24. Kapitel

Das Licht auf dem Anrufbeantworter flackerte noch immer. Seit Mark gegangen war, waren sicher fünf Minuten verstrichen, aber weder in der Bibliothek noch im Rest des Hauses hatte sich in dieser Zeit irgend etwas gerührt. Die einzige Illusion von Bewegung kam von diesem regelmäßig an- und ausgehenden roten Licht.

Sillmann öffnete die Augen. Er hatte wie erstarrt dagestanden, seit Mark gegangen war. Er konnte sich nicht erinnern, wie lange oder was er in dieser Zeit gedacht hatte. Vielleicht nichts. In ihm war plötzlich nur eine große Leere, in der nicht einmal mehr Platz für Enttäuschung oder Angst war.

Ganz langsam, als müsse er gegen unsichtbare Tonnengewichte ankämpfen, die auf seinen Gliedern lasteten, drehte er sich herum und trat wieder an den Schreibtisch heran. Seine Hand streckte sich nach dem Telefon aus, verharrte für endlose Sekunden zitternd darüber und führte die Bewegung dann noch langsamer zu Ende. Das rote Licht des Anrufbeantworters flackerte noch immer, aber er hörte die Botschaft auch jetzt nicht ab. Sie war unwichtig geworden. Nichts hatte mehr irgendeine Bedeutung.

Sillmanns Finger tippten die elfstellige Nummer eines Satellitenanschlusses, und am anderen Ende wurde abgehoben, kaum daß er den Hörer ans Ohr genommen hatte. Eine kalte, unpersönliche Stimme meldete sich mit einem einzigen Wort: »Ja?«

»Sillmann hier«, meldete er sich. »Sie hatten recht. Es tut mir leid. Ich... kann jetzt nichts mehr tun.«

Er bekam keine Antwort. Aus dem Hörer drang nur Schweigen, allenfalls, hätte man ganz aufmerksam gelauscht, das Geräusch ganz leiser, sehr regelmäßiger Atemzüge. Nach ein paar Sekunden wurde aufgelegt.

Sillmann ließ den Telefonhörer auf den Schreibtisch sinken, › setzte sich in den schweren Ledersessel und schloß die Augen. Er lauschte in sich hinein, wartete auf irgend etwas, irgendeine Reaktion, irgendein Gefühl, aber da war nichts. Er war ausgebrannt, nicht einmal mehr fähig, Angst zu empfinden. Selbst dafür wäre er in diesem Moment dankbar gewesen, aber selbst das konnte er nicht mehr. Er dachte an das Gespräch mit Petri zurück: Es hat begonnen.

Ja, es hatte angefangen: später, als er befürchtet, und soviel früher, als er gehofft hatte. Es hatte begonnen, und keine Macht dieser Welt konnte es jetzt noch aufhalten.

Mark war wieder in jenem furchtbaren Keller, der von Kerzenschein und dem Wehklagen verdammter Seelen erfüllt war, und er hörte auch wieder den Herzschlag und die lautlose Stimme, die seinen Namen flüsterte und ihn Taten beschuldigte, an die er sich nicht erinnern konnte, von denen er aber nun wußte, daß er sie begangen hatte. Das Gespenst war da. Es stand hinter ihm und war nun endgültig zum Monster aller Kinderträume geworden, denn so große Angst es ihm auch machte, so wußte er doch, daß es ihm nichts anhaben konnte, solange er sich nur nicht herumdrehte und es ansah.

Aber wie lange würde er das können?

