Die Kellnerin stellte das Tablett mit Eiscafé und Cola zwischen Beate und Mark auf den Tisch und bestand darauf, gleich zu kassieren. Das hatte sie die beiden Male zuvor auch schon getan, und Mark fand jetzt wirklich keinen plausiblen Grund dafür. Es konnte kaum daran liegen, daß sie seine Zahlungskraft anzweifelte; er hatte ganz bewußt mit einem großen Schein bezahlt und ein schon fast übertriebenes Trinkgeld gegeben. Trotzdem war sie weder freundlicher noch schneller geworden. Sie strich den Betrag auch diesmal kommentarlos ein und ging, und das auf eine Art, die Mark klarmachte, daß sie es wesentlich lieber gesehen hätte, wenn er gegangen wäre.
»Du scheinst heute deinen Pechtag zu haben«, sagte Beate. Die finsteren Blicke, die Mark der Bedienung nachschickte, waren ihr nicht entgangen.
Wenn du wüßtest, wie recht du hast! dachte Mark. Laut und mit einem schmerzlichen Verziehen der Lippen sagte er: »Vor allem, wenn man bedenkt, daß heute eigentlich mein Geburtstag ist.«
»Ja.« Beate griff nach ihrem Glas, aber sie nippte nur daran. »Was mich zu einer Frage bringt, die einer von uns allmählich stellen muß, fürchte ich. Hast du dir überlegt, wie wir ihn feiern? Ich meine«, sie machte eine Kopfbewegung auf das Glas in ihrer Hand, »noch ein Eiscafe, und ich platze.«
»Und die Kellnerin hetzt mir die Mafia auf den Hals, ich weiß«, seufzte Mark. »Entschuldige.«
»Wofür?«
»Na ja - ich habe dich eingeladen, meinen Geburtstag mit mir zu feiern. Und jetzt langweile ich dich zu Tode.«
»Ganz so schlimm ist es noch nicht«, antwortete Beate. »Aber es ist schade um den freien Tag. Ich habe nur einen pro Woche. Und die Millionärssöhne stehen bei mir Schlange, mußt du wissen. Ich muß mir schon überlegen, mit wem ich ausgehe.«
»Ich wußte es«, sagte Mark. »Schwester Rabiata hatte recht. Du bist eine Mitgiftjägerin. Ich nehme an, du willst mich betrunken machen, und wenn ich morgen früh aufwache, sind wir verheiratet.«
»Dich?« Beate schüttelte heftig den Kopf. »Bestimmt nicht. Ich will deinen Vater heiraten. Glaubst du, ich habe Lust zu warten, bis du das ganze Geld erbst?«
Mark lachte, obwohl der Scherz einen ganz leisen, üblen Nachgeschmack hinterließ. Natürlich war es ein Scherz, aber allein der Umstand, daß sie seinen Vater erwähnte, verdarb ihm den Tag noch ein bißchen mehr.
»Hoppla«, sagte Beate. Sein Gesichtsausdruck sprach offensichtlich Bände. »Jetzt bin ich wohl ins Fettnäpfchen getreten. Ich wollte dir nicht die Laune verderben.«
»Das hast du nicht«, behauptete Mark. »Ich fürchte, das geht gar nicht mehr.«
»So schlimm?«
Mark zuckte zur Antwort die Achseln - das war vielleicht klüger, als schon wieder etwas zu sagen, was ihm im gleichen Moment leid täte. In einem hatte Beate vollkommen recht - heute war sein Pechtag, und zwar in jeder Beziehung. Es hatte mit der Frau im Zug angefangen und war ohne Unterbrechung, aber mit einer deutlich ansteigenden Tendenz bis jetzt weitergegangen. Offensichtlich war er heute einfach nicht in der Lage, zu irgend jemandem freundlich zu sein.
»Möchtest du darüber reden?«
»Nein«, antwortete Mark. Andererseits: warum eigentlich nicht? Was er im Moment am allernötigsten brauchte, war jemand, mit dem er reden konnte, vermutlich sogar nur jemand, der zuhörte. Und Beate war dazu wahrscheinlich besser geeignet als jeder andere, den er kannte. Er konnte jetzt weniger sagen denn je, warum es so war, aber das Gefühl der Vertrautheit, das er vom ersten Moment an in ihrer Nähe gespürt hatte, war noch immer da, und es war sogar noch stärker geworden. Es war schon beinahe unheimlich: Alles in allem waren sie jetzt seit zwei oder drei Stunden zusammen, und er hatte das Gefühl, sie zu kennen, solange er sich zurückerinnern konnte. Was war das? dachte er. Einsamkeit, die verzweifelt nach irgendeinem Ventil suchte, oder tatsächlich einer jener seltenen Fälle, in denen sich zwei Menschen trafen, die so perfekt zueinander paßten wie die zwei zerbrochenen Hälften eines eigentlich zusammengehörenden Ganzen? Er wußte es nicht. Er wußte auch nicht, ob das, was er spürte, tatsächlich die vielzitierte Liebe auf den ersten Blick war - allein, weil er noch nie wirklich jemanden geliebt hatte. Er wußte nur, daß es ein wunderbares, warmes Gefühl war und daß er es auf gar keinen Fall irgendwie gefährden wollte. Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, dem er sich im Moment hätte anvertrauen wollen, dann war es Beate. Und zugleich war sie der letzte Mensch auf der Welt, den er mit seinen Problemen belasten wollte.
