12. Kapitel

Es war derselbe Traum, und zugleich war er auch vollkommen anders. Diesmal konnte er seine Umgebung genau erkennen, und er sah, daß er sich getäuscht hatte; das, oder der Raum hatte sich verändert. Der Kerzenschein, die wenigen, wenn auch ausgesuchten Möbelstücke und der düstere Gesang der sich wiegenden Gestalten, die im Kreis am Boden hockten, hatten ihm in der ersten Vision eine Behaglichkeit verliehen, die er jetzt nicht mehr besaß. Es war ein Verlies, düster und ohne Fenster und mit gemauerten Wänden, an denen nur hier und da noch die Reste von grauem Betonputz klebten. Auf der anderen Seite war eine Tür, die er beim ersten Mal ebenfalls nicht bemerkt hatte. Und noch etwas war anders:Diesmal war er sich vom ersten Moment an darüber im klaren, daßer träumte. Nichts von alledem, was er zu sehen, was er zu hören oder was er zu fühlen glaubte, besaß irgendeine Substanz. Aber dieses Wissen half nicht. Es machte den Schrecken, mit dem ihn die Vision erfüllte, nicht weniger schlimm, sondern schien ihn im Gegenteil noch zu intensivieren, denn mit diesem Wissen ging ein anderes, schlimmeres Hand in Hand: Real oder nicht, er war in Gefahr, das spürte er deutlich.

Langsam drehte er sich im Kreis, wobei sein Blick der Bewegung vorauseilte. Er tastete über die am Boden hockenden Gestalten, die Kerzen und den Sekretär - war er das erste Mal schon dagewesen? Er wußte es nicht mehr - und suchte nach etwas Bestimmtem, von dem er im ersten Moment nicht einmal wußte, was es war, nur, daß es da war und daß es ihm angst machte.

Anders als in einem normalen Traum war er weder unbeteiligter Zuschauer noch hilfloses Opfer oder Gejagter, sondern schien über eine Art Körper zu verfügen, zumindest konnte er sich bewegen. Aber er war nicht direkt beteiligt: Der Kreis der sich wiegenden, an den Händen haltenden Gestalten am Boden war noch immer da, doch diesmal sah ihn niemand an, keine Hände streckten sich ihm entgegen, um ihn festzuhalten, kein Gesicht zerfiel zu einer Zombiegrimasse, die ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte. Die Luft roch schlecht und scharf, und von irgendwoher kam ein rhythmischer, stampfender Laut, fast wie das Schlagen eines gewaltigen eisernen Herzens.

Vielleicht war es das ja, dachte Mark: das steinerne Herz eines steinernen Riesen, in dessen Adern der Wahnsinn pulsierte und dessen Gedanken geronnene Furcht waren. Im Wachen hätte er über diese Vorstellung gelächelt, aber jetzt gab sie seiner Furcht neue Nahrung. Er wußte natürlich noch immer, daß er träumte, aber zugleich wußte er auch noch immer mit unerschütterlicher Sicherheit, daß er in Gefahr war. Real oder nicht, was ihn hier bedrohte, war echt. Er war in einem Bereich des Seins gestrandet, der irgendwo zwischen Tod und Leben lag, und der Weg hinaus fährte in beide Richtungen: und in beide vielleicht gleich schnell und endgültig.

Wieder sah er die Tür an. Es war eine typische Alptraumtür: Ihre Proportionen stimmten nicht. Sie war zu niedrig, dafür zu breit, und bestand aus massivem Eisen, das irgendwann einmal einen Schutzlack gehabt hatte, nun aber gleichsam gehäutet war; Rost hatte das Metall zerfressen, es zu einer braunen Masse gemacht, die an verklumptes Blut erinnerte, wo sie nicht von schwärenden Beulen übersät war. Es gab kein Schloß, nur eine ausgefranste Wunde mit schwarzen Rändern, vielleicht die Spuren eines Schneidbrenners, mit dem diese Tür einmal gewaltsam geöffnet worden war. Durch diese Bresche in der stählernen Wand schimmerte Licht, das nicht heller, aber doch irgendwie anders war als das hier im Raum.

