41. Kapitel

Sillmann hatte angefangen, die Kerzen zu entzünden. Es waren sehr viele - längst nicht mehr so viele wie damals, in jener furchtbaren Nacht, als Petri und er hergekommen waren und Mark schreiend und um sich schlagend inmitten eines Raumes voller Toter und Sterbender vorgefunden hatten, aber immer noch Dutzende, vielleicht Hunderte. Die Polizei hatte den Keller damals versiegelt, und alles war so geblieben, wie es war. Nur ein paar Kleinigkeiten waren verändert worden.

Er tat alles, um diese Änderungen rückgängig zu machen. Er hätte selbst nicht sagen können, warum, aber mit einem Male erschien es ihm ungeheuer wichtig, daß alles hier wieder so war, wie sie es damals vorgefunden hatten. Vielleicht aus dem absurden Gedanken heraus, die Ereignisse sich zwangsläufig wiederholen zu lassen, ganz einfach, indem er die gleichen Voraussetzungen schuf.

Und die Parallelen waren unübersehbar. Das Verhältnis zwischen toten Toten und lebenden Toten war anders - diesmal hatte der barmherzige Tod die Oberhand behalten, während sein dunkler Bruder, der die Körper der Menschen unangetastet ließ, nur ein einziges Opfer gefunden hatte, aber beide waren sie da. Die Parallelen waren unübersehbar, und vielleicht war es mehr als ein morbider Zufall. Vielleicht war es ein Zeichen.

Berger wimmerte manchmal leise. Sillmann wunderte sich ein wenig, daß er noch lebte. Er verblutete, aber es dauerte viel länger, als er erwartet hatte. Er hätte gerne etwas für ihn getan - nicht aus Mitleid oder gar Schuldgefühl, sondern einfach aus dem Wissen heraus, daß ihm eine Verlängerung seiner Qual keinen Vorteil mehr brachte und auch keine innere Befriedigung. Aber er konnte es nicht. Es konnte es nicht wagen, nach oben zu gehen und Hilfe zu holen, und hier unten hatte er nicht die Möglichkeit, ihm irgendwie zu helfen. Er hätte seine Qualen beenden können, indem er ihn tötete, aber dazu fehlte ihm der Mut.

Und er hatte nicht mehr viel Zeit. Er spürte, daß es bald soweit war. Mark war auf dem Weg hierher, und bis er kam, mußte er bereit sein.

Sillmann schritt von Kerze zu Kerze und zündete die ausgetrockneten Dochte an. Manche zerfielen einfach zu Staub, aber die meisten brannten nach all der Zeit noch überraschend kräftig. Schließlich trat er an den Sekretär, der an der Wand neben der Tür stand, um auch die Kerzen darauf anzuzünden. Es waren nur drei Stück. Zwei brannten sofort, aber die dritte war mürbe geworden - als er sie berührte, fing der Docht zwar Feuer, aber die Kerze zerbrach in zwei Stücke. Flüssiges Wachs tropfte auf das Durcheinander von Papieren und Büchern, das den Sekretär bedeckte, und eines der Blätter begann zu schwelen. Sillmann schlug die Funken rasch mit der bloßen Hand aus und fegte das Blatt zu Boden, um ganz sicherzugehen.

Darunter kam ein aufgeschlagenes Buch zum Vorschein. Es hatte die letzten sechs Jahre verborgen dort gelegen, ebenso wie an jenem Abend, als Petri und er gekommen waren. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Papiere beiseite zu räumen, um es anzusehen. Sillmann tat es jetzt. Sein Blick fiel auf die aufgeschlagenen Seiten, verharrte einen Moment darauf, schweifte ab und kehrte dann abrupt zurück.

Für eine kurze Zeit stand er einfach da, starrte die engbedruckten Blätter an und dachte nichts. Er konnte es nicht mehr. Ein Gefühl eisiger, lähmender Kälte begann sich in ihm breitzumachen, eine Empfindung, die weit jenseits normalen Entsetzens und vorstellbarer Furcht lag.

»Oh mein Gott!« flüsterte er. »Großer Gott!« Immer und immer wieder.

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