27. Kapitel

Bremer trat mit aller Gewalt auf die Bremse, aber seine Reaktion kam zu spät. Die Reifen des Audi blockierten, aber der Wagen rutschte trotzdem weiter und kollidierte unsanft mit dem Kotflügel des BMW, der so urplötzlich vor ihm aufgetaucht war. Der Aufprall war nicht einmal besonders hart, aber Bremer hatte keine Zeit gehabt, sich anzuschnallen. Er wurde nach vorne geworfen und prallte mit voller Wucht mit Stirn und Wangenknochen auf das Lenkrad.

Für einen Moment war er benommen. Er schmeckte Blut, und vor seinen Augen wirbelten dunkelrote Glühwürmchen, die winzige Schmerzpfeile auf seine Netzhäute abschössen. Bremer versuchte sie wegzublinzeln, aber ganz gelang es ihm nicht. Er blieb noch zwei oder drei weitere Sekunden benommen, in denen sein Sehvermögen zwar allmählich zurückkehrte, er aber weiter hilflos war. Der Motor des Audi war ausgegangen, aber er sah, daß die Wucht des Zusammenstoßes trotz der relativ geringen Geschwindigkeit ausgereicht hatte, den anderen Wagen einen guten Meter zur Seite zu schieben. Die hintere Tür war wieder zugefallen und hatte offensichtlich das Bein des Mannes eingeklemmt, der hinausspringen wollte, denn der Bursche krümmte sich auf dem Rücksitz. Von dem zweiten Mann keine Spur.

Bremer stemmte sich mühsam in die Höhe, tastete mit den Fingerspitzen über das Gesicht und fühlte Blut aus einer langen Platzwunde über dem linken Auge sickern, aber keinen Schmerz. Er mußte wohl so etwas wie eine leichte Gehirnerschütterung haben, denn in der allerersten Sekunde erinnerte er sich zwar, was geschehen war, konnte mit diesem Wissen aber nichts anfangen. Er sah eine Gestalt hinter dem BMW auftauchen und mit weit ausgreifenden Schritten auf seinen Wagen zueilen, und etwas an diesem Anblick war sehr beunruhigend, aber er wußte nicht, warum.

Als es ihm wieder einfiel, war es zu spät. Die Tür wurde aufgerissen, und Bremer fühlte sich brutal gepackt und aus dem Wagen gezerrt. Sein rechtes Knie prallte mit solcher Wucht gegen die Lenksäule, daß er aufschrie und ihm der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Trotzdem versuchte er, nach seiner Waffe zu greifen.

Es blieb bei dem Versuch. Bremer wurde roh in die Höhe gerissen und so brutal gegen den Wagen geschleudert, daß ihm die Luft wegblieb. Die Pistole entglitt seinen Fingern und klapperte zu Boden. Vor seinen Augen tanzten schon wieder dunkelrote Glühwürmchen, und die Straße schwankte vor ihm auf und ab wie das Deck eines Schiffes, das in einen Orkan geraten war. Er versuchte, die Arme in die Höhe zu reißen, um sein Gesicht zu schützen, und der andere nutzte diesen Fehler entweder gnadenlos aus, oder er deutete die Bewegung falsch, als Angriff, denn seine Faust landete mit solcher Wucht in Bremers Magengrube, daß er stöhnend zusammenbrach und dann vornüber aufs Straßenpflaster sank. Bitterer Speichel sammelte sich unter seiner Zunge. Ihm war furchtbar übel, und für einen Moment war seine größte Angst, daß er sich übergeben mußte und mit dem Gesicht in seinem eigenen Erbrochenen liegen würde. Bremer schluckte ein dutzendmal hintereinander und sehr hektisch, bis seine Mundhöhle damit aufhörte, bittere Galle gleich literweise zu produzieren. Dafür breitete sich in seinem Magen ein leichtes Übelkeitsgefühl aus, aber damit konnte er fertig werden.

Das erste, was er sah, als er die Augen öffnete, war ein Paar auf Hochglanz polierter teurer Schuhe, das unmittelbar vor seinem Gesicht in die Höhe ragte und scheinbar nahtlos in die Beine eines mindestens ebenso kostspieligen Maßanzuges überging. Bremer drehte sich mühsam auf die Seite, sah den Mann, der ihn niedergeschlagen hatte, einen Moment lang aus immer noch leicht umnebelten Augen an und setzte sich dann auf. Sein Blick streifte dabei die Pistole, die ihm aus den Fingern geglitten war. Sie lag allerhöchstens anderthalb Meter von ihm entfernt, noch dazu in einer so günstigen Position, daß er sich nur nach rechts fallen zu lassen brauchte, um sie zu erreichen.