Was bedeutete dieser Traum? Mark hatte immer noch Angst - sein Herz hämmerte, und obwohl er seine Hände nicht sehen konnte, spürte er, daß sie zitterten und feucht vor Schweiß waren -, aber nun, wo er sich keiner direkten Gefahr ausgesetzt sah, hatte sie sich ein Stück zurückgezogen, nicht ganz und auch nicht auf Dauer, sondern wie eine gißige Spinne, die zurück ins Zentrum ihres Netzes gekrochen war und dort reglos auf ihre Beute lauerte. Er war sich ihrer Nähe sehr bewußt, trotzdem begann er allmählich so etwas wie Neugier zu empfinden.

Was bedeutete dieser Traum? Warum war er hier?

Er war sicher, keine der Gestalten am Boden zu kennen, diesen Raum niemals wirklich gesehen, dieses unheimliche Geschehen niemals wirklich erlebt zu haben; weder in dieser noch in irgendeiner anderen Form. Und trotzdem hatte er ein Gefühl der Vertrautheit, das mit jedem Moment stärker wurde.

Langsam begann er sich durch den Raum zu bewegen, wobei er sich erneut und mit wachsendem Interesse umsah. Es war tatsächlich eine Art Verlies, vielleicht ein sehr alter Keller, dem jemand mit ein paar Teppichen und Möbelstücken ohne viel Erfolg einen Anstrich von Wohnlichkeit zu verleihen versucht hatte. An den Wänden hingen Poster, und unter der Decke befanden sich zwei überlange Neonröhren. Ihr Licht wurde von dem der unzähligen Kerzen überstrahlt, sorgte aber trotzdem für den größten Teil der Helligkeit hier unten.

Unweit der Tür befand sich ein Sekretär, der in seiner schlichten Form schon fast einen Anachronismus darstellte und mit Papieren und den allgegenwärtigen Kerzen übersät war. Er wollte näher herangehen, um einen Blick auf die Papiere zu werfen, aber das hätte auch bedeutet, sich der Tür zu nahem, und irgend etwas hielt ihn davon ab. Es gab keinen logischen Grund dafür (logisch? Nichts von dem, was er hier erlebte, war in irgendeiner Form logisch!), aber die Angst war wieder da; die Spinne im Netz war sprungbereit, und sich der Tür zu nähern hieße, ihre Fäden zu berühren und sich darin zu verwickeln.

Statt dessen machte er beinahe erschrocken einen Schritt zurück und geriet dabei wieder zwischen die Gestalten am Boden.

Der Kreis schloß sich.

Aus dem Alptraum von gestern wurde der von heute.

Das dunkle Dröhnen des metallenen Herzschlages hielt an, aber der Gesang verstummte für einen Moment. Ein Dutzend Gesichter wandte sich ihm zu, bleich, tot und mit erloschenen Augen, und dahinter, noch nicht ganz die Grenze des wirklich Sichtbaren erreichend, aber schön da, war die Lichtgestalt. Der Todesengel, der erneut gekommen war, um ihn zu holen.

»Du hast uns verraten, Mark. Du hast uns alle getötet.«

Er schrie. Es war ein lautloser Schrei, denn seine Kehle war zugeschnürt, aber er hallte in seinem Kopf wider und machte aus der schwarzen Spinne der Furcht einen rasenden Wirbel, der sein klares Denken und seine Vernunft verschlang. Entsetzt riß er die Arme vor das Gesicht und taumelte rückwärts vor der Gestalt davon, die vor ihm aus dem Licht trat und die Hände nach ihm ausstreckte.

»Du hast uns verraten. Wir haben dir vertraut, und unser Leben war der Preis.«

Mark taumelte weiter. Er prallte gegen die Wand, schlug wimmernd die Hände vor das Gesicht und krümmte sich wie unter Schlägen, obwohl die Gestalt nicht näher gekommen war, sondern ihm im gleichen Abstand folgte, was das Geschehen nun vollends zum Alptraum werden ließ. Der unsichtbare Verfolger aller bösen Träume aller Zeiten war da, die Schimäre, die immer hinter einem war, immer Schritt hielt, ganz gleich, wie schnell oder langsam man auch lief. Aber dieser Vergleich war ungefähr und einseitig - in einem Traum konnte einem das Monster nichts tun, solange man sich nicht herumdrehte und es ansah, aber dieses Geschöpf kam näher, langsam, aber unerbittlich.

