46. Kapitel

Das Gebäude schien vollkommen verlassen zu sein. Der Korridor, durch den sie kamen, führte an einem Dutzend Türen vorbei, die fast allesamt offenstanden: Büros, Konferenz- und Laborräume, von denen sie nur die durch das aus dem Gang hereinfallende Licht erhellten winzigen Ausschnitte sehen konnten. Hier und da blinzelte das grüne Lämpchen eines Telefons oder Computerterminals, das von seinem Besitzer nicht ausgeschaltet worden war, aber die kurze Schreckensvision, die Bremer für einen Moment gehabt hatte, als sie ins Haus hineingingen, wurde nicht wahr: Niemand sprang plötzlich hinter einer Tür hervor und richtete eine Waffe auf sie oder eröffnete gleich das Feuer. Der Posten draußen war offensichtlich allein gewesen.

Wie der Pförtner gesagt hatte, führte der Korridor schnurgerade fast durch das gesamte Gebäude hindurch und endete vor einer wuchtigen, mit Schnitzereien verzierten Eichentür. Sie klemmte ein wenig, so daß sich Sendig zweimal mit der Schulter dagegenwerfen mußte, um sie aufzubekommen, und die kurze Verzögerung gab Bremers Phantasie Gelegenheit zu einer zweiten, witzigen Vision: Die Tür sah massiv genug aus, um den Beschüß einer Panzerfaust standzuhalten. Wäre sie abgeschlossen gewesen, dann wäre ihre Flucht nach allem, was sie geschafft hatten, hier zu Ende - ein grotesker, aber irgendwie beinahe auch schon wieder passender Ausgang dieser aberwitzigen Geschichte.

Die Tür war nicht verschlossen. Als Sendig das zweite Mal mit der Schulter dagegenstieß, ging sie so plötzlich auf, daß er, vom übriggebliebenen Schwung seiner eigenen Bewegung mitgerissen, hindurchstolperte und um ein Haar gestürzt wäre.

Bremer folgte ihm hastig, aber er nahm sich trotzdem die Zeit, die Tür hinter sich wieder ins Schloß zu schieben. Er sah nicht ein, daß er ihren Verfolgern die Zeit schenken sollte, die sie durch die Tür verloren hatten.

Daß sie verfolgt wurden, daran bestand mittlerweile kein Zweifel mehr - und zwar ganz bestimmt nicht von seinen ehemaligen Kollegen oder einer Meute Fabrikarbeiter, die auf eine Schlägerei aus waren. Mark hatte seine unheimlichen Worte nicht wiederholt, aber Bremer spürte es einfach. Irgend jemand - irgend ETWAS - verfolgte sie. Und es kam näher. Rasend schnell.

»Bremer, wo bleiben Sie?« schrie Sendig. Er hatte sich wieder gefangen und war bereits weitergelaufen. Der Korridor setzte sich vor ihnen nur noch ein paar Meter weit fort und ging dann in eine breite, mit einem grünen Läufer belegte Holztreppe über, die in eine von Neonlicht erhellte Tiefe führte. »Beeilen Sie sich, verdammt noch mal!«

Bremer rückte Marks Gewicht auf seiner Schulter hastig zurecht und lief los. Mark stöhnte. Vermutlich bereitete ihm die Bewegung unerträgliche Schmerzen, denn er versuchte schwach, sich loszureißen, aber Bremer nahm nun keine Rücksicht mehr. Die zweite Injektion, die Sendig ihm gegeben hatte, hatte noch weniger lange vorgehalten als die erste. Die Kräfte des Jungen waren so rasch wieder geschwunden, wie er sich erholt hatte; Bremer schleifte ihn mehr neben sich her, als er ihn stützte. Über Bremers Schulter lief klebrige Wärme. Die Wunde in Marks Arm hatte wieder zu bluten begonnen. Seine Chancen, mit einem Toten im Arm unten anzukommen, standen wirklich nicht schlecht. Er erreichte die Treppe und warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück, ehe er die Stufen hinuntertastete. Die Tür war noch geschlossen, aber was immer ihnen folgte, es war jetzt nahe. Und es war kein Mensch. Vielleicht nicht einmal etwas Lebendiges. Vielleicht hatte sich Sendig getäuscht, als er vermutete, daß Mark nur wirklich gefährlich war, wenn er schlief; vielleicht reichte der fast komatöse Zustand des Jungen auch aus, um die unheimlichen Kräfte seines Geistes schon jetzt zu entfesseln, aber vielleicht war es auch ganz anders, als sie beide geglaubt hatten. Er würde es herausfinden. Sehr bald.

Sie stolperten die Treppe hinab und fanden sich unversehens in einer vollkommen veränderten Umgebung wieder. Hatten die Architekten oben wenigstens noch versucht, das Ambiente des alten Gutshofes beizubehalten, der dieses Gebäude früher einmal gewesen war, herrschte hier unten nichts als kalte Funktionalität. An der Decke leuchteten Neonröhren, und vor ihnen lag ein langer, weißgestrichener Gang, von dem ein halbes Dutzend Glastüren abzweigten. Sämtliche Räume dahinter waren taghell erleuchtet. Es waren Laboratorien voller unverständlicher Gerätschaften, Chrom und blinkender Monitore.

