20. Kapitel

Sillmann unterbrach sich mitten im Satz und legte die Hand auf die Sprechmuschel des Telefons/als er die Tür hörte. Für einen ganz kurzen Moment verzerrte sich sein Gesicht vor Zorn zu einer Grimasse, vor der selbst die wenigen Menschen erschrocken wären, die ihn kannten; dann sah er, wer das Zimmer betreten hatte, und die Wut machte Betroffenheit und dem intensivsten Ausdruck von Sorge Platz, zu dem er fähig war (er war nicht sehr intensiv).

»Marianne!« sagte er bestürzt. »Was machen Sie denn hier? Sie sollten doch im Bett bleiben!«

»Ich weiß«, antwortete Marianne. »Aber das ist nichts für mich. Ich werde nur krank, wenn ich nutzlos im Bett herumliege. Der Doktor ist unten.«

»Doktor Petri?« Sillmann nahm kurz die Hand vom Hörer, sagte: »Einen Moment, bitte«, und wandte sich dann wieder an Marianne. »Schon wieder? Haben Sie ihn gerufen?«

»Er sagt, er müsse Sie dringend sprechen«, antwortete Marianne. Ihre Stimme klang ein bißchen undeutlich. Die eine Hälfte ihres Gesichts war geschwollen und dunkel angelaufen, die andere dafür um so blasser. »Das Telefon ist seit einer halben Stunde besetzt.«

»Also gut«, seufzte Sillmann. »Schicken Sie ihn rauf. Und dann legen Sie sich wieder hin und stehen nicht vor morgen früh wieder auf - haben Sie das verstanden? Das ist kein guter Rat, sondern ein dienstlicher Befehl.«

»Wie Sie wünschen«, antwortete Marianne - in einem Ton, der jedes weitere Wort überflüssig machte. Aber immerhin war sie klug genug, nicht direkt zu widersprechen, sondern verließ die Bibliothek wieder. Sillmann wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ehe er sein unterbrochenes Telefonat fortsetzte.

»Möglicherweise hat es ja nichts zu bedeuten«, sagte er. »Ich... nein... nein, zum Teufel, ich versuche nicht, die Sache zu verharmlosen, aber... ja...«

Petri mußte bereits draußen vor der Tür gewartet haben, denn er trat ein, kaum daß die Haushälterin gegangen war. Diesmal sah Sillmann kaum hoch, so als hätte er den Arzt allein am Schritt erkannt. Seine Haltung versteifte sich merklich, während er zuhörte und nach immer länger werdenden Pausen in immer schärferem Ton antwortete.

»Niemals. Nein. Hören Sie, ich sagte nein. Es ist mir gleich, was Sie denken. Sie können mich nicht unter Druck...«

Petri hörte weiter konzentriert zu, aber er konnte plötzlich nicht mehr stillstehen. Mit kleinen, nervösen Schritten begann er im Zimmer auf und ab zu gehen und trat schließlich an die Bar. Seine Finger zitterten, als er zwei Gläser füllte und eines davon auf dem Schreibtisch neben Sillmann absetzte.

»Er ist mein Sohn«, sagte Sillmann betont. »Was erwarten Sie von mir?« Er lauschte auf die Antwort, dann lachte er, kurz und hart, und auf eine Weise, die nichts anderes als eine Drohung aus diesem Lachen machte. »Ganz wie Sie wünschen«, sagte er. »Aber Sie wissen, was dann passiert. Beziehungsweise ganz bestimmt nie mehr passieren wird. Es ist Ihre Entscheidung.«

Er knallte den Hörer auf, ergriff ihn im nächsten Moment noch einmal und schmetterte ihn dann mit solcher Wucht ein zweites Mal auf die Gabel, daß das Kunststoffgehäuse des Telefons riß.

»Idioten«, murmelte er.

Petri trank einen Schluck von seinem Cognac und begann das Glas nervös in der Hand zu drehen. »Ärger?« fragte er.

»Nein«, raunzte Sillmann. »Wie kommen Sie darauf? Aber damit werde ich fertig.« Er folgte Petris Beispiel, aber er begnügte sich nicht mit einem Schluck, sondern leerte sein Glas mit einer einzigen Bewegung. »Und was wollen Sie, Doktor? Wenn es um Marianne geht -«

»Ich habe versucht anzurufen«, antwortete Petri. Er klang sehr nervös. »Das Telefon war ununterbrochen besetzt.«

»Ich hatte zu tun«, antwortete Sillmann grob. »Wie Sie gehört haben. Also - was gibt es so Wichtiges?«

Petri drehte das Glas immer schneller in den Händen, hielt es dann an und bewegte es ruckartig in die Gegenrichtung. Der Cognac darin machte die Kreisbewegung noch einen Moment mit, ehe der winzige Strudel sich auflöste. »Ich habe gerade mit der Klinik telefoniert«, sagte er.

»Lassen Sie mich raten, Doktor«, sagte Sillmann finster. »Mark ist dort.«

»Das auch«, antwortete Petri. »Aber darum geht es nicht. Artner. Artner ist tot.«

»Was?!« Sillmanns Gesicht verlor auch noch den Rest von Farbe.

»Heute nacht«, bestätigte Petri. »Angeblich hat er einen Herzanfall bekommen.«

»Artner?« murmelte Sillmann fassungslos. »Großer Gott. Artner, Löbach, Mogrod... wer noch?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Petri leise. »Aber Sie wissen, was es bedeutet.«

»Ja«, flüsterte Sillmann. »Es hat angefangen.«

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