, allein mit mir zu reden, nicht wahr?« fügte Mark hinzu.

»Dazu besteht kein Anlaß«, behauptete Bremer.

»Was haben Sie heute morgen bei uns gewollt?« fragte Mark.

Bremer zuckte mit den Schultern. »Routine. Wir sind verpflichtet, gewisse Untersuchungen anzustellen bei einem Selbstmord.«

»Routine?« wiederholte Mark. »Ihr Kollege, dieser Sendig - er ist ein ziemlich hohes Tier, nicht?«

»Eines der höchsten sogar«, bestätigte Bremer. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich glaube, er hat Löbach gekannt. Kannten Sie ihn?«

»Er arbeitete länger für die Firma meines Vaters, als ich lebe«, erinnerte sich Mark. Er sah Bremer aufmerksam und mit neu erwachendem Mißtrauen an. War das nun Konversation oder vielleicht doch das, was der Polizeibeamte gerade so überzeugend abgestritten hatte: ein Verhör?

»Ihr Vater und er waren Freunde, nicht?« Bremer sah wieder in der. Rückspiegel und gab noch mehr Gas. Sie fuhren jetzt fast hundert.

»Ja«, antwortete Mark. »Nein. Früher einmal... glaube ich.«

Bremer sagte nichts dazu, aber sein Gesichtsausdruck war beredt genug, und nach einigen Sekunden rettete sich Mark in ein Achselzucken. »Ich habe in letzter Zeit nicht mehr sehr viel von dem mitbekommen, was in der Firma vorgeht. Warum fahren Sie eigentlich so schnell?«

Bremer nahm tatsächlich den Fuß vom Gas, allerdings nur für einen kurzen Moment, dann beschleunigte er wieder, und sein erneuter Blick in den Rückspiegel verriet ihn. Mark drehte sich mühsam in dem Sportsitz herum, der zwar eine bequeme Position, kaum aber Bewegung ermöglichte, und musterte die Straße hinter ihnen.

Sie hatten bereits mehrere Fahrzeuge überholt, die rasch zurückfielen, aber darunter war eines, das die Distanz hielt, wenn auch in gehörigem Abstand: ein dunkelblauer, sehr großer BMW.

»Werden wir verfolgt?« fragte er.

Bremer lachte. »Kaum. Okay, ich gebe zu, ich fahre ein bißchen schneller, als die Polizei erlaubt.«

Mark verzog die Lippen. Er hatte sich den Kalauer erspart, obwohl er ihm ein paarmal auf der Zunge gelegen hatte. »Dieser BMW...«

Bremer war kein besonders guter Schauspieler. Er sah in den Spiegel und tat so, als suche er nach dem Fahrzeug, von dem Mark gesprochen hatte, aber mit dieser Vorstellung hätte er niemanden überzeugt. Anscheinend sah er das auch selber ein, denn nach ein paar Augenblicken sagte er: »Ach der. Er fährt schon eine ganze Weile hinter mir her. Anscheinend verletzt es seinen Stolz, auf einen schnelleren Wagen zu treffen. Sollen wir ihn anhalten? Sein Gesicht, wenn ich in Uniform aus dem Wagen steige, ist bestimmt sehenswert.«

Mark hakte das Thema in Gedanken ab. Er hatte wirklich andere Probleme. Anscheinend hatte dieser Bremer eine gehörige Macke, Polizeibeamter oder nicht. Oder er war sehr viel raffinierter, als er bisher angenommen hatte. Aber das spielte keine Rolle. »Wir sind jetzt gleich da«, sagte er.

Zu Fuß hätte er für den Weg sicher noch eine Stunde gebraucht, aber das Tempo, das Bremer vorgelegt hatte, hatte ihn auf wenige Minuten zusammenschmelzen lassen. Seltsamerweise war er überhaupt nicht froh darüber. Auch wenn es keine bewußte Entscheidung gewesen war, war ihm doch klar, weshalb er hier war: um mit dem einzigen Menschen zu reden, der die Geschichte seines Vaters bestätigen konnte - mit seiner Mutter. Zugleich aber hatte er Angst davor. Selbst wenn sie - was unwahrscheinlich war - seine Frage verstand, und selbst wenn sie - was noch unwahrscheinlicher war - darauf antwortete, hätte er nicht einmal sagen können, welche Antwort er hören wollte. Die, daß alles gelogen war und sein Vater ein Ungeheuer sei, das sich diese phantastische Geschichte nur ausgedacht hatte, um sich von seiner eigenen Schuld reinzuwaschen und seinen, Marks, Widerstand vielleicht für alle Zeiten zu brechen? Oder die, daß es die Wahrheit war und er allein die Schuld daran trug, daß seine Mutter als seelisches Wrack dahinvegetierte und sein Leben in den letzten sechs Jahren die Hölle gewesen war?

Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte Bremer in diesem Moment: »Sie besuchen Ihre Mutter?«

»Nein«, antwortete Mark fast erschrocken. »Das habe ich heute morgen getan, bevor ich nach Hause gekommen bin. Ich bin hier... mit jemandem verabredet. Privat«, fügte er hinzu, um jede entsprechende Frage Bremers von vornherein abzublocken. Der Polizist zog vielsagend die Augenbrauen hoch, aber er hatte den Tonfall, in dem Mark das letzte Wort ausgesprochen hatte, bemerkt und richtig gedeutet. Er sagte nichts.

Sie hatten ihr Ziel auch beinahe erreicht. Die Abzweigung zur Klinik lag unmittelbar vor ihnen. Bremer bremste unnötig hart ab, steuerte den Wagen um die Kurve und gab wieder so heftig Gas, daß Mark in den Sitz gepreßt wurde. Er sah in den Rückspiegel, und auch Mark behielt die Straße hinter ihnen aufmerksam im Auge. Es verging eine ganze Weile, ehe der blaue BMW hinter ihnen an der Einmündung vorbeifuhr und verschwand.

»Schade«, sagte Bremer. »Und ich hätte ihm so gerne eine Überraschung bereitet.« Er lachte dabei, aber dieses Lachen kam Mark ein bißchen zu laut vor, und er sah gerade lange genug in den Spiegel, um seinen Worten das meiste von ihrer Glaubwürdigkeit zu nehmen. Mark war mittlerweile davon überzeugt, daß dieser Wagen sie verfolgt hatte - aber das ging ihn nichts an. Unter normalen Umständen hätte er die Situation sicher als aufregend empfunden und versucht, nähere Einzelheiten zu erfahren; aber heute und jetzt hatte er genug mit sich selbst zu tun. Er schwieg, bis sie den Parkplatz der Klinik erreicht hatten und Bremer den Mercedes unweit der großen Marmortreppe zum Stehen brachte.

Ohne ein Wort stiegen sie aus. Und obwohl sie nicht zusammengehörten, wartete Mark ganz automatisch, bis der Polizist die Türen verriegelt hatte und um den Wagen herumgekommen war, um neben ihm die Treppe zum Hauptportal hinaufzugehen.

Es war ein sehr sonderbares Gefühl. Mark fühlte sich niemals wohl, wenn er hierher kam, aber jetzt war es anders. Er hatte beinahe Angst. So ungefähr, dachte er, mußte sich ein Delinquent fühlen, der die Stufen zum Schafott hinaufschritt. Dieses Gebäude hatte niemals Gutes für ihn bereitgehalten, aber nun beheimatete es ein weiteres düsteres Geheimnis, von dem er immer noch nicht genau wußte, wie es aussah, wohl aber, daß es sein Leben unwiderruflich und für alle Zeiten verändern würde, ganz gleich, wie die Antworten auf seine Fragen ausfielen. In gewissem Sinne erwartete ihn dort drinnen tatsächlich ein kleiner Tod - nicht das Ende seiner körperlichen Existenz, wohl aber der Abschied von jenem hochkomplizierten, verworrenen und im Grunde doch so simplen Bild aus Frustration, Zorn, Haß und Schuldzuweisungen, das sein Leben und seine Gedanken in den letzten sechs Jahren bestimmt hatte.

Er sah instinktiv die beiden gewaltigen Barockengel über dem Portal an, und im Grunde fiel ihm erst jetzt auf, wie groß sie waren und wie drohend und finster. Bisher war ein Engel für ihn stets etwas Positives gewesen (sah man einmal davon ab, daß er nicht an deren Existenz glaubte) - ein Beschützer, ein Wächter, ein Freund. Aber das waren die Engel aus den Kindergeschichten. Für die meisten Menschen blieben sie dies ihr Leben lang, aber manchmal begannen sie sich zu verändern und mutierten zu etwas, das ihrer ursprünglichen Bedeutung wahrscheinlich näherkam, als die meisten ahnten.