Dieser Traum - der viel weniger Traum als eine fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Erinnerung war (aber eben nur fast) - gehorchte seiner eigenen, simplen Logik, die die eines noch ziemlich naiven Zwölfjährigen war, nicht die eines Erwachsenen, und diese Logik war auf der einen Seite zwar dafür verantwortlich, daß alles, was er nicht sah, auf der anderen Seite auch ihn nicht sehen und ihm somit nichts zuleide tun konnte, aber sie verlieh dem gesichtslosen Schrecken auf der anderen Seite auch die Macht eines Gottes. Seine Unverwundbarkeit war nicht absolut. Das Ungeheuer würde ihn zwingen, ihn anzusehen, sobald seine Konzentration auch nur für einen winzigen Moment nachließ. Und er konnte bereits spüren, wie seine Kräfte schwanden. Dies hier war nicht die Welt, in die er gehörte. Es war nicht die Wirklichkeit - nicht die Wirklichkeit, die er kannte und verstand, aber es war auch weit mehr als eine Illusion. Er nannte es einen Traum, aber das war es nicht, sondern vielmehr ein Teil eines anderen, düsteren Universums, in dem Zeit und Raum ebensowenig Bestand hatten wie Realität und in dem er sich für eine Weile als Gast aufhalten konnte (oder als Gefangener?). Aber dieser Aufenthalt war nicht umsonst. Jede Sekunde, die er hier war, kostete Kraft, jeder Augenblick, den er länger in dieser vielleicht düstersten Ecke des Universums verweilte, stahl ihm etwas von seiner Energie, vielleicht seiner Lebenskraft.

Er mußte diesen Keller verlassen. Aber wie?

Die Vision hatte fast an der gleichen Stelle wieder eingesetzt, an der sie aufgehört hatte: Er stand wieder vor der rostigen Eisentür, durch die der hämmernde schwere Herzschlag drang, und er sah das Licht, das durch den allmählich breiter werdenden Spalt zwischen ihr und dem Rahmen drang, und die tanzenden Schatten dahinter, und wieder begriff er mit unerschütterlicher Sicherheit, daß etwas Furchtbares geschehen würde, wenn er durch diese Tür schritt.

Mark glaubte sich zu erinnern, daß es einen anderen Ausgang aus diesem Keller gab - eine zweite Tür, vielleicht auch nur ein offener Durchgang auf der anderen Seite, nicht einmal ein Dutzend Schritte hinter ihm, und trotzdem unerreichbar, denn dorthin zu gehen hätte bedeutet, sich zu den Phantomen am Boden umzudrehen und der anderen, weit schlimmeren Gestalt, die hinter ihm stand, und die ihn zweifellos vernichten würde, sobald er den Schutz des Nicht-Sehens und dadurch Nicht-gesehen-Werdens aufgab.

Er saß in der falle. Er konnte nicht hierbleiben, er konnte nicht weitergehen, und er konnte nicht zurück.

Vielleicht war es einfach an der Zeit, sich der Wahrheit zu stellen.

Der Gedanke entstand so klar artikuliert in seinem Kopf, als hätte ihn tatsächlich jemand ausgesprochen, der unsichtbar bei ihm war, und im gleichen Augenblick fielen Furcht und Entsetzen wie ein zu lange getragenes Kleidungsstück von ihm ab.

Es war an der Zeit.

Mark hob den Arm, streckte die Hand aus und berührte die Tür mit gespreizten Fingern, ganz sacht, unendlich vorsichtig, wie er eine glühende Herdplatte berührt hätte oder das Netz einer schlafenden Spinne, das er irgendwie überwinden mußte, ohne das giftige Tier zu wecken.

Es erwachte nicht. Die Tür war nicht heiß, aber auch nicht so kalt, wie ihr metallener Anblick hätte erwarten lassen, und nicht einmal annähernd so schwer, wie ihre wuchtigen Formen suggerierten. Sie fühlte sich warm an, und auf eine schwer in Worte faßbare Art weich und beinahe lebendig, und obwohl seine Berührung kaum mehr als ein Hauch gewesen war, schwang sie langsam vor ihm zurück und gab den Blick in den dahinterliegenden Raum -

»Sag mal - träumst du?«

Mark fuhr so erschrocken hoch, daß er sein Glas umstieß. Er fing es auf, ehe es vom Tisch rollen konnte, war sich der Bewegung aber selbst kaum bewußt.

Er hatte Mühe, sofort in diesen Teil der Wirklichkeit zurückzufinden, aber ein Gedanke entstand ganz deutlich in seinem Kopf: daß er wieder im letzten Moment gerettet worden war, wie die anderen Male - wie jedes Mal! - zuvor. War das vielleicht der wirkliche Schrecken, den dieser Traum für ihn bereithielt: daß er niemals erfahren sollte, was auf der anderen Seite der Tür lag?

