35. Kapitel

Petri hatte zu beten begonnen. Obwohl er ein zutiefst gläubiger Mensch war, hatte er seit Jahren nicht mehr gebetet. Jetzt tat er es. Seine Lippen bewegten sich lautlos, denn er hatte die Worte vergessen, aber die bloße Tätigkeit spendete ihm Trost. Er wußte nicht mehr, warum, aber da war etwas wie ein warmes Feedback in ihm, der Schatten einer verblassenden Erinnerung, der ihm noch eine Spur von Wärme vermittelte. Er konnte sich nicht erinnern, es getan zu haben, aber er mußte Sillmann wohl in den nächsten Keller gefolgt sein, denn sie waren in einem anderen Raum. Er enthielt Dinge, die ihn erschreckten, ohne daß er wußte, warum.

»Sie haben alles dabei?« fragte... wer? Sillmann? Petri antwortete nicht, aber er hörte, wie Sillmann sich herumdrehte und auf ihn zukam. Dann berührte er ihn an der Schulter, und Petri mußte die Augen öffnen. Bisher hatte er es nicht gewagt. Die Dunkelheit hinter seinen Lidern machte ihm angst, aber solange er sie geschlossen hielt, konnte er sich wenigstens einreden, daß auf der anderen Seite Licht war und eine Welt, die nicht Stück für Stück erlosch.

»Was ist mit Ihnen, Doktor?« fragte der Mann, dessen Namen er vergessen hatte. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Petris Blick irrte unstet durch den Raum. Die Welt war noch da, aber sie war jetzt asymmetrisch. Der Keller hatte keine geometrisch erkennbare Form mehr. Die Stücke, die die Wirklichkeit eingebüßt hatte, waren größer geworden. Er befand sich im Inneren eines Ballons, der unaufhaltsam schrumpfte. Aber noch war etwas da. Ein Stück Wand, das nahtlos in die gegenüberliegende Seite des Raumes überging, obwohl der Boden davor unversehrt geblieben war, ein Fragment der Tür, über dem ein sichelförmiges Fragment der Decke begann. Noch während er hinsah, wich wieder ein wenig Luft aus dem Ballon. Das Universum schrumpfte.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte das Gesicht vor ihm. »Wenn wir die Nerven behalten, kann gar nichts passieren. Wir haben es schon einmal geschafft, und damals war es viel gefährlicher als heute.« Er sah Petri an, wartete vergebens auf eine Antwort und rüttelte schließlich unsanft an seiner Schulter. Petri rührte sich nicht Er wußte nicht, wer dieses Gesicht vor ihm war, und die Worte hatten jede Bedeutung verloren. Er hatte auch aufgehört zu beten. Er wußte nicht mehr, wie es ging und zu wem er hätte beten sollen.

»Verdammt, Petri, reißen Sie sich gefälligst zusammen!« schnauzte Sillmann. »Machen Sie nicht ausgerechnet jetzt schlapp!« Er packte Petri an beiden Schultern und schüttelte ihn so heftig, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. »Ich brauche Sie!«

Der Raum war weiter zusammengeschmolzen. Er war jetzt kleiner, als er eigentlich sein konnte, um ihnen beiden Platz zu bieten, eine winzige, schrumpfende Blase der Wirklichkeit, um die herum nichts mehr war - nicht einmal mehr Leere. Und doch war plötzlich noch etwas da: eine schwarze Gestalt, die hinter dem namenlosen Gesicht vor ihm stand und ihn anstarrte. In der sich immer weiter ausbreitenden Leere in seinem Kopf blitzte noch einmal eine Erkenntnis auf: Er wußte, wer er war, und er wußte auch, warum er hier war. In Wahrheit war er die ganze Zeit über in seiner Nähe gewesen, all die Jahre und Jahre, die vergangen waren.

»Ja, so ungefähr habe ich mir das vorgestellt«, sagte Sillmann. »Aber gut - geben Sie her!« Mit einer groben Bewegung riß er Petri die Arzttasche aus der Hand und begann hektisch darin herumzukramen. Schließlich hob er ein ledernes Spritzenetui in die Höhe und ließ die Tasche achtlos fallen.

»Ist es das? Das ist es, nicht wahr? Also gut, dann mache ich es eben selbst. Ich werde auch allein damit fertig, verdammt. So, wie ich immer allein mit allem fertig werden mußte.«

Er klappte das Etui auf. Darin lag eine verchromte Spritze mit großen Scherengriffen, in deren Glaskolben eine goldfarbene Flüssigkeit schimmerte. Sie war der Grund, aus dem der Vernichter gekommen war. Sie hatten ein Leben ausgelöscht, sanft, schmerzlos, aber auch ohne Gnade. Seinen schlimmsten Alptraum hatte er einem anderen angetan. Nicht der Tod, sondern die Vorstellung eines Endes, dem nichts mehr folgte, hinter dem nur noch eine allumfassend Leere wartete. Er hatte ihn getötet, ohne ihn umzubringen.

»Petri, verdammt, sagen Sie etwas!« verlangte Sillmann. »Scheiße, das hat mir gerade noch gefehlt. Also gut, dann mache ich es allein. Stellen Sie sich in irgendeine Ecke, und zittern Sie meinetwegen ein bißchen vor Angst, aber stören Sie mich wenigstens nicht.«

Petri schwieg. Er hatte vergessen, wie man sprach. Die Schwärze in seinem Inneren war absolut, und die Welt vor seinen Augen erlosch in diesem Moment Sillmann verschwand, der letzte, winzige Ausschnitt der Wirklichkeit löste sich auf, und dann gab es nur noch ihn und den schwarzen Koloß, der ihn aus unsichtbaren Augen anstarrte.

Und dann nicht einmal mehr das. Es gab nur noch ihn. Kein Hier, kein Jetzt, keine Erinnerungen oder Gefühle; in der allumfassenden Leere, durch die er glitt, war nicht einmal mehr Platz für Furcht.

Petri war allein.

Die Ewigkeit wartete.

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