»Azrael...« murmelte er ganz leise, wobei ein nur angedeutetes, bitteres Lächeln auf seinen Lippen erschien. Mit Sicherheit war es kein Zufall, daß Löbachs Killerdroge damals genau diesen Namen bekommen hatte, sondern ein Wortspiel, an dem er vermutlich lange herumgebastelt und seinen infantilen Spaß daran gehabt hatte. Er fragte sich, ob Löbach seiner Erfindung wohl den gleichen Namen gegeben hätte, hätte er geahnt, auf welch schreckliche Weise er Wahrheit werden sollte.

»Wie bitte?« fragte Bremer.

Mark sah hoch und registrierte erst jetzt, daß er das Wort laut ausgesprochen hatte - allerdings wohl nicht laut genug, um es Bremer wirklich verstehen zu lassen. »Nichts«, sagte er hastig. »Ich war... in Gedanken.«

Aus einem Grund, den er selbst nicht ganz nachvollziehen konnte, wäre es ihm unangenehm, Azrael Bremer gegenüber zu erwähnen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte der Polizeibeamte mit diesem Wort gar nichts anfangen können, allenfalls, daß ihm seine biblische Bedeutung geläufig wäre. Aber er wollte nicht über dieses Thema sprechen. Schon gar nicht mit Bremer - obwohl ihm der Mann im Grunde sympathisch war. Mark war nicht sicher, ob er wieder aufhören konnte, wenn er einmal damit anfing, über seine Visionen zu reden. Vorhin in Gegenwart seines Vaters und des Arztes jedenfalls hatte er es nicht gekonnt.

Bremer öffnete die Tür und machte eine einladende Geste. »Es wird bei mir nicht allzu lange dauern«, sagte er, als Mark an ihm vorbeiging. »Wenn Sie wollen, nehme ich Sie nachher wieder mit zurück in die Stadt.«

Plötzlich grinste er. »Falls wir wieder auf den BMW stoßen, könnte ich einen guten Copiloten gebrauchen. Möglicherweise muß jemand aus der Tür heraus schießen, während ich lenke - nur für den Fall, daß es sich um Agenten einer ausländischen Macht handelt.«

»Warum nicht gleich um Außerirdische?« fragte Mark böse. Bremers Grinsen erlosch abrupt, und Mark ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei und steuerte den Empfang an, an dem er heute morgen die junge Lernschwester getroffen hatte. Er bedauerte seine eigene Grobheit beinahe; Bremer hatte nur einen Scherz machen wollen, aber er haßte es nun einmal, wie ein Kind behandelt zu werden.

Statt Schwester Beate tat nun eine ältere Frau in einem grauen Kostüm hinter dem Empfang Dienst. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten zusammen- und hochgebunden, und ihr Gesicht hatte einen harten Zug, der es älter erscheinen ließ, als es vermutlich war. Obwohl Mark als erster den Empfang erreichte, sah sie ihn kaum an, sondern blickte zu Bremer hinüber. Mark mußte sich zweimal übertrieben räuspern, ehe sie sich dazu herabließ, ihm wenigstens einen Teil ihrer Aufmerksamkeit zu schenken.

»Bitte?« fragte sie mit einer Stimme, die ebenso grau und streng klang, wie ihr Gesicht aussah.

»Mein Name ist Sillmann«, sagte Mark. »Mark Sillmann. Ich möchte gerne meine Mutter besuchen. Sie ist Patientin hier.«

Die Schwester sah ihn eine Sekunde lang vollkommen ausdruckslos an und verlagerte ihre Aufmerksamkeit dann wieder zu Bremer, der mittlerweile herangekommen war. »Und was kann ich für Sie tun?«

Ihre Besucher zum Beispiel der Reihe nach abfertigen, dachte Mark verärgert, aber er sparte es sich, das auszusprechen. Bremers Uniform gab ihm eine Autorität, gegen die er ohnehin nicht ankam.

Bremer tauschte einen bezeichnenden Blick mit Mark, nannte aber dann seinen Namen und zog völlig überflüssigerweise noch einen in Plastik eingeschweißten Dienstausweis aus der Jacke, den er der Schwester reichte, ohne ihn jedoch aus der Hand zu geben. Sie prüfte ihn sorgfältig und notierte sich etwas auf einem Blatt Papier, wahrscheinlich Bremers Namen und Dienstnummer, vermutete Mark.

»Und was führt Sie hierher, Herr Polizeiobermeister?« fragte sie.