»Was?« fragte er verwirrt.

»Ich habe dich gefragt, ob du träumst!« schrie Beate - sie mußte schreien, um den stampfenden Techno-Rhythmus zu übertönen, der aus einem Dutzend Richtungen zugleich auf sie herabhämmerte.

»Ich habe dich jetzt dreimal gefragt, ob du Lust hast, zu tanzen!« fuhr Beate fort. »Ich meine - du mußt nicht. Ich bin dir nicht böse. Aber du könntest wenigstens antworten!«

Mark blickte sie weiter verständnislos an, ebenso wie das Glas in seiner Hand, das er aufgefangen hatte, ohne auch nur das geringste dazu getan zu haben. Seine Reflexe funktionierten offensichtlich auch unabhängig von dem, was in seinem Kopf vorging. Der Inhalt des Glases war in einer halbkreisförmigen Spur auf dem Tisch vor ihm verteilt, soweit er nicht bereits zu Boden getropft war, und der scharfe Geruch, der davon aufstieg, verriet ihm, daß er nicht nur aus purer Cola bestanden hatte. Seltsam - er konnte sich gar nicht erinnern, Whisky getrunken zu haben. Er lauschte in sich hinein, aber er spürte nichts von irgendeiner Wirkung. Er schmeckte übrigens auch keinen Alkohol.

»War das... deines?« fragte er verlegen.

Beate verdrehte in gespieltem Entsetzen die Augen. »Ja. Aber ich bestelle mir gerne ein neues. Es sei denn, du bist Gentleman genug, es für mich zu tun. Immerhin hast du mir ja auch die Hälfte meines Drinks auf die Füße gekippt.«

Mark stellte das Glas mit einer schuldbewußten Bewegung und sehr hastig endlich wieder auf den Tisch und hob ebenso rasch die Hand, um nach dem Kellner zu winken, aber er sah die Sinnlosigkeit dieses Vorhabens fast im gleichen Moment auch schon ein. Es gab tatsächlich mehrere Kellner, aber die Wahrscheinlichkeit, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, war gleich Null. Dann und wann tauchte ein Tablett an einem ausgestreckten Arm über den Köpfen der dichtstehenden Menge auf, das mit einer für Mark schier unvorstellbaren Sicherheit durch das Tohuwabohu geschifft wurde, aber er sah keinen der dazugehörigen Kellner. Schließlich stand er auf und deutete mit einer Kopfbewegung zur Bar. »Ich hole dir ein neues Glas«, brüllte er.

»Eine Aufforderung zum Tanzen wäre mir lieber«, schrie Beate in der gleichen Lautstärke zurück, was Mark aber geflissentlich ignorierte. Er hatte keine Lust, zu tanzen. Eigentlich hatte er nicht einmal Lust, hier zu sein. Die Diskothek war ihm zu laut, zu dunkel, zu hektisch. Es waren zu viele Menschen hier, und sie waren zu fröhlich. Es war sein Vorschlag gewesen, hierher zu kommen, nachdem sie eine ganze Weile ziellos durch die Straßen gelaufen waren und alles getan hatten - nur eines nicht: sich auszusprechen. Die Idee war gut gewesen - er hatte gehofft, daß der Lärm, die Nähe all dieser Menschen und die unzähligen Ablenkungen auch ihm helfen würden, auf andere Gedanken zu kommen - aber es hatte nicht funktioniert. Er war mittlerweile sehr sicher, daß nichts funktionieren würde. Er hätte nicht hierher kommen sollen, aber er wußte auch nicht, was er sonst hätte tun sollen. Vielleicht war dies eine der Situationen, in der es keine gute Lösung gab. Beate hatte sich alle Mühe gegeben, den häßlichen Zwischenfall zu überspielen, und er hatte zumindest die gute Absicht hinter diesem Vorhaben honoriert, indem auch er alles, was mit seinem Vater, seiner Mutter oder ihm selbst zu tun hatte, fast peinlich vermied. Sie hatten sich den ganzen Abend über Belanglosigkeiten unterhalten: kleine Anekdoten aus seinem Leben im Internat, die zum Teil wahr, zum Teil übertrieben und zum Teil vollkommen ausgedacht waren, sie hatten über Politik, Geschichte, den Sinn des Lebens und die neuesten Modetorheiten gesprochen, ein bißchen herumgealbert, dies und das getan und sich schließlich ganz bewußt dazu entschieden, den Abend so ausklingen zu lassen, wie es einem achtzehnten Geburtstag in einer Stadt wie Berlin vielleicht angemessen war: laut, fröhlich und lang und ohne irgendwelche Pläne für den nächsten Tag oder auch nur die nächste Stunde. Aber das war nur die Theorie. Die Praxis sah anders aus. Es verging kein Moment, in dem er nicht an seinen Vater dachte, und die Furcht hatte ihn den ganzen Abend über begleitet.