»Hm?« machte Beate.
Auch das gehörte dazu: Er verstand die Frage, ohne daß sie sie überhaupt aussprechen mußte.
»Es ist kompliziert«, seufzte er.
»Was?«
»Woran ich denken muß.«
»Zu kompliziert? Ich meine: nur für mich zu kompliziert, oder für Frauen im allgemeinen?«
»Für mich«, antwortete Mark, Er seufzte. »Es ist alles... sehr schwierig. Aber du hast schon recht - gehen wir und machen die Stadt unsicher.«
Während er aufstand, ließ er seinen Blick über die Straße schweifen. Sie waren tatsächlich ein gutes Stück zu Fuß gegangen, ehe sie schließlich ein Taxi angehalten hatten und hierher gefahren waren, nicht ganz zu ihm nach Hause, aber doch nur zwei Straßen entfernt. Die Adresse war ihm erst aufgefallen, als er sie dem Taxifahrer nannte und Beate ihn überrascht ansah. Es war nicht unbedingt eine Gegend, die zu einem Stadtbummel einlud oder gar zum Feiern. Das Straßencafé, in dem sie saßen, war das einzige Lokal weit und breit. Ansonsten reihten sich zu beiden Seiten schmucke Einfamilienhäuser der gehobenen Mittelklasse, meist hinter gepflegten Vorgärten oder auch mannshohen Mauern gelegen. Eine hübsche, aber langweilige Gegend. Das einzig Außergewöhnliche war der dunkelblaue BMW, der schräg gegenüber dem Cafe auf der anderen Straßenseite geparkt war.
Mark registrierte ihn erst beim zweiten Hinsehen. Dabei hatte sich der Fahrer nicht die geringste Mühe gegeben, vorsichtig zu sein: Der Wagen stand, mit zwei Rädern auf dem Bürgersteig geparkt, ein bißchen schräg da, was ihn bei seiner Größe fast wie ein gestrandetes Schiff aussehen ließ. Hinter den getönten Scheiben waren zwei Gestalten zu erkennen. Mark konnte ihre Gesichter nicht sehen, aber er spürte einfach, daß sie ihn anstarrten.
»Was ist los?« fragte Beate, und erst ihre Frage machte Mark klar, daß er sekundenlang wie gelähmt dagestanden und den Wagen angestarrt hatte. Vermutlich war er auch blaß geworden.
Mark drehte sich mit einer übertrieben heftigen Bewegung wieder zu ihr herum und zwang sich zu einem Lächeln. »Nichts«, sagte er. »Ich hatte gerade einen heftigen Anfall von Paranoia.«
»Das ist heilbar«, antwortete Beate gelassen. »Vertrau mir, ich weiß, wovon ich rede. Es kann ein paar Jahre dauern, aber ich verspreche dir, mich um dich zu kümmern. Du bekommst die beste Behandlung.«
»Zu freundlich«, maulte Mark. »Du bist wie eine Mutter zu mir.«
»Irgendwie werde ich das ja auch«, sagte Beate ernst. »Spätestens dann, wenn ich demnächst deinen Vater geheiratet habe.«
Mark lachte ebenfalls, wenn auch im Grunde nur, weil er das Gefühl hatte, es zu müssen, und auch nicht sehr lange. Sie alberten herum, aber diese Albernheiten begannen sich mehr und mehr in eine Richtung zu bewegen, die ihn erschreckte. Aber irgendwie schien das für alles zu gelten, was er heute begann, ganz gleich, was er sagte, dachte oder tat. Andererseits - was hatte er erwartet, nach dem, was er heute erfahren hatte? Oh ja, jetzt erinnere ich mich: Ich war dabei, als vier meiner Freunde gestorben sind und ein paar andere in der Klapsmühle landeten. Ach, und meine Mutter ist an dem zerbrochen, was ich getan habe? Interessant. Und was gibt es zum Abendessen?
»Ganz bestimmt nicht.« Das sagte er laut.
»Was meinst du?« fragte Beate.
»Nichts«, antwortete Mark. »Oder doch, ja... natürlich ist etwas nicht in Ordnung. Aber ich möchte nicht darüber reden. Ich habe heute ein ganz besonderes Geburtstagsgeschenk bekommen, weißt du. Ich fürchte nur, es gefällt mir nicht besonders.«
»Sagtest du nicht, du willst nicht darüber reden?« Beate nahm ihre Lederjacke vom Stuhl, warf sie sich mit einem energischen Schwung über die linke Schulter und kam um den Tisch herum. Mark folgte ihr, während sie sich ihren Weg durch das Stuhllabyrinth des Cafes bahnte und wie selbstverständlich nach links wandte. Nach links, nicht nach rechts. In die Richtung, in der Marks Elternhaus lag.
Einen Moment lang überlegte er ernsthaft, ob es Zufall war. Sicher, es war eine Fünfzig-Prozent-Chance, aber normal wäre gewesen, daß sie stehenblieb und ihn fragte, wohin, statt ganz selbstverständlich loszugehen und ganz selbstverständlich (und zielsicher?) in diese Richtung.
Was hatte er gerade über Paranoia gesagt?
»Es hat mit deinem Vater zu tun, nicht wahr?« fragte Beate, während sie nebeneinander die Straße hinunterschlenderten.