»Es geht um einen Ihrer Patienten«, antwortete Bremer. »Ein Kollege von mir. Er ist heute morgen eingeliefert worden.«

Die Schwester machte ein fragendes Gesicht. »Ein Kollege? Sind Sie sicher?«

»Vollkommen«, antwortete Bremer. »Sein Name ist Hansen. Er hatte einen Unfall in der vergangenen Nacht. Er muß irgendwann zwischen acht und neun hergebracht worden sein.«

Die Schwester zögerte. Ihr Blick war jetzt noch unfreundlicher als zuvor, aber offenbar wagte sie es nicht, sich in einem entsprechenden Ton an Bremer zu wenden. Sie klang allerdings auch alles andere als freundlich. »Ich fürchte, Sie... sind da vielleicht einem Mißverständnis erlegen, Herr Wachtmeister«, begann sie vorsichtig. »Das hier ist -«

»- das St.-Eleonor-Stift, oder?« unterbrach sie Bremer. »Und hier wurde er hergebracht nach meinen Informationen. Ich bin sicher, daß es sich nicht um einen Irrtum handelt.«

»Ich werde mich erkundigen«, versprach die Schwester. Sie streckte die Hand nach dem Telefon aus, und Mark fand, daß es an der Zeit war, sich in Erinnerung zu bringen, solange er überhaupt noch eine Chance hätte, wahrgenommen zu werden.

»Entschuldigung«, sagte er. »Kann ich vielleicht durchgehen? Ich kenne den Weg.«

»Das mag sein, junger Mann«, antwortete die Schwester. »Aber das hier ist kein Hotel, wo jedermann kommen und gehen kann, wie er gerade lustig ist. Ich werde nachhören, ob Ihre Mutter Besuch empfangen kann. Haben Sie einen Termin?«

»Nein«, gestand Mark. »Aber ich habe heute morgen erst mit ihr gesprochen, und -«

»Ich erkundige mich.«

Während sie zu wählen begann, drehte sich Mark kurz zu Bremer herum. Der Polizeibeamte maß die Frau hinter dem Schalter mit strengen Blicken, nahm sich aber trotzdem die Zeit, Mark rasch zuzublinzeln, wobei sich für eine Sekunde ein amüsiertes Lächeln in seine Augen stahl. Der Mann wurde ihm dadurch noch sympathischer. Obwohl er ihn kaum kannte, spürte er instinktiv, daß das Urteil seines Vaters zumindest über ihn falsch gewesen war.

Mark wandte sich wieder an die Schwester und fragte: »Übrigens - hat Schwester Beate schon Feierabend? Ich bin mit ihr verabredet.«

Der Gesichtsausdruck der Schwester wurde noch unfreundlicher, als er es wagte, sie beim Telefonieren zu stören - obwohl sie höchstwahrscheinlich nur dem Freizeichen lauschte. »Es gibt hier keine Schwester Beate«, sagte sie grob und ohne ihn anzusehen.

»Wie bitte?« Mark lächelte unsicher. »Sie müssen sich irren. Ich habe heute morgen mit ihr gesprochen.«

»Sie hören doch, was ich gesagt habe«, antwortete die Schwester. »Es gibt hier niemand dieses Namens.«

»Aber -«

Die Schwester hob mit einer ruckartigen Bewegung den Zeigefinger und brachte ihn damit zum Verstummen. Mark hörte nicht hin, während sie mit ihrem Gesprächspartner am anderen Ende der Verbindung redete, aber es dauerte auch nur einen Moment, bis sie sich mit offizieller Miene an Bremer wandte: »Einen Moment Geduld noch, Herr Wachtmeister«, sagte sie. »Doktor Hallenberg wird sich gleich um Sie kümmern.« Sie hängte nicht ein, sondern hielt den Hörer fest und drückte mit zwei Fingern der gleichen Hand auf die Gabel und wählte dann eine andere Nummer. Diesmal vergingen nur wenige Augenblicke, ehe sie eine Verbindung bekam. »Dr. Ehlers? Hier unten ist ein junger Mann. Ein gewisser Mark...« Sie sah Mark eine Sekunde lang nachdenklich an, als bedürfe es seines Anblicks, um sich an seinen Namen zu erinnern. »... Sillmann. Er möchte seine Mutter sprechen. Aber er hat keinen Termin.« Sie lauschte einen Moment auf die Antwort, nickte dann und hängte wortlos ein.

»Einen Moment bitte«, sagte sie.