Sie - und ein fast verzweifelt unterdrückter, aber doch beharrlich nagender Zweifel. Von allem war vielleicht das das Schlimmste, was sein Vater ihm angetan hatte: Er begann sich zu fragen, ob er vielleicht recht hatte. Beate hatte sich seltsam benommen. Ihre Scherze auf dem Weg nach Hause waren ein bißchen zu penetrant gewesen, und auch ihr Auftreten am Morgen war vielleicht nicht normal.

Und wenn? dachte er trotzig. Selbst wenn es so wäre - welche Rolle spielte es eigentlich? Vielleicht zählte für sie tatsächlich zuerst sein Geld und dann er, aber selbst wenn es so sein sollte - zumindest im Augenblick war es ihm gleich. Er empfand jedenfalls etwas für sie, auch wenn er selbst noch nicht genau wußte, was es war, und irgendeine Garantie auf die ewige, reine Liebe hatte niemand. Selbst wenn sein Vater recht haben sollte, machte das sein Benehmen nicht entschuldbar. Es machte es eher schlimmer. Er hatte verdammt noch mal wie jeder andere das Recht, seine eigenen Fehler zu machen und daraus zu lernen.

Er hatte sich zur Bar durchgedrängelt, bestellte zwei frische Getränke und versuchte, sie zu ihrem Tisch zurückzubalancieren, ohne mehr als die Hälfte davon zu verschütten. In einer so hoffnungslos überfüllten Diskothek wie dem HADES erforderte diese Aufgabe fast seine ganze Aufmerksamkeit, so daß er erst wieder zu Beate aufsah, als er den Tisch fast erreicht hatte. Sie war nicht mehr allein. In das Gedränge rings um den kleinen Tisch hatte sich eine weitere Gestalt gemischt, die heftig gestikulierend auf Beate einredete und sie bereits so weit in eine Ecke gedrängt hatte, wie es überhaupt nur ging. Auch ohne den Höllenlärm ringsum hätte Mark kaum verstanden, worüber die beiden sprachen, aber das war auch nicht nötig. Jede Spur von Heiterkeit - ob nun aufgesetzt oder echt - war von ihrem Gesicht verschwunden. Sie stand in eindeutig abwehrender Haltung da und bewegte immer wieder den Kopf, um den zudringlichen Händen ihres Gegenübers auszuweichen.

Mark maß den Burschen mit einem raschen, prüfenden Blick, während er sich seinen Weg durch die Menge so schnell bahnte, wie er konnte. Er war ein gutes Stück größer als er und mußte zwanzig Pfund schwerer sein, und bei der sportlich durchtrainierten Statur unter seiner Windjacke hätte Mark normalerweise zweimal überlegt, sich mit ihm anzulegen. Aber er sah auch noch mehr: Die Bewegungen des Burschen waren unsicher und fahrig, und sein Gesicht wirkte aufgedunsen. Der Kerl war hoffnungslos betrunken - was ihn wahrscheinlich nicht weniger gefährlich machte, aber möglicherweise etwas langsamer.

Mark erreichte endlich den Tisch und setzte die beiden Gläser mit einem hörbaren Knall ab. Das Geräusch erfüllte seinen Zweck: Beates Gesicht wandte sich mit einem Ruck in seine Richtung und mit einer guten Sekunde Verzögerung auch das des Burschen, der vor ihr stand.