»Hm«, machte Mark. Im Gehen sah er über die Schulter zurück und stellte fest, daß der BMW noch immer an der gleichen Stelle stand. Wahrscheinlich würde er auch in einer Stunde noch genauso dastehen, oder in zwei. Was zum Teufel erwartete er eigentlich? Daß sie im Schrittempo hinter ihnen herfuhren?
»Wäre es nicht eine gute Idee, dich mit ihm auszusprechen?« fragte Beate. »Ich meine - heute ist dein Geburtstag. Immerhin ein Anlaß.«
»Hm«, machte Mark erneut.
Beate sah ihn schief an. »Irre ich mich, oder ist dein Wortschatz plötzlich drastisch geschrumpft?«
Mark hätte beinahe zum dritten Mal auf die gleiche Weise geantwortet, aber dann zuckte er statt dessen nur mit den Schultern und sagte gar nichts. Er hatte keine Lust, zu reden. Bisher hatte er beinahe jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, Schaden damit angerichtet. Vielleicht sollte er sich die Lippen zunähen lassen.
Aber Beate gab nicht so rasch auf. Sie blieb stehen und drehte sich so herum, daß er um sie herumgehen oder sie gewaltsam aus dem Weg hätte schieben müssen. »Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte sie. »Ich nehme mir ein Taxi und fahre zurück in mein dunkles, muffiges Zimmer in der Klinik, und du gehst nach Hause und sprichst dich mit deinem Vater aus. Deinen Geburtstag feiern wir einfach später.«
»Ich schätze, ich bin ein ziemlicher Stimmungskiller, wie?« fragte Mark.
»Wenn man auf Depressionen steht, nicht«, sagte Beate.
Vielleicht hatte sie ja recht. Bisher hatte Mark es trotz allem irgendwie geschafft, nicht über das nachzudenken, was er von Petri und seinem Vater erfahren hatte, nicht wirklich und nicht in letzter Konsequenz. Und wenn er sich ein bißchen Mühe gab, würde er es vermutlich noch Tage oder auch Wochen schaffen, das Thema zu vermeiden. Aber irgendwie mußte er es, und eines wußte er genau: Ob morgen oder in einer Woche oder auch in zehn Jahren - es würde schlimmer werden, je länger er wartete. Die alte Wunde war einmal aufgerissen, und diesmal würde sie nicht von selbst vernarben. Sie hatte bereits begonnen, sich zu entzünden, und der Schmerz würde nur schlimmer werden, je länger er zögerte, sie zu behandeln. In einer kurzen, aber sehr unangenehmen Vision sah er sich selbst, in zwanzig oder vielleicht auch fünfzig Jahren: als verbitterten, alt gewordenen Mann, der sein Leben lang einsam geblieben war, weil er niemals wirklich den Mut gefunden hatte, sich einem Menschen anzuvertrauen. Er hatte die letzten sechs Jahre über einen Haß geschürt, der ihm auf der einen Seite vielleicht die Kraft gegeben hatte, die Hölle durchzustehen, als die er sein Leben empfunden hatte. Aber andererseits war vielleicht gerade dieser Haß schuld daran, daß es dazu gekommen war. Und nun, wo er wußte, daß dieser Haß auf einer Lüge beruhte... Nein, er mußte mit seinem Vater reden. Je eher, desto besser.
»Ich glaube, du hast recht«, sagte er. »Ich werde mit meinem Vater reden. Aber du kannst mitkommen. Vielleicht kratzen wir uns ja nicht gegenseitig die Augen aus, wenn jemand dabei ist.«
»Ich hatte gehofft, daß du das sagst«, antwortete Beate.
Und Mark hatte es befürchtet. Beates Vorschlag war sehr vernünftig, seiner nicht. Aber er hatte die Worte so rasch ausgesprochen, als hätte ihn etwas dazu gezwungen. Vielleicht etwas, das trotz allem noch immer Angst davor hatte, seinem Vater allein gegenüberzutreten.
Es war zu spät, noch irgend etwas zu ändern. Beate war bereits an den Straßenrand getreten und sah aufmerksam nach rechts und links.
»Wir brauchen kein Taxi«, sagte er. »Es ist nicht mehr weit.« Er deutete die Straße hinab. »Zehn Minuten - wenn wir langsam gehen.«
Wenn Beate diese Eröffnung überraschte, so ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken. »Dann sollten wir schnell gehen«, sagte sie betont. »Ehe du es dir anders überlegst und ich sehen kann, wo ich eine gute Partie mache.«
Diesmal lachte Mark nicht. Er lächelte nicht einmal. Er wollte Beate nicht vor den Kopf stoßen, indem er ihr in aller Deutlichkeit sagte, wie wenig begeistert er davon war, daß sie diesen Scherz offensichtlich zum running gag des Tages machen wollte, aber vielleicht begriff sie es ja von selbst, wenn er es nur lange genug ignorierte.
Was seinen ganz persönlichen running gag anging, so war er noch immer da, als sie die Straßenkreuzung erreichten und er sich ein letztes Mal zu ihm herumdrehte. Bestimmt war es Zufall, dachte Mark. Schließlich war dieser Wagen mit Sicherheit nicht der einzige dunkelblaue BMW in Berlin. Noch vor ein paar Stunden wäre er felsenfest vom Gegenteil überzeugt gewesen: Er hätte jede Wette gehalten, daß hinter den getönten Scheiben zwei Privatdetektive saßen, die sich von seinem Vater dafür bezahlen ließen, ihn auf Schritt und Tritt zu überwachen. Aber mit dem, was er heute mittag erfahren hatte, war die Verschwörertheorie endgültig zusammengebrochen.