»Aber das ist wirklich nicht nötig«, sagte Mark. »Sie kennen mich nicht, aber ich komme sehr oft her. Ich besuche meine Mutter regelmäßig, und ich habe noch nie einen Termin gebraucht.«

»Bei mir schon«, antwortete sie unfreundlich. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, meine Herren. Ich habe noch zu tun.«

Mark spürte allmählich einen gehörigen Ärger in sich aufsteigen, und wäre Bremer nicht dabeigewesen, dann hätte er diesem Ärger vermutlich auch Luft gemacht. So sah er die Schwester nur einen Moment lang böse an und wich dann ein paar Schritte vom Empfang zurück. Bremer folgte ihm nach kurzem Zögern. Mark versuchte vergeblich, seinen Gesichtsausdruck zu deuten; er schwankte irgendwo zwischen Verärgerung und Amüsiertheit.

»Geht es hier immer so förmlich zu?« erkundigte sich der Polizeibeamte.

»Nein«, antwortete Mark. »Eigentlich habe ich das noch nie erlebt, aber ich kenne diese Schwester auch nicht. Sie muß neu sein.«

»Offensichtlich«, sagte Bremer. »Immerhin kennt sie nicht einmal den Namen ihrer Kollegin.«

»Scheint so«, sagte Mark.

Der Aufzug kam. Ein kleinwüchsiger Mann in einem weißen Arztkittel trat aus der Kabine und wandte sich mit einem fragenden Blick an die Schwester hinter dem Empfang. Sie deutete wortlos auf Bremer, der sich herumdrehte und dem Arzt entgegenging. Mark entfernte sich diskret einige Schritte; was die beiden miteinander zu besprechen hatten, ging ihn nichts an.

Bremer hatte das große Portal nicht geschlossen, so daß ein schmaler Streifen Tageslicht in das vornehme Halbdunkel der Halle fiel. Draußen fuhr ein Wagen vor. Mark hörte das gedämpfte Motorengeräusch und schlenderte mit langsamen Schritten zur Tür. Es war gar nicht so ungewöhnlich, wie er Bremer gegenüber behauptet hatte, daß er warten mußte. Selbst das Gewicht seines Namens reichte nicht immer aus, sofort vorgelassen zu werden. Ganz im Gegenteil bereitete er sich auf eine längere Wartezeit vor, zumal er ja am Morgen schon einmal hier gewesen war. Er fragte sich, ob seine Mutter sich an diesen Besuch erinnerte.

Er hatte die Tür erreicht und hielt aus purer Langeweile nach dem Wagen Ausschau, den er hatte vorbeifahren sehen. Es war kein blauer BMW, wie er eine halbe Sekunde lang erwartet hatte, sondern ein Krankenwagen. Er hatte ein gutes Stück neben dem Haupteingang angehalten, und die beiden hinteren Türen standen offen. Zwei Männer in weißen Anzügen waren damit beschäftigt, eine Trage mit einer reglosen Gestalt darauf auszuladen.

Jedenfalls unterstellte Mark, daß es Männer waren. Ebensogut hätte es sich aber auch um Frauen handeln können oder Marsmenschen.

Mark fuhr sich erstaunt mit dem Handrücken über die Augen und blinzelte ein paarmal, aber das Bild blieb. Die beiden Männer trugen weiße, den ganzen Körper umhüllende Anzüge mit fest angebrachten Stiefeln, Handschuhen und Helmen, die aus einem Science-fiction-Film hätten stammen können. Es waren Isolieranzüge. In einem Krankenhaus vielleicht kein so ungewöhnlicher Anblick - aber dies war kein normales Krankenhaus. Schon gar keines, das Patienten mit so ansteckenden Krankheiten aufnahm, daß sich die Krankenwagenbesatzung auf eine solche Weise schützen mußte. Sehr ungewöhnlich!

»Wartest du schon lange?«

Mark erschrak so heftig, daß er auf dem Absatz herumfuhr und Beate einen hastigen Schritt zurück machte. Im allerersten Moment hätte er sie kaum erkannt - statt der strengen Schwesterntracht trug sie jetzt Jeans, T-Shirt und eine knappsitzende schwarze Lederjacke, was sie wesentlich jünger und kindlicher erscheinen ließ als noch am Morgen, zugleich aber auch sehr viel attraktiver.

»Entschuldige«, sagte er hastig. »Ich war ...« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich warte noch nicht lange. Ein paar Minuten. Aber ich hatte die Hoffnung trotzdem schon fast aufgegeben.«

Beate legte fragend den Kopf auf die Seite.