»Probleme?« fragte er.

Beate schüttelte hastig den Kopf. Die Erleichterung in ihrem Blick hatte nicht lange vorgehalten. Spätestens jetzt, wo Mark dem anderen direkt gegenüberstand, mußte ihr wohl auch auffallen, daß der Bursche ungefähr doppelt so groß war wie er. »Es ist okay«, sagte sie hastig. »Ein... ein Mißverständnis.«

»Ein Mißverständnis, so?« sagte Mark. Sein Blick blieb fest auf das Gesicht des anderen gerichtet. Die Augen des Burschen waren trüb vom Alkohol, aber Mark bemerkte trotzdem das tückische Funkeln darin; der Kerl war nicht nur vollkommen betrunken, er war auch ein Schläger. Niemand, mit dem er sich normalerweise abgegeben hätte, und erst recht niemand, gegen den er eine Chance hatte, wahrscheinlich nicht einmal in diesem Zustand.

»Was willst du?« fragte der Betrunkene. Er sprach schleppend, und als er redete, zerplatzten kleine Speichelblasen in seinem Mundwinkel. Sein Atem roch durchdringend nach Alkohol.

»Die Frage ist, was du willst«, antwortete Mark. Eine innere Stimme riet ihm, daß es besser - und wahrscheinlich auch gesünder - war, jetzt die Klappe zu halten. Er konnte die Aggressivität des anderen beinahe riechen. Der Kerl war auf Streit aus, und er wußte, daß er mit ihm nicht fertig werden konnte. Aber er wollte nicht vernünftig sein. Ganz plötzlich war die Wut da, die er den ganzen Tag über vermißt hatte, eine rasende, kaum noch zu beherrschende Wut, die ihn dazu trieb, nicht aufzuhören, nicht vernünftig zu sein, sondern weiterzumachen. Er brauchte ein Ventil. Er wollte etwas packen, etwas zerstören und kaputtmachen, irgend etwas schlagen oder auch geschlagen werden, das war egal.

»Mach keinen Ärger«, sagte Beate.

»Ich?« Mark trat mit zwei zornigen Schritten um den Tisch herum und baute sich drohend vor dem Betrunkenen auf. »Er macht Ärger, nicht ich.«

»Spiel dich nicht auf, Kleiner«, sagte der Bursche. »Hau ab, solange du es noch kannst.«

»Und wenn nicht?« fragte Mark herausfordernd.

Er wußte, was nun kam, und das zornige Aufblitzen in den Augen seines Gegenübers warnte ihn zusätzlich. Zorn und Frustration hatten seinen Kreislauf so mit Adrenalin überschwemmt, daß er mit einer Schnelligkeit und Kraft reagierte, an die er normalerweise nicht einmal zu denken wagte. Der Kerl schlug zu, ein vielleicht kraftvoller, aber sehr plumper Hieb, dem Mark mit Leichtigkeit auswich. Gleichzeitig schlug er zurück. Seine Faust traf den anderen am Kinn, und die Wirkung überstieg Marks kühnste Erwartungen: Der Bursche schrie auf, warf die Arme in die Höhe und stürzte rückwärts zu Boden, wobei er zwei oder drei andere mit sich riß. Für einen Moment drohte sich die Bewegung fortzusetzen, und Mark wartete beinahe darauf, daß sämtliche Diskobesucher wie eine ineinandergedrehte Schnecke aus Dominosteinen umfielen. Natürlich geschah das nicht. Trotzdem setzte sich die Bewegung irgendwie fort; für einige Sekunden kamen die Tanzenden aus dem Takt, dann erlosch auch das Flackern der Lichtorgel, und schließlich verstummte sogar die Musik.

Der Betrunkene versuchte ungeschickt wieder auf die Füße zu kommen, aber da einige andere dies gleichzeitig auch probierten, behinderten sie sich nur gegenseitig; Mark hatte Zeit genug, ihm nachzusetzen und in eine entsprechende Position zu kommen. Er war plötzlich ganz ruhig. Der Zorn war noch da, vielleicht sogar schlimmer als zuvor, aber er machte ihn jetzt nicht mehr fahrig oder störte seine Konzentration. Er beobachtete den anderen genau, während er sich aufrappelte. Sein Gesicht wirkte benommen und ziemlich überrascht, aber nicht besonders angeschlagen. Sein Schlag hatte eine spektakuläre, aber leider keineswegs nachhaltige Wirkung erzielt. Wahrscheinlich hatte er den Kerl nur wütend gemacht. Er durfte ihm auf keinen Fall die Gelegenheit geben, seinerseits einen Treffer anzubringen.