»Versuchen Sie es lieber erst gar nicht. Ich möchte Sie nicht verletzen.«

Bremer sah hoch und blickte in ein kräftiges, aber noch erstaunlich junges Gesicht. Der Bursche war höchstens Mitte Zwanzig.

»Aber ich wette, Sie würden keine Sekunde zögern, es zu tun, wenn ich Sie dazu zwinge«, sagte er.

Statt zu antworten, beugte sich der Bursche zu ihm herab und zog ihn ohne sichtliche Anstrengung in die Höhe. Bremer verzog das Gesicht, als sein geprelltes Knie mit einem stechenden Schmerz auf die Belastung reagierte, verbiß sich aber jeden Laut. Aber der andere hatte es wohl trotzdem bemerkt. Das erste Mal hatte er ihn mit aller Gewalt gegen den Wagen geschmettert, jetzt stellte er ihn beinahe sacht dagegen; und er überzeugte sich auch aufmerksam davon, daß Bremer tatsächlich aus eigener Kraft stehen konnte. Erst danach trat er zwei Schritte zurück und bückte sich nach Bremers Waffe.

Währenddessen hatten zwei weitere Männer den BMW verlassen. Beide ähnelten in Statur und Kleidung dem Burschen, der ihn niedergeschlagen hatte, und vor allem: Alle drei gehörten dem gleichen Typ an. Sehr groß, sehr kräftig und mit ziemlicher Sicherheit ebenso gut ausgebildet wie intelligent. Und wahrscheinlich vollkommen skrupellos. Bremer hatte Männer wie diese zwar schon gesehen, aber noch niemals mit ihnen zu tun gehabt. Bisher kannte er sie nur aus - zumeist amerikanischen - Kriminalfilmen. Wie es aussah, gab es sie auch hier, in Berlin.

»Wer zum Teufel seid ihr?« fragte er mühsam. Ihm war noch immer übel.

»Wahrscheinlich ist es besser, wenn Sie das nicht wissen, Herr Bremer«, sagte einer der beiden. Es mußte der Fahrer des Wagens sein, denn Bremer identifizierte den anderen ohne Probleme als den, der auf der Rückbank gesessen hatte - er humpelte stark.

»Sie... kennen meinen Namen?« fragte Bremer überrascht.

Der junge Bursche in dem dunkelblauen Maßanzug lächelte kühl. »Ich weiß sogar noch viel mehr«, sagte er. »Sie würden sich wundern, wenn Sie wüßten, wie viel, Bremer. Ich weiß zum Beispiel, daß Sie dabei sind, sich in etwas einzumischen, das Sie überhaupt nichts angeht, Bremer.«

»Und Sie glauben. Sie könnten beurteilen, was mich etwas angeht und was nicht?« fragte Bremer.

Der andere nickte; dann gab er seinem Begleiter einen Wink, woraufhin dieser Bremers Waffe entlud und sie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückreichte. Bremer war so verblüfft, daß er ganz instinktiv danach griff, sie aber nicht einsteckte, sondern nur einen Moment hilflos in den Händen drehte.

»Ich frage noch einmal: Wer seid ihr?« fragte Bremer. Die Mischung aus Verunsicherung und Furcht, die ihn bisher erfüllt hatte, machte allmählich einem Gefühl ganz normaler, aber dafür um so heftigerer Wut Platz. Wieso dachte eigentlich seit zwei Tagen jeder, daß er ihn nach Belieben herumschubsen dürfte?

»Und ich sage Ihnen noch einmal, daß es besser ist, wenn Sie das nicht wissen«, antwortete der andere. »Besser für Sie, Bremer. Und so nebenbei - ich glaube auch nicht, daß Sie es wirklich wissen wollen.«

»So?« sagte Bremer wütend. »Wenn ihr wirklich die seid, für die ich euch halte, dann solltet ihr eigentlich wissen, daß man so nicht mit einem Polizeibeamten umspringen kann. Es gibt Leute, die das gar nicht mögen.«

»Tja - das scheint ein Beweis dafür zu sein, daß wir vielleicht doch nicht die sind, für die Sie uns halten«, antwortete der andere lächelnd. »Aber keine Angst - Ihnen geschieht nichts.«

»Solange ich vernünftig bin, nehme ich an«, sagte Bremer höhnisch.