»Deine Kollegin dort hinten.« Mark deutete mit säuerlichem Gesichtsausdruck über die Schulter zurück zum Empfang. »Sie hat behauptet, hier gäbe es keine Schwester Beate.«

»Ach ja, Schwester Rabiata«, sagte Beate lächelnd.

»Wie bitte?«

»Eigentlich heißt sie Ingeborg, aber alle nennen sie nur Schwester Rabiata«, erklärte Beate. »Sie kann mich nicht ausstehen. Außerdem ist sie völlig paranoid. Sie sieht in jedem weiblichen Wesen, das jünger ist als sie und besser aussieht, eine Mitgiftjägerin. Und du kennst ja die Vorschriften hier.«

Mark warf einen raschen Blick zum Empfang hinüber. Bremer war in eine heftige und offenbar nicht besonders erfreuliche Diskussion mit dem Arzt verwickelt, während Schwester Ingeborg Beate und ihn mit unverhohlenem Mißtrauen ansah. »Ich hoffe, du bekommst jetzt keine Schwierigkeiten«, sagte er.

Beate schüttelte heftig den Kopf. »Ach wo«, sagte sie. »Außerdem - hast du nicht selbst gesagt, daß du den Laden kaufst und jeden rauswirfst, der mir Ärger macht?«

Mark lachte zwar, aber eigentlich war ihm nicht danach zumute. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich ganz plötzlich wieder ebenso befangen, verunsichert und zugleich auf eine fast unerklärliche Weise zu Beate hingezogen wie am frühen Morgen. Es war ein sehr angenehmes Gefühl, aber es verwirrte ihn auch. Und ein bißchen erschreckte es ihn. Er war fast erleichtert, als Schwester Rabiata hinter dem Empfang die Hand hob und ihn heranwinkte. Beate machte keine Anstalten, ihm zu folgen, sondern blieb stehen, wo sie war. Offenbar herrschte zwischen ihr und ihrer Kollegin tatsächlich ein sehr gespanntes Verhältnis.

Er kam dicht genug an Bremer und dem Arzt vorbei, um einen Teil ihres Gespräches mitzuhören, obwohl er es gar nicht wollte.

»... aber ich fürchte, es bleibt bei meiner Entscheidung, Herr Wachtmeister«, sagte der Arzt gerade.

»Aber ich will doch nur -«

»Es tut mir leid, Herr Wachtmeister«, fuhr der Arzt in nun schon hörbar kühlerem Ton fort, »aber für uns zählt erst einmal das Wohl des Patienten, nicht, was Sie oder Ihre Kollegen oder meinetwegen auch Ihre Vorgesetzten möchten.«

»Lassen Sie mich wenigstens kurz mit ihm reden«, sagte Bremer. »Seine Frau macht sich große Sorgen.«

»Das glaube ich gern«, antwortete der Arzt ungerührt. »Aber wir tun für Ihren Kollegen, was wir können. Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden - ich habe noch andere Patienten.«

Er wollte gehen, aber Bremer hielt ihn mit einer fast befehlenden Geste zurück. »Ich hätte es lieber nicht so offiziell werden lassen, Herr Doktor«, sagte er, »aber ich kann durchaus mit einem Gerichtsbeschluß wiederkommen.«

Das war nicht die richtige Taktik. Mark spürte es, bevor der Arzt antwortete, Bremer sicher auch.

»Ganz, wie Sie meinen, Herr Wachtmeister«, sagte er ruhig. »Sie wären nicht der erste, der sich eine blutige Nase holt. Verschwenden Sie ruhig Ihre Zeit - aber bitte nicht weiter die meine.« Und damit drehte er sich herum und ging mit energischen Schritten zurück zum Aufzug.

Bremer machte ein betroffenes Gesicht, und Mark hielt es im Moment für diplomatischer, ihn nicht auf das Thema anzusprechen, sondern ging rasch die wenigen Schritte weiter zum Empfang.

Schwester Ingeborg hatte natürlich alles mitbekommen und machte keinen Hehl aus ihrer Schadenfreude. »Kein erfolgreicher Tag für Ihren Freund?« fragte sie triumphierend.

»Wir gehören nicht zusammen«, antwortete Mark. »Wir sind nur zufällig im gleichen Moment hereingekommen.«

Schwester Ingeborg zuckte nur mit den Schultern und deutete auf das Telefon vor sich. »Ich fürchte, ich habe auch für Sie schlechte Nachrichten«, sagte sie. »Ich habe mit dem zuständigen Arzt gesprochen. Wie es aussieht, gehört Ihre Mutter tatsächlich zu unseren Patienten. Aber im Moment können Sie sie unmöglich besuchen.«

Mark mußte sich beherrschen, um sich seinen Ärger über diese Formulierung nicht zu deutlich anmerken zu lassen. »Warum?« fragte er gepreßt.