Es war Zufall, basta.
Sie gingen weiter. Der Wind hatte aufgefrischt, so daß Beate ihre Lederjacke wieder überzog, was sie allerdings nicht daran hinderte, weiter fröhlich zu plappern. Zum überwiegenden Teil war es einfach nur Unsinn - sie alberte herum, wahrscheinlich, um ihre eigene Unsicherheit zu überspielen, vielleicht auch, um Mark aufzuheitern. Trotzdem entgingen ihm die zunehmend erstaunteren Blicke nicht, die sie immer wieder nach rechts und nach links warf.
Schließlich sprach sie auch aus, was ihr so sichtbar auf der Zunge lag. »Eine schöne Gegend«, sagte sie. »Von so einem Haus habe ich bisher nicht einmal geträumt.«
Dabei war das hier sozusagen nur der Vorort, dachte Mark. Der Schutzwall, der die wirklich teuren Häuser vor allzu neugierigen Blicken schützen sollte. »Und jetzt tust du es?« fragte er.
»Warum nicht? Wenn ich doch in diese Gegend einheirate?«
»Bitte laß das«, sagte Mark. »Ich finde das nicht besonders komisch.«
Beate sah ihn ein bißchen betroffen an. »Aber es sollte doch nur ein Scherz sein.«
»Ich weiß«, antwortete Mark. »Aber ich glaube, ich kann im Moment über nichts lachen, das irgendwie mit meinem Vater zu tun hat.«
»War es so schlimm, was er dir angetan hat?«
»Gestern hätte ich diese Frage noch mit einem eindeutigen Ja beantwortet«, sagte er. »Aber mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob es nicht genau umgekehrt war.«
»Uff«, sagte Beate. »Das klingt wirklich kompliziert... Bist du sicher, daß ich mitkommen soll?«
»Ja«, antwortete Mark - obwohl er nicht einmal davon vollkommen überzeugt war. Trotzdem fuhr er fort: »Außerdem ist es sowieso zu spät. Wir sind da.« Er lächelte flüchtig. »Kämm dir noch einmal die Haare und mach deine Fingernägel sauber. Immerhin machst du jetzt den Antrittsbesuch bei deinem zukünftigen Bräutigam.«
Beate setzte zu einer entsprechenden Antwort an, aber gleichzeitig folgte ihr Blick auch der Richtung, in die Marks ausgestreckte Hand wies, und ihre Augen wurden groß. »Das ... das ist dein Ernst?« fragte sie.
»Ein hübsches Haus, nicht?« Mark empfand nicht die Spur von Besitzerstolz, aber er hätte schon blind sein müssen, um nicht zu sehen, wie sehr Beate das Haus bewunderte, auf das er gedeutet hatte. Vielleicht, dachte er, war das mit dem kleinen, muffigen Zimmer im Krankenhaus nicht ganz so scherzhaft gemeint gewesen, wie er geglaubt hatte.
»Diese Villa gehört deinem Vater?«
Mark nickte. »Ich gebe zu, es ist ein bißchen klein - aber immerhin sind wir ja auch nur zu zweit.« Er streckte die Hand nach der Klingel aus, aber bevor er den Knopf berühren konnte, fiel ihm auf, daß das Tor nicht eingerastet war. Er schob es ein Stück weiter auf, schlüpfte hindurch und machte eine auffordernde Geste. »Schnell! Bevor die Hunde kommen!«
»Hunde?« Beate sah sich eindeutig erschrocken um. Aber dann blickte sie in sein Gesicht und sah das spöttische Funkeln in seinen Augen, und für einen Moment verdüsterte Zorn ihr Antlitz. »Das ist ungeheuer komisch.«
»Warum lachst du dann nicht?« fragte Mark.
Beate spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, enthielt sich aber jeder weiteren Antwort. Wahrscheinlich war sie viel zu sehr damit beschäftigt, das Haus und den parkähnlichen Garten zu bewundern. Manchmal vergaß Mark, welchen Eindruck dieses Anwesen auf jemanden machen konnte, der es zum ersten Mal sah. Sein Vater hatte nie viel von Bescheidenheit gehalten, und diesem Haus sah man es an.
»Ich glaube, es hat sich gelohnt, diesen Rothschild-Schnösel abblitzen zu lassen und auf dich zu warten«, sagte Beate.
»Ich dachte, du wolltest meinen Vater heiraten?«
»Sicher«, antwortete Beate. »Aber ohne dich wäre ich nie an ihn herangekommen, oder?«
Sie hatten das Haus erreicht. Mark zog den Schlüsselbund hervor, öffnete die Tür und lauschte einen kurzen Moment mit angehaltenem Atem. Es war vollkommen still, was ihn sehr erleichterte. Natürlich hatte er doch Angst vor dem Moment, in dem er seinem Vater wieder gegenübertreten würde, und er war auch froh, daß Marianne nicht da war. Vermutlich hatte sie sich hingelegt und schlief noch.
Er trat ein, winkte Beate, ihm zu folgen, und schob die Tür so leise ins Schloß, wie er konnte, ohne daß es auffiel.
»Es scheint niemand da zu sein«, sagte Beate.