Der andere deutete erst auf sich, dann auf seine beiden Begleiter. »Sehen wir aus, als ob wir Ihnen überhaupt die Gelegenheit geben würden, unvernünftig zu sein?« fragte er. »Nur keine Angst. Wir stehen auf Ihrer Seite, auch wenn Sie das vielleicht anders sehen. Wir haben nicht vor, Ihnen irgend etwas anzutun. In ein paar Minuten sind Sie uns los, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie uns auch nie wiedersehen werden.«

»Es hat mit dem Jungen zu tun, nicht?« fragte Bremer. »Mit Sillmann. Und dem Mädchen.«

»Auch das gehört zu den Dingen, die Sie besser nicht wissen sollten«, antwortete der andere. Er griff in die Tasche, zog ein kleines Funkgerät heraus und hob es an die Lippen, wandte sich dann aber noch einmal an Bremer, ehe er die Sprechtaste drückte.

»Wenn Sie so furchtbar neugierig sind, Bremer, warum stellen Sie sich dann nicht selbst ein paar Fragen? Zum Beispiel die, warum Ihr neuer Gönner sich solche Mühe gegeben hat, Ihr Vertrauen zu erringen und ausgerechnet Sie für ihn arbeiten zu lassen.«

Er setzte das Funkgerät erneut an, drückte eine kleine Tasche an seiner Seite und sagte: »Gruppe eins an zwei. Habt ihr sie?«

Er bekam keine Antwort. Aus dem Gerät drang nicht einmal statisches Rauschen, als er die Taste wieder losließ. Er wartete einige Sekunden, dann drückte er den Knopf erneut und wiederholte in hörbar ungeduldigerem Ton: »Gruppe eins an Gruppe zwei - meldet euch, verdammt noch mal. Was ist bei euch los?«

Auch diesmal keine Antwort. Das Funkgerät blieb tot.

»Probleme?« fragte Bremer.

Der andere starrte ihn einen Sekundenbruchteil lang wütend an, aber er machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Schnell, aber ohne Hast steckte er das Walkie-talkie wieder ein und wandte sich zum Wagen um. »Da stimmt was nicht«, sagte er. »Los! Haymar - Sie bleiben hier und passen auf unseren übereifrigen Wachtmeister auf.« Er umkreiste rasch den BMW, setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an, während sein Kollege in den Fond des Wagens sprang. Der Audi zitterte so heftig, als er rücksichtslos zurückstieß, um die beiden ineinandergekeilten Fahrzeuge zu trennen, daß Bremer einen hastigen Schritt zur Seite machte. Es gelang dem Fahrer, auch wenn der BMW einen Scheinwerfer und einen Teil der Stoßstange einbüßte, ehe er endlich mit kreischenden Reifen losschoß.

Bremer blickte ihm kopfschüttelnd nach, bis er hinter der Straßenkreuzung verschwunden war. »So bekommt Ihr Kollege garantiert ein Strafmandat«, wandte er sich an Haymar - den Mann mit dem verletzten Bein -, der zurückgeblieben war. »Der Wagen ist nicht verkehrssicher.«

Der andere tat ihm nicht den Gefallen, zu antworten. Er sah nicht einmal in die Richtung, in die der BMW verschwunden war, sondern behielt Bremer aufmerksam im Auge. Bremer seinerseits sah ihn an, wobei er gleichzeitig auch die Straße hinter ihm im Blickfeld hatte. Nur noch ein paar Meter entfernt rollte ein Wagen heran. Die Scheinwerfer waren erloschen, und der Fahrer hatte entweder den Motor ausgeschaltet, oder der Wagen lief so gut wie lautlos. Die mattsilberne Farbe war jedoch selbst im schwachen Licht des Mondes und der wenigen Straßenlaternen auf der anderen Seite deutlich zu erkennen. Bremer versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, und fragte: »Was macht das Bein? Tut's weh?«

»Es geht«, antwortete Haymar. Seine Augen wurden schmal; offensichtlich hatte Bremer sich doch nicht so gut in der Gewalt gehabt wie er gehofft hatte - oder er hatte etwas gehört. Er sah Bremer noch eine halbe Sekunde lang durchdringend an, dann setzte er dazu an, sich herumzudrehen.