»Das weiß ich nicht«, antwortete die Schwester. »Ihr Zustand läßt es nicht zu.«

»Unsinn«, sagte Mark. »Ich habe sie erst...« Er verbesserte sich im letzten Moment. »... vor kurzem besucht. Es ging ihr ausgezeichnet.«

»Sind Sie zufällig Arzt?« fragte die Schwester spitz. »Ich glaube nicht. Wenn Sie es wären, dann wüßten Sie, wie rasch sich der Zustand eines seelisch kranken Menschen manchmal ändern kann. Die kleinste Aufregung kann da ausreichen. Ich kann Ihnen jedenfalls nicht helfen.«

Mark blickte sie mit unverhohlener Feindseligkeit an, aber er sagte nichts von alledem, was ihm auf der Zunge lag. Tief drinnen war er sogar beinahe froh, seine Mutter jetzt nicht sehen zu können. Er war mit dem festen Vorsatz - nein, der Notwendigkeit - hierher gekommen, mit ihr zu reden, und er hätte sich selbst gegenüber keine Ausrede gelten lassen. Aber so unsympathisch ihm diese Schwester auch sein mochte und so sehr sie es sichtlich genoß, seinen Wunsch abzuschlagen, glaubte er doch nicht, daß sie log.

»Vielleicht haben Sie recht«, sagte er. »Ich komme später noch einmal wieder. Heute abend oder morgen.«

»Es wäre klüger, wenn Sie vorher anrufen und sich einen Termin geben lassen. Nur, damit Sie sich einen weiteren unnötigen Weg ersparen«, riet ihm die Schwester und beendete das Gespräch damit, denn sie beugte sich wieder über irgendwelche Papiere, die vor ihr lagen, und tat so, als lese sie konzentriert darin.

Mark schluckte seinen Ärger - der sich ohnehin in Grenzen hielt - herunter und ging zu Beate zurück. Sie hatte sich die ganze Zeit über nicht von ihrem Platz neben der Tür gerührt, aber als er sie erreichte, lächelte sie flüchtig und sagte: »Weißt du jetzt, warum wir sie Schwester Rabiata nennen?«

»Hm«, machte Mark. »Schwester Unfreundlich wäre passender. Ist sie immer so?«

»Ach woher«, antwortete Beate. »Sie hat heute einen guten Tag. Normalerweise läuft sie in einem roten Cape herum und hat einen Dreizack in der rechten Hand. Du hattest Glück.«

Mark lachte, aber es schien nicht sehr überzeugend zu klingen, denn Beate sah plötzlich ein bißchen besorgt aus. »Du wolltest deine Mutter noch einmal besuchen?« fragte sie. »Wenn es wirklich wichtig ist, könnte ich vielleicht etwas tun. Ich meine, ich kann nichts versprechen, aber ich kenne Doktor Ehlers gut, und -«

»Schon gut«, unterbrach sie Mark. »Es macht nichts. Vielleicht war es nicht einmal eine gute Idee. Immerhin war ich erst heute morgen hier. Es würde sie nur verwirren, wenn ich sie schon wieder besuche.« Falls sie sich überhaupt daran erinnert, fügte er in Gedanken hinzu. Er machte eine entsprechende Handbewegung und fuhr mit festerer Stimme fort: »Wenn du soweit bist, können wir aufbrechen. Du hast Zeit?«

»Soviel du willst«, antwortete Beate. Sie deutete auf Bremer: »Was ist mit ihm?«

»Nichts«, antwortete Mark. »Was... soll mit ihm sein?«

Bevor Beate antworten konnte, sagte Bremer: »Er kann sein Versprechen wahrscheinlich nicht halten.« Er wedelte bedauernd mit dem Autoschlüssel, während er näher kam. »Ich habe zwar angeboten, Sie mit zurück in die Stadt zu nehmen, aber ich fürchte, wir bekommen Probleme. Der Wagen ist ein Zweisitzer. Ich wußte nicht, daß Sie -«

»Das macht überhaupt nichts«, sagte Mark hastig. »Im Gegenteil. Es ist schönes Wetter, und ich gehe gerne spazieren. Du doch auch, oder?«

Die letzte Frage galt Beate, die sie mit einer überraschten Geste beantwortete, die man mit einigem guten Willen zumindest als die Andeutung eines Kopfnickens auslegen konnte.