Es war beinahe zuviel. Bisher hatte Bremer sich erfolgreich dagegen gewehrt, sich zu erinnern, aber dieser Anblick weckte die Geister der Vergangenheit. Er war schon einmal hiergewesen, vor sechs Jahren, aber es hätten auch sechzig Jahre sein können, und er hätte sich genauso gut erinnert. Er würde dieses Gebäude nie vergessen, ganz egal, wieviel Zeit auch verging. Außerdem schien sich absolut nichts verändert zu haben. Damals wie heute kam ihm dieser unter der Erde gelegene Gang wie die Kulisse eines Science-fiction-Filmes vor, in der die Zeit mindestens fünfzig Jahre übersprungen hatte; aber zugleich schien sie auch stehengeblieben zu sein, wie um auf die verlorenen Jahre zu warten. Damals wie heute gab es nur einzige Tür in diesem futuristischen Gang, die nicht aus Glas bestand, sondern aus massivem, weißlackiertem Stahl, und mit gleich zwei Schlössern gesichert war. Und damals wie heute waren die Schlösser geöffnet, und die Tür stand einen Spaltbreit auf. Voll kalten Entsetzens fragte er sich, ob er dahinter auch heute wieder das gleiche finden würde wie vor sechs Jahren: den absoluten Terror.

Sendig schob die zentnerschwere Tür weiter auf und wedelte ungeduldig mit beiden Händen, damit sie schneller liefen. Bremer wollte es sogar, aber er wurde im Gegenteil eher langsamer. Mark versuchte jetzt gar nicht mehr, zu gehen, sondern ließ sich wie eine leblose Last von ihm mitschleifen. Hätte er nicht ab und zu ein leises Stöhnen ausgestoßen, Bremer wäre davon überzeugt gewesen, daß er auch genau das war. Sie waren dabei, ihn umzubringen. Er war dabei, ihn umzubringen.

An der Tür angekommen, sah er wieder über die Schulter zurück. Er spürte den Verfolger jetzt immer deutlicher, aber noch konnte er nichts sehen. Der Gang hinter ihnen war leer. Vielleicht würde er ihn diesmal überhaupt nicht sehen.

Er verscheuchte den Gedanken und trat hinter Sendig durch die Tür, und wieder änderte sich ihre Umgebung so radikal, wie es nur ging. Das Pendel schlug zurück. Aus der renovierten Pracht der Gründerzeit waren sie ein Stück weit in die Zukunft gesprungen und jäh im finsteren Mittelalter gelandet. Vor ihnen lag ein steil in die Tiefe führender, gewölbter Gang, dessen Wände und Decke aus nur roh behauenen Natursteinquadern bestanden, ebenso wie die Treppenstufen, die so ausgetreten waren, daß es selbst unter normalen Umständen schon riskant gewesen wäre, sie hinunterzugehen. Mit einem halbtoten Jungen auf der Schulter und einem Verfolger im Nacken wurde es zu einem lebensgefährlichen Abenteuer.

Ungeachtet dessen hüpfte Sendig wie ein roter Gummiball die Stufen hinunter und gewann rasch einen immer größer werdenden Vorsprung. Die Treppe war nur halb erleuchtet - unter der gewölbten Decke brannten zwei Neonröhren, deren untere jedoch ununterbrochen flackerte und weitaus länger aus als an war; als Sendig in diesen Bereich zweifach halbierter Helligkeit eintauchte, begann er selbst zu flackern. Er ging nicht mehr die Treppe hinunter, sondern verschwand von einer Stufe und tauchte auf der nächsten wieder auf. Plötzlich hatte Bremer unvorstellbare Angst davor, in diese blinzelnde Dunkelheit hineinzutreten, panische Angst.

Trotzdem beschleunigte er seine Schritte ein wenig. Sein Herz machte einen entsetzten Sprung, als er den hell erleuchteten Teil der Treppe verließ, und als die Dunkelheit das erste Mal über ihm zusammenschlug, hatte er tatsächlich das Gefühl, körperlich von etwas berührt zu werden.

Natürlich war es Einbildung. Es war nicht einmal wirklich dunkel, nur schartig. Bremer raffte das letzte bißchen Selbstbeherrschung zusammen, das er in sich fand, scheuchte die Angst noch einmal zurück und kam schwer atmend und mit hämmerndem Pulsschlag neben Sendig an, der sich mit einer weiteren, zwar ebenfalls nicht verschlossenen, aber offenbar noch schwereren Eisentür abmühte, die die untere Begrenzung der Treppe bildete. Dahinter lag der Keller. Während Sendig sich gegen die Tür stemmte und sie mühsam Zentimeter für Zentimeter aufschob, hob Bremer den Kopf und sah zum oberen Ende der Treppe hinauf.

Er war da.

Vor dem strahlend hell erleuchteten Rechteck der Tür stand ein gigantischer schwarzer Schatten und blickte zu ihnen herab. Ein Schatten mit einem Paar riesiger stählerner Schwingen und tödlichen Klauen. Er rührte sich nicht. Er kam nicht näher, sondern stand einfach da und starrte Bremer an; aber Bremer wußte, was sein Erscheinen bedeutete. Sie hatten ihr Ziel erreicht, und obwohl er noch nicht einen einzigen Blick in den Raum hinter der Tür geworfen hatte, wußte Bremer plötzlich, daß das, was heute auf sie wartete, nicht genauso schlimm sein würde wie damals.

Sondern schlimmer.

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