Als der Bursche aufstand, empfing ihn Mark mit einem Tritt vor das Knie, der ihn nicht fällte, ihn aber mit schmerzverzerrtem Gesicht zurücktaumeln ließ. Mark setzte ihm nach, boxte ihn zwei-, dreimal mit aller Gewalt in den Leib und zielte mit einem Handkantenschlag nach seiner Kehle, als die erhoffte Wirkung auch diesmal ausblieb.

Sein Arm wurde mit solcher Kraft gepackt und zurückgerissen, daß er vor Schmerz aufschrie und gestürzt wäre, hätte die gleiche Hand, die ihn zurückgerissen hatte, ihn nicht auch festgehalten. Eine Sekunde später wurde sein Arm mit brutaler Kraft auf den Rücken gedreht, eine Hand krallte sich in sein Haar und riß seinen Kopf in den Nacken, und dann traf ihn ein harter Kniestoß in den Rücken und ließ ihn endgültig in die Knie brechen. Ein gleißender Schmerz explodierte in seinen Nieren, und für einen Moment sah er nichts außer bunten Farbblitzen. Sein Kopf wurde so weit in den Nacken gebogen, daß er kaum noch Luft bekam und deshalb auch nicht schreien konnte, und der Gewalt, mit der er festgehalten wurde, hatte er nichts entgegenzusetzen. Trotzdem wehrte er sich noch einen kurzen Moment mit aller Kraft. Seine Wut war noch nicht verraucht. Er fügte sich mit seiner Gegenwehr nur selbst Schmerzen zu, aber das war ihm gleich. Er mußte irgend etwas zerstören - wenn er nichts anderes fand, sich selbst.

Kurz bevor er sich selbst den Arm auskugeln konnte, wurde der Griff ein wenig gelockert, nicht einmal annähernd weit genug, um sich loszureißen, aber immerhin kam er unsicher auf die Füße, auch wenn er weiter mit unerbittlicher Kraft gehalten wurde. Er drehte den Kopf zur Seite, soweit es die Hand zuließ, die sich noch immer in sein Haar krallte, und erkannte, daß er von einem langhaarigen, muskelbepackten Burschen in Lederjacke und Jeans festgehalten wurde. Ein zweiter Rausschmeißer stand nur einen Schritt hinter ihm, aber er hatte die Lage bereits richtig eingeschätzt und erkannt, daß es wohl kaum nötig sein würde, sich zu zweit auf Mark zu stürzen.

»Es ist okay«, sagte Mark mühsam. »Ich bin in... in Ordnung. Ihr könnt mich loslassen.«

Er wurde nicht losgelassen, aber der Druck auf seinen Arm ließ weiter nach; wenigstens trieb der Schmerz ihm jetzt nicht mehr die Tränen in die Augen. Dafür traf ihn ein harter Stoß in den Rücken, der ihn vorwärtstaumeln ließ.

Mark hatte sich immer gefragt, wie eine solche Situation wohl sein mochte; sein größtenteils wohlbehütetes Leben im Internat hatte ihn vor Gewalttätigkeiten jeder Art bewahrt, aber natürlich hatte er sich solche Situationen vorgestellt. Die Wahrheit war ganz anders - nicht annähernd so dramatisch, aber dafür ging es sehr viel schneller. Binnen Sekunden wurde er von beiden Rausschmeißern zum Ausgang gezerrt, während hinter ihnen Musik und Tanz bereits wieder einsetzten, als wäre überhaupt nichts geschehen. Nicht einmal eine Minute, nachdem er den Betrunkenen niedergeschlagen hatte, fand er sich der Länge nach auf dem Bauch vor dem Eingang der Diskothek liegend.

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