»Den ganzen Weg?« fragte Bremer zweifelnd.

»So weit ist es nicht«, sagte Mark. »Zur Not halten wir ein Taxi an. Außerdem wissen wir noch gar nicht genau, wohin wir überhaupt wollen. Vielen Dank jedenfalls für das Angebot.«

Bremer sah ihn noch einen Augenblick lang zweifelnd an, aber dann zuckte er mit den Achseln und verabschiedete sich. Mark sah ihm nach, während er die Treppe hinunter und auf den geparkten Mercedes zuging. Sein Blick streifte die Stelle, an der gerade noch der Krankenwagen mit den beiden sonderbaren Pflegern gestanden hatte. Das Fahrzeug war verschwunden. Und er war auch gar nicht mehr so sicher, daß er die beiden vermummten Gestalten wirklich gesehen und sie sich nicht nur eingebildet hatte.

»Was hast du mit der Polizei zu tun?« erkundigte sich Beate.

»Der Polizei?« Mark lachte unsicher. »Nichts. Ich... kenne ihn. Privat. Aber nicht sehr gut. Wir haben uns zufällig auf der Straße getroffen, und da wir den gleichen Weg hatten, hat er mich mitgenommen.« Das war nahe genug an der Wahrheit, um glaubhaft zu klingen, und zugleich weit genug davon entfernt, Beate an weiteren unangenehmen Fragen zu hindern. Außerdem hatte sie mittlerweile auch gesehen, mit welchem Fahrzeug Bremer gekommen war, und riß verblüfft die Augen auf.

»Sieht so aus, als hätte ich mir den falschen Job ausgesucht«, sagte sie.

»Er gehört ihm nicht«, antwortete Mark. »Warte einen Moment - ich rufe uns ein Taxi.«

Er wollte sich herumdrehen, aber Beate fragte rasch: »Ich dachte, wir gehen zu Fuß?«

»Zu Fuß?« sagte Mark mit gespieltem Entsetzen.

»Aber du hast doch gerade selbst gesagt, daß du gerne spazierengehst!« antwortete Beate irritiert. »Das war gelogen«, sagte Mark. »Ich hasse Spaziergänge.« Er ging zum Empfang zurück und versuchte Schwester Ingeborgs Aufmerksamkeit zu erwecken. Es gelang ihm nicht, trotz mehrmaligen, immer lauter werdenden Räusperns.

»Könnten Sie mir ein Taxi rufen?« fragte er schließlich. Er bekam keine Antwort.

»Ich bezahle für das Gespräch, das ist kein Problem«, sagte er gereizt und legte eine Handvoll Münzen auf die Theke.

Die Schwester schob sie zurück, ohne auch nur von ihrer vorgetäuschten Arbeit aufzusehen, und sagte: »Auf der anderen Straßenseite ist ein Telefonhäuschen.«

»Sehr freundlich«, sagte Mark. »Vielen herzlichen Dank.« Innerlich kochend vor Wut ging er zu Beate zurück, marschierte an ihr vorbei und noch zwei Schritte weit auf die Treppe hinaus, ehe er wieder stehenblieb.

»Das darf doch alles nicht wahr sein!« sagte er zornig. »Was ist denn hier heute los? Wieso sind hier alle so gereizt und unfreundlich?«

»Ich habe dich vor ihr gewarnt«, sagte Beate.

»Quatsch«, antwortete Mark. »Ich komme seit Jahren hierher.«

»Sie sind alle ein bißchen nervös heute«, sagte Beate. »Es hat einen Todesfall gegeben. Aber das geht dich nichts an.«

»Du hast heute morgen nichts davon erzählt«, sagte Mark.

»Warum sollte ich auch? So etwas hängt man nicht an die große Glocke. Schon gar nicht einem Fremden gegenüber.«

Der er heute morgen noch für sie gewesen war. Beinahe hatte er vergessen, daß er dieses Mädchen erst vor ein paar Stunden kennengelernt hatte - und auch jetzt noch kaum mehr von ihr wußte als ihren Namen. Es war beinahe unheimlich, wie vertraut sie ihm schon vorkam: ein Vertrauen, das nichts mit Kennen zu tun hatte.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte dich nicht -«

»Ich wollte dir nicht die gute Laune verderben«, unterbrach ihn Beate. »Und jetzt vergiß Artner und Schwester Rabiata. Heute ist dein Geburtstag, oder? Also - wie feiern wir ihn?«

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