Mark hob die Schultern. »Wahrscheinlich ist mein Vater oben in der Bibliothek«, sagte er. »Ich glaube manchmal, er lebt dort.« Er atmete hörbar ein. »Also dann: auf in die Höhle des Löwen.«
»Ich muß mich vorher noch etwas... frisch machen«, sagte Beate mit einem verlegenen Lächeln. »Geh ruhig schon vor. Ich komme sofort nach.« Sie wandte sich nach rechts und verschwand mit raschen Schritten in der Gästetoilette. Mark wunderte sich ein bißchen, woher sie überhaupt wußte, wo diese war, verfolgte den Gedanken aber nicht weiter. Es war wohl nicht sehr schwer, es zu erraten. Außerdem gab es im Moment Wichtigeres, als darüber nachzudenken. Sein Herz klopfte, und er war sehr nervös. Es kostete ihn enorme Überwindung, die Treppe hinaufzugehen und die Bibliothek zu betreten.
Sein Vater war nicht da, aber etwas von seiner Anwesenheit schien noch in der Luft zu vibrieren, und die Spuren dessen, was er in den letzten Stunden getan hatte, waren überdeutlich auf dem Schreibtisch zu sehen. Die normalerweise spiegelblank polierte Platte glich einem Trümmerfeld. Überall stapelten sich Papiere, Fotos und lose Blätter, und das Telefon, das zur Hälfte unter einem Papierwust vergraben war, hatte einen Riß, als wäre es heruntergefallen oder der Hörer mit solcher Wucht auf die Gabel geschmettert worden, daß das Kunststoffgehäuse geborsten war. Trotzdem mußte es wohl noch funktionieren, denn die rote Lampe des Anrufbeantworters flackerte, um darauf aufmerksam zu machen, daß eine Nachricht eingegangen war.
Mark ging ziellos zum Tisch und ließ seine Finger über die darauf ausgebreiteten Papiere gleiten. Sie interessierten ihn nicht wirklich, ganz im Gegenteil war sein Bedarf an Geheimnissen für heute mehr als gedeckt. Er wollte gar nicht wissen, was da vor ihm lag.
»Na - schnüffelst du wieder herum?«
Mark drehte sich zu seinem Vater um. Er hatte nicht einmal gehört, daß er hereingekommen war, aber auch das gehörte zu den Eigenheiten seines Vaters: Trotz seiner Masse konnte er sich so lautlos wie die sprichwörtliche Katze bewegen. Sein Gesicht trug den üblichen Ausdruck: eine Mischung aus Zorn, Härte und einem unauslöschlich eingegrabenen Mißtrauen der ganzen Welt gegenüber. Aber da war auch noch etwas - ein Schrecken, der vielleicht noch nicht ganz erwacht war, aber bereits seinen Schatten vorauswarf.
Mark widerstand dem Impuls, die Hand wie ein ertappter Sünder hastig zurückzuziehen. »Ich war in der Klinik«, sagte er.
»Ich weiß.« Sein Vater schloß die Tür und kam näher. »Du hast mit deiner Mutter gesprochen, nehme ich an?«
Mark verneinte. »Ich wollte es, aber sie haben mich nicht zu ihr gelassen. Vielleicht war es ganz gut so.«
»Möglicherweise«, antwortete sein Vater. »Für sie bestimmt. Und was willst du jetzt hier? Deine Szene von heute morgen fortsetzen oder vernünftig reden?« Er hatte den Schreibtisch erreicht und begann mit hektischen Bewegungen, die Papiere zusammenzuraffen, die darauf lagen, um sie wahllos in Schubladen zu stopfen. Er sah Mark nicht an.
Mark schluckte den Ärger herunter, den die Worte seines Vaters schon wieder in ihm wachriefen. Er konnte nun einmal nicht aus seiner Haut. »Vernünftig reden«, sagte er, mühsam beherrscht. »Erinnerst du dich an heute morgen? Du hast vorgeschlagen, daß wir gemeinsam essen gehen und uns unterhalten. Vielleicht war das eine ganz gute Idee.«
Zum ersten Mal, seit er hereingekommen war, war es ihm gelungen, seinen Vater zu verblüffen - damit hatte er sichtlich nicht gerechnet. Für einen winzigen Moment erstarrte er mitten in der Bewegung, aber dann fing er sich wieder und schaltete auch mit der gewohnten Schnelligkeit um.
»Sicher«, sagte er. »Jetzt gleich?«
Mark sah bezeichnend auf den noch immer halb verwüsteten Schreibtisch. »Wenn es im Moment nicht -«
»Das kann warten«, unterbrach ihn sein Vater. »Gib mir zehn Minuten, um mich umzuziehen. Was ist mit diesem Mädchen? Hast du ihr wenigstens abgesagt?«
Mark konnte nicht anders, als das perfekte Gedächtnis seines Vaters zu bewundern. Bei all der Aufregung, die hinter ihnen lag, erschien es ihm beinahe unglaublich, daß er sich auch an dieses winzige Detail ihres Gespräches vom Morgen noch erinnerte. »Nein«, sagte er.
