39. Kapitel

Berger hatte für einige Minuten das Bewußtsein verloren, und wahrscheinlich würde er sterben, wenn er nicht zu einem Arzt gebracht wurde. Die Kugel hatte sein Herz verfehlt, aber seine linke Schulter zerschmettert, und unter seinem Rücken bildete sich eine gewaltige Blutlache, deren süßlicher Geruch sich mit dem Staub in der Luft vermengte und den Keller endgültig wieder zu einem Grab werden ließ. Der Kreis begann sich zu schließen, dachte Sillmann. Dieser Raum war eine Gruft gewesen, als er ihn das letzte Mal betreten hatte. Der Tod hatte hinter ihnen die Tür geschlossen, und er war nicht gegangen. Er hatte nur hier gewartet.

»Sillmann, helfen Sie mir«, stöhnte Berger. »Ich sterbe!«

»Ich weiß«, sagte Sillmann leise. Er musterte die halb auf der Seite liegende Gestalt kühl und versuchte, irgendein Gefühl in sich zu finden. Er hatte geglaubt, Berger zu hassen, ihn und die namen- und gesichtslosen Männer, die hinter ihm standen, aber das stimmte nicht. In ihm war gar nichts. Er empfand weder Haß noch Groll, aber auch keine Zufriedenheit. Nicht einmal Erleichterung, daß es vorbei war. Vielleicht würde Berger sterben, vielleicht auch nicht. Es spielte keine Rolle.

»Ich flehe Sie an, Sillmann! Wollen Sie mich verbluten lassen?«

Er sagte nichts mehr darauf. Berger war schon tot, er wußte es nur noch nicht. Er war bereits tot gewesen, als er sich entschlossen hatte, hierherzukommen - und vielleicht schon eher, schon viel eher. Möglicherweise harte er sein Recht auf Leben schon damals verwirkt, als er in sein Büro gekommen war und ihn dazu gebracht hatte, das zu tun, wofür sie nun bezahlten.

Sillmann versuchte nicht, ihm die Schuld daran zu geben; er beschäftigte sich für einen kurzen Moment nur mit der rein akademischen Frage, wann Berger das Todesurteil unter sein eigenes Leben gesetzt hatte.

Er wußte, wann er es getan hatte. Es war lange her. Auf den Tag genau vor achtzehn Jahren, im Moment von Marks Geburt. Der Gedanke war ihm im gleichen Augenblick gekommen, in dem er den neuen Menschen vor sich sah, ein Leben, das er geschaffen hatte und sonst niemand. Das ihm gehörte. Ein Leben, das er formen und gestalten konnte und mußte, das er - vielleicht als erster Mensch in der Geschichte dieser Welt überhaupt - buchstäblich gestalten konnte.

Sillmann lächelte, als ihm die Ironie dieses Gedankens zu Bewußtsein kam. Heute war Marks achtzehnter Geburtstag. Bis zu diesem Morgen hatte er ihm gehört, und heute war der erste Tag seines eigenen Lebens.

Er liebte Mark. Er wußte, daß das niemand glaubte, Mark am allerwenigsten, aber er hatte ihn vom ersten Moment seiner Existenz an geliebt, und er tat es noch immer. Er wußte, daß sein Sohn ihn wahrscheinlich töten würde, aber dieser Gedanke erschreckte ihn nicht. Er hatte vielleicht ein wenig Angst vor dem wie, aber nicht vor dem daß.

Er sah das wimmernde, plötzlich so erbärmliche Häufchen in dem blutgetränkten Maßanzug vor sich an, dann hob er den Kopf, sah zu der gewölbten steinernen Decke hoch und wandte sich zum ersten Mal in seinem Leben an einen Gott, an den er niemals geglaubt hatte.

War es denn so schlimm gewesen? dachte er. War das, was er gewollt hatte, wirklich so schlimm gewesen, daß es eine solch furchtbare Strafe rechtfertigte?

Es war eine Frage, auf die er keine Antwort erwartet hatte, aber er bekam sie.

Sie lautete: ja.

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