»Schade«, sagte Bremer. »Ich hatte gehofft, es wäre gebrochen.«

Seine Rechnung ging auf. Für einen ganz kurzen Moment verzerrte sich das Gesicht des anderen vor Wut, und für einen noch kürzeren Moment war er unaufmerksam, und Bremer nutzte diese Chance. Mit aller Kraft stieß er sich vom Wagen ab und sprang ihn an.

Noch während er es tat, begriff er, daß er mit seiner Einschätzung ziemlich genau ins Schwarze getroffen haben mußte. Der Mann versuchte nicht, nach einer Waffe zu greifen - dazu war er einfach zu nahe -, aber er ging mit einer fließenden und unglaublich schnellen Bewegung in die Grundstellung irgendeiner Kampftechnik - Karate oder Jiu Jitsu oder was immer sie auch gelernt haben mochten -, und Bremer wäre wahrscheinlich nicht einmal dazu gekommen, auch nur einen einzigen Schlag anzubringen. Allerdings versuchte er es auch nicht. Statt dessen trat er Haymar mit aller Gewalt vor das verletzte Bein.

Der Agent schrie auf - es war eher ein Kreischen als wirklich ein Schrei -, kippte zur Seite und griff mit der linken Hand nach seinem Unterschenkel. Die andere fuhr unter seine Jacke und kam mit einer Waffe wieder zum Vorschein, noch ehe er seinen Sturz ganz zu Ende gebracht hatte, doch diesmal war Bremer vorbereitet, sowohl auf seine Schnelligkeit als auch darauf, daß der andere keine Skrupel haben würde, seine Waffe einzusetzen: Seine Schuhspitze traf Haymars Hand und prellte ihm die Waffe aus den Fingern, und fast im gleichen Sekundenbruchteil bückte er sich und schmetterte ihm mit aller Gewalt die Faust vor die Schläfe.

Es war ein Gefühl, als hätte er gegen massiven Fels geschlagen. Bremer keuchte vor Schmerz, aber aus Haymars neuerlichem Schrei wurde ein gurgelndes Keuchen, dann verdrehte er die Augen und sank bewußtlos zurück. Trotzdem blieb Bremer noch zwei, drei Sekunden über ihn gebeugt stehen. Er traute dem Kerl durchaus zu, daß es nur eine Finte war.

»Saubere Arbeit«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«

Bremer richtete sich auf und starrte Sendig fast haßerfüllt an. »Man lernt eben nie aus«, sagte er. »Wo kommen Sie denn her? Waren Sie die ganze Zeit über in der Nähe und haben zugesehen, wie sie mich zusammengeschlagen haben?«

Sendig grinste. Er war halb aus dem Mercedes gestiegen, hatte aber noch einen Fuß im Wagen und eine Hand auf dem Steuer. Die andere hielt eine Pistole, die auf die reglose Gestalt zu Bremers Füßen zielte. »Jetzt übertreiben Sie«, sagte er. »Erstens haben sie Sie nicht zusammengeschlagen, und zweitens: Was hätte ich tun sollen? Mit Posaunenschall und wehenden Fahnen ankommen und eine wüste Schießerei beginnen? Ehrlich - die Zeiten, in denen ich an so etwas Spaß hatte, sind längst vorbei.«

Bremer spießte ihn weiter mit Blicken regelrecht auf, aber sein Zorn begann bereits wieder zu verrauchen. Sendig hatte ja recht - auch wenn Haymar und seine beiden Kollegen so aussahen, als wären sie aus einem amerikanischen Agenten-Krimi entsprungen, gab ihnen das noch lange nicht das Recht, sich auch so zu benehmen.

»Sie hätten mich wenigstens warnen können, daß ich beschattet werde«, sagte er ärgerlich.

»Damit Sie nervös weiden und anfangen, Fehler zu machen?« Sendig schüttelte den Kopf. »Ich habe etwas viel Geschickteres gemacht, mein Lieber - ich habe die Leute beschattet, die Sie beschattet haben. Wie Sie sehen, mit Erfolg. Wo sind die anderen? Wieso sind sie so plötzlich verschwunden?«

Bremer hatte plötzlich das heftige Bedürfnis, sich selbst zu ohrfeigen. So unglaublich es ihm selbst vorkam - er hatte für ein paar Sekunden einfach vergessen, warum er überhaupt hier war. Aber er kam trotzdem nicht mehr dazu, Sendigs Frage zu beantworten, denn in diesem Moment erklang hinter der Straßenbiegung ein gellender, unmenschlicher Schrei, gefolgt von einem Blitz und dem Geräusch von auseinanderberstendem Metall.

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