»Das solltest du aber. Es ist sehr unhöflich, eine Verabredung nicht einzuhalten, ohne wenigstens abgesagt zu haben.«
»Wer hat gesagt, daß ich sie nicht eingehalten habe?« fragte Mark. Er machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Sie ist unten. Ich dachte mir, wir nehmen sie mit - falls du nichts dagegen hast.«
Sein Vater hatte etwas dagegen, das sah er ihm deutlich an. Aber er protestierte nicht laut, sondern zuckte nur mit den Schultern und fuhr fort, seinen Schreibtisch abzuräumen, wobei er auch weiter Papiere, Bilder und kleine Zettel mit hastig hingekritzelten Berechnungen und Tabellen wahllos in die Schubladen stopfte. Es würde Stunden dauern, um dieses Chaos wieder zu ordnen, dachte Mark. Allmählich regte sich doch die Neugier in ihm, was sein Vater in den letzten Stunden getan hatte. Das rote Licht des Anrufbeantworters flackerte noch immer, aber sein Vater machte keine Anstalten, die aufgezeichnete Botschaft abzuhören.
»Soll ich so lange hinausgehen?« Mark machte eine Geste auf das Gerät, aber sein Vater schüttelte den Kopf.
»Nicht nötig. Ich weiß, wer angerufen hat. Es ist nicht wichtig. Er wird sich wieder melden, und wenn nicht - um so besser.« Er hatte die letzten Papiere vom Tisch gefegt und schlug die Schreibtischschublade mit einem Knall zu.
»Du hast dich also entschlossen, mir wenigstens eine Chance zu geben?« sagte er. »Ich muß gestehen, daß ich kaum noch damit gerechnet habe. Um so mehr freut es mich, daß du es doch tust. Es muß ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein.«
»Das ist es noch«, antwortete Mark. »Ich glaube nicht, daß ich es schon ganz begriffen habe.«
»Wie auch?« Sein Vater schloß für einen kurzen Moment die Augen. »Ich habe es bis heute noch nicht ganz begriffen, und ich werde es wahrscheinlich auch nie. Vielleicht will ich es nicht. Ich schätze, wir haben alle Fehler gemacht.«
»Ja«, sagte Mark. »Es sieht so aus.«
Ein seltenes Gefühl breitete sich zwischen ihnen aus: Verlegenheit. Schließlich kam sein Vater um den Tisch herum und streckte die Hand aus. »Versuchen wir das Beste daraus zu machen, okay?«
Die Geste war theatralisch, rührend und irgendwie sogar ein bißchen albern, aber vielleicht wirkte sie gerade deshalb so überzeugend. Möglicherweise, dachte Mark, waren ja alle echten Regungen so - und er durfte auch nicht vergessen, daß sein Vater es nicht gewohnt war, Gefühle zu zeigen - ihm gegenüber schon gar nicht. Also griff er nach seiner ausgestreckten Hand und drückte sie, und im gleichen Augenblick, auf den Sekundenbruchteil genau, als hätte ein bösartiger unsichtbarer Regisseur im Hintergrund nur darauf gewartet, ging die Tür auf, und Beate trat ein.
Das Lächeln seines Vaters gefror. In seinem Blick erschien ein Entsetzen, das Mark nicht mit Worten beschreiben konnte, aber das in ihm selbst eine plötzliche Woge roter, rasender Panik auslöste: eine Furcht von solcher Urgewalt, daß er um ein Haar aufgeschrien hätte und herumfuhr, ohne die Hand seines Vaters losgelassen zu haben. Während des Sekundenbruchteils, den die Bewegung beanspruchte, war er hundertprozentig davon überzeugt, zu wissen, was er sehen würde: das Ding aus seinen Träumen, die Bestie ohne Gesicht, die gekommen war, um ihn für all das Unrecht zu bestrafen, das er seinem Vater in den letzten sechs Jähren angetan hatte.
Doch unter der Tür stand nicht der Würgeengel, sondern Beate. Sie war in einer fast komisch anmutenden, nicht zu Ende geführten Bewegung erstarrt, und auf ihrem Gesicht lag noch ein verblassender Rest des Lächelns, mit dem sie eingetreten war, und das nun allmählich einem Ausdruck vollkommener Verwirrung Platz zu machen begann. Weder Marks überhastete Bewegung noch der Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters konnten ihr entgangen sein.
Mark ließ endlich die Hand seines Vaters los und sah ihm wieder ins Gesicht. Der entsetzte Ausdruck war aus seinen Zügen verschwunden, aber sein Blick flackerte wie eine Kerzenflamme.
»Komme ich... irgendwie ungelegen?« fragte Beate.
Marks Vater blinzelte ein paarmal. Er kämpfte um seine Fassung, und für einige Augenblicke schien es gar nicht sicher, daß er diesen Kampf auch wirklich gewinnen würde. »Wer...« murmelte er. »Aber das... das kann doch überhaupt nicht...«
»Das ist Beate«, sagte Mark. »Ich habe ihr von dir erzählt. Wir haben uns heute morgen in der Klinik kennengelernt.«
»Beate?« Irgend etwas schien fast hörbar hinter seiner Stirn einzurasten. Die Angst in seinem Blick erlosch und machte etwas anderem, Lauerndem Platz. Etwas, das Mark nicht einordnen konnte, aber das ihn fast noch mehr alarmierte als die lodernde Furcht zuvor. »Das ist Ihr Name?«
»Heute morgen war er es jedenfalls noch«, antwortete Beate mit einem kleinen nervösen Lächeln. Ihre Augen lächelten nicht, sondern suchten Marks Blick. Er beantwortete die unausgesprochene Frage darin mit einem ebenso stummen Achselzucken.
»Und Sie haben sich im St.-Eleonor-Stift kennengelernt?« vergewisserte sich Marks Vater.
»Ja, das habe ich dir doch erzählt«, antwortete Mark an Beates Stelle. »Was soll das?«
Sein Vater schwieg einige Augenblicke. Bevor er weitersprach atmete er hörbar ein, und er legte eine ganz bestimmte Betonung in seine Stimme. Er antwortete Mark, aber sein Blick blieb fest auf Beate gerichtet. »Weil ich diese junge Dame kenne, Mark«, sagte er. »Nicht persönlich - aber ich habe von ihr gehört.«
»Von mir?« fragte Beate überrascht. »Wieso?«
»Unglücklicherweise gehöre ich zu den Menschen, die niemals etwas vergessen«, antwortete Marks Vater. »Manchmal ist das ziemlich lästig, aber wie es scheint, ist es wohl in diesem Fall eher von Vorteil. Ich habe vor ein paar Monaten unabsichtlich einen Teil eines Gespräches mitgehört, das Professor Artner mit einer der Oberschwestern geführt hat. Es ging mich nichts an, und es interessierte mich auch nicht - wie gesagt, ein Zufall. Aber ich denke, ein glücklicher Zufall.«
»Für wen?« fragte Mark. »Was zum Teufel soll das Ganze überhaupt?«
Er schrie fast, aber sein Vater blieb unbeeindruckt. »Für dich«, sagte er. »Es ging um deine kleine Freundin da. Um Schwester Beate - das sind Sie doch, oder? Ich meine, es gibt keine zweite Schwester Beate im St.-Eleonor-Stift?«
»Nein«, antwortete Beate, »aber ich verstehe trotzdem nicht, was -«
»Es ging um Ihre Entlassung«, unterbrach sie Marks Vater. »Die Oberschwester war dafür, Sie zu entlassen, aber Artner wollte Ihnen noch eine Chance geben.«
»Meine... Entlassung?« wiederholte Beate fassungslos.
»Ich, ich verstehe nicht...«
»Sie verstehen sehr gut, junge Dame«, antwortete Marks Vater. Er deutete auf Mark. »Er ist nicht der erste, nicht wahr? Sind Sie schon mit ihm ins Bett gegangen, oder hatten Sie sich das für heute abend aufgehoben?«
»Vater!« sagte Mark scharf.
»Schockiert dich das?« fragte sein Vater. Er deutete auf Beate. »Dann frag sie doch, warum sie bereits drei Verwarnungen bekommen hat. Sie macht sich an die Angehörigen von Patienten heran. Reiche Angehörige reicher Patienten, versteht sich. Sie ist nicht an dir interessiert, Mark, nicht im geringsten. Sie ist einzig und allein scharf auf dein Geld.«
»Aber das ... das ist nicht wahr«, protestierte Beate. »Ich habe niemals -«
»Verlassen Sie auf der Stelle mein Haus«, fiel ihr Marks Vater ins Wort. »Es war ein netter Versuch, aber er hat nicht funktioniert.«
Mark war wie vor den Kopf geschlagen. Alles war so schnell gegangen und die Stimmung so jäh und so absolut umgeschlagen, daß er gar nicht richtig begriff, was geschah, jedenfalls nicht sofort.
»Worauf warten Sie?« fragte Marks Vater.
»Aber das ist alles nicht wahr!« verteidigte sich Beate. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie Mark ansah. »Bitte, Mark, glaub mir. Ich habe nie irgendwelche Verwarnungen bekommen, und man wollte mich auch noch nie entlassen. Dein Vater muß sich irren!«
»Ich irre mich nie«, sagte Marks Vater ruhig.
»Diesmal vielleicht schon«, sagte Mark. »Du hast selbst gesagt, das Gespräch hat dich nicht interessiert. Vielleicht hast du nicht richtig hingehört.«
»Ein Irrtum, so?« Sein Vater verzog abfällig die Lippen. »Na, dann rufen wir doch einfach in der Klinik an und fragen nach.« Er machte eine abgehackte Geste auf das Telefon, auf dem noch immer das rote Lämpchen blinkte. »Rufen wir Professor Artner an und klären die Sache auf. Haben Sie seine Durchwahl im Kopf?«
»Professor Artner?« Beate machte eine unsichere Geste. »Das... das geht nicht. Professor Artner ist tot. Er ist... gestorben. In der vergangenen Nacht.«
Tot! dachte Mark erschrocken. Artner tot? Aber das konnte nicht sein! Nicht auch noch er!
»Wie praktisch«, höhnte sein Vater. »Nicht, daß es mich überrascht - oder irgend etwas ändert. Sie haben es versucht, und es hat nicht funktioniert. Und jetzt gehen Sie bitte, bevor ich die Polizei rufe und Sie hinauswerfen lasse.«
»Einen Moment«, sagte Mark, »so schnell -«
»So schnell«, unterbrach ihn sein Vater, »geht es. Ich weiß, es tut weh. Aber das hat die Wahrheit nun leider manchmal an sich.«
Marks Hände begannen plötzlich zu zittern. Sein Herz schlug schneller, und für einen kurzen Moment konnte er sich kaum noch beherrschen, seinen Vater einfach anzuschreien. Irgendwie brachte er die Kraft auf, seinen Zorn noch einmal zu unterdrücken. Mit einer mühsam beherrschten Bewegung drehte er sich zu Beate herum und sah sie an. »Bitte warte unten«, sagte er. »Geh nicht weg, ich komme gleich nach.« Er kam sich bei diesen Worten wie ein Verräter vor. Er hätte sie verteidigen, sich offen auf ihre Seite stellen und seinem Vater ins Gesicht schreien müssen, was er von seinen absurden Anschuldigungen hielt, aber er hatte einfach nicht die Kraft dazu. Der Angriff war zu plötzlich gekommen und zu heimtückisch.
Beate stand noch einen Moment zitternd und mit Tränen in den Augen da und sah abwechselnd ihn und seinen Vater an, aber dann drehte sie sich herum und lief aus dem Zimmer. Mark wartete, bis ihre Schritte die Treppe hinuntergepoltert waren und er das Geräusch der Haustür hörte. Er wußte, daß es unmöglich war, aber für einen Moment bildete er sich ein, ihre Schritte auch danach noch zu hören - ein rasches Rennen und Stolpern den Weg hinunter bis zum Tor und weiter hinaus auf die Straße. Am ganzen Leib zitternd drehte er sich wieder zu seinem Vater herum und starrte ihn an.
»Warum hast du das getan?« fragte er. Er flüsterte - er hatte nur die Wahl, zu flüstern oder zu schreien, und er wußte, wenn er seinem Zorn einmal freien Lauf ließe, würde er ihn nicht mehr beherrschen können. »Das ist völlig absurd!«
»Entschuldige«, sagte sein Vater. »Ich weiß, wie du dich jetzt fühlen mußt. Vielleicht war ich ein bißchen ungeschickt. Aber das ändert nichts daran, daß es die Wahrheit ist. Dieses Mädchen -«
»Dieses Mädchen«, fiel ihm Mark schneidend ins Wort, »ist gerade siebzehn Jahre alt. Sie ist weder eine Mitgiftjägerin noch eine neue Mata Hari, sondern nichts als ein Mädchen, das ich vor ein paar Stunden kennengelernt habe.«
»Sie ist nichts für dich«, sagte sein Vater hart. »Glaub mir, ich weiß das besser als du.«
»Wieso?« Marks Stimme wurde lauter. Er wollte nicht schreien. Er wollte seinem Vater diesen Triumph nicht gönnen, aber seine Kraft war erschöpft. Seine Hände zitterten immer heftiger, und sein Herz schlug jetzt so laut, daß es seine eigenen Worte zu übertönen schien. Zorn und Enttäuschung machten ihn fast rasend. »Vielleicht habe ich dir doch unrecht getan«, sagte er. »Du bist noch viel schlimmer, als ich gedacht habe.«
»Mark!« sagte sein Vater scharf. »Hör mir zu! Du verstehst nicht, was -«
»Ich verstehe sehr gut!« schrie Mark. »Es reicht dir immer noch nicht! Du glaubst immer noch, du könntest über mich bestimmen wie über etwas, das dir gehört! Aber das kannst du nicht, hörst du? Das wirst du nie wieder können!«
»Mark!« sagte sein Vater erneut. »Bitte hör doch zu! Dieses Mädchen ist nicht das, was es zu sein vorgibt! Ich weiß, daß es weh tut. Es tut immer weh, wenn man begreift, daß man belogen wurde.«
»Ja«, sagte Mark, »das stimmt. Wenigstens das habe ich von dir gelernt.«
»Und es tut mir leid«, erwiderte sein Vater. »Darum versuche ich ja gerade, dich vor noch einem viel größeren Fehler zu bewahren!«
»Fehler?« Mark lachte schrill. »Oh ja, ich habe einen Fehler gemacht! Es war ein Fehler, überhaupt hierher zu kommen. Ich hätte tun sollen, was ich von Anfang an vorhatte, und einfach verschwinden. Ich hätte dir niemals zuhören dürfen.«
Er fuhr herum und wollte zur Tür gehen, aber sein Vater machte eine blitzschnelle Bewegung und ergriff ihn am Arm. Nicht nur, um ihn festzuhalten, sondern hart, fast schmerzhaft, und vielleicht war es die Art dieser Berührung, die unbedingten Gehorsam verlangte und keinen Widerspruch duldete, die den Faden endgültig zum Zerreißen brachte.
Mark bewegte sich fast ohne eigenes Zutun. Mit einem zornigen Ruck riß er sich los und versetzte seinem Vater gleichzeitig mit der flachen Hand einen Stoß vor die Brust, der diesen zurücktaumeln ließ und vermutlich zu Boden geschleudert hätte, wäre er nicht gegen die Schreibtischkante geprallt. Das Zimmer schien sich plötzlich vor Marks Augen zu verdunkeln, alles drehte sich um ihn, und sein Herz schlug plötzlich so laut und schwer, daß das Geräusch den gesamten Raum auszufüllen schien: ein dunkles, maschinenhaftes Hämmern und Stampfen, das nicht länger mehr das Geräusch seines eigenen Herzschlages war, sondern der dröhnende Rhythmus aus seinem Traum. Die Bibliothek veränderte sich. Licht und Schatten tauschten ihre Plätze, und sein Gesichtsfeld schien sich zusammenzuziehen, bis darin nur noch Raum für das Gesicht seines Vaters war, das vor Staunen und Überraschung zu einer Grimasse wurde. Dahinter wuchs etwas Dunkles heran. Er hörte wispernde Stimmen und einen summenden, an- und abschwellenden Ton. Und für einen kurzen, zeitlosen Augenblick glaubte er flackernden Kerzenschein zu sehen.
Bevor die Vision übermächtig werden konnte, fuhr er auf dem Absatz herum und rannte aus dem Zimmer.