Marks Rücken schrammte an rauhem Stein und an rostzerfressenem Metall entlang, und er spürte, wie sich die Tür schwerfällig hinter ihm bewegte, sich öffnete. Er wollte nicht hindurchgehen.

Er durfte es nicht.

Wenn er es tat, dann würde er sterben. Hier und jetzt und endgültig - und vielleicht nicht einmal wirklich tot sein, sondern für alle Zeiten in diesem Alptraum gefangen.

Wimmernd vor Angst wich er weiter zurück, und auch die Tür bewegte sich weiter. Langsam und träge und mit der Schwerfälligkeit ihres großes Gewichtes, aber auch dessen Beharrlichkeit.

Der Herzschlag wurde lauter, als die Tür sich weiter öffnete. Mark schrie erneut, taumelte zurück und riß die Arme herunter, um mit einer rudernden Bewegung um sein Gleichgewicht zu kämpfen. Die Gestalt war jetzt ganz nahe; ein bleicher Schemen ohne klar umrissene Konturen oder Gesicht, aber von tödlicher Bedrohung.

»Mark!«

Er schrie. Diesmal wirklich und so laut, daß sein Hals schmerzte. Die Tür in seinem Rücken schwang weiter auf, und irgend etwas war da. Er wollte nicht hindurchgehen. Was immer es war, es erfüllte ihn mit panischer Angst: einer Furcht, die noch größer war als die vor dem Todesengel, der ganz langsam näher kam und nun die Arme ausstreckte. Vielleicht würde ihn seine Berührung töten, vielleicht ihm etwas Schrecklicheres antun, doch was immer es war, es konnte nicht schlimmer sein als das, was hinter der Tür lauerte.

Mark fand mit wild fuhrwerkenden Armen seine Balance wieder, stieß sich von der zurückweichenden Barriere aus rostigem Eisen ab und schlug blind vor Furcht um sich.

»Mark!«

Der erste Schlag ging ins Leere, aber sein zweiter Hieb traf und schleuderte die unheimliche Erscheinung zurück. Ein gellender Schrei schnitt wie ein Messer in seine Gedanken, und gleichzeitig spürte Mark, wie er erneut und von der Wucht seines eigenen Hiebes zurückgeworfen das Gleichgewicht verlor und jetzt wirklich stürzte, rückwärts hindurch durch die Tür, hinter der das Grauen lauerte und...

... mit einem erstickten Keuchen hochfuhr. Sein Herz schlug mit kurzen, harten Stößen gegen seine Rippen, und seine Kehle schmerzte von den Schreien, die er ausgestoßen hatte. Er zitterte am ganzen Leib, und im ersten Moment wußte er nicht wirklich, wo er war, sondern wähnte sich weiter in jenem schrecklichen Raum hinter der Eisentür. Alles drehte sich um ihn, Licht und Schatten führten einen irren Veitstanz auf, und er hörte noch immer jenen dröhnenden schweren Herzschlag. Er wußte, daß er wach und der Traum vorüber war, aber zugleich schien es ihm nicht zu gelingen, wirklich in die Realität zurückzukommen. Sein Erwachen war weder ein sanftes Gleiten noch ein jäher Sturz von der einen in die andere Wirklichkeit gewesen, vielmehr schien er in einer klebrigen Membran verstrickt, die beide Welten voneinander trennte und ihn mit zäher Kraft zurückzuhalten versuchte. Er keuchte vor Anstrengung, fiel zurück und setzte sich abermals mit rudernden Armen auf, und in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und sein Vater stürmte herein. Marks Erinnerungen fügten im nachhinein seine polternden schweren Schritte auf der Treppe hinzu, die er wahrgenommen, aber nicht registriert hatte. Offenbar hatte er laut genug geschrien, um seinen Vater am anderen Ende des Hauses zu alarmieren. Sein Gesicht war schreckensbleich, und sein Atem ging so schwer, daß er die Worte nur als kaum verständliches Keuchen hervorstieß: »Mark, was ist los? Was - ?«

In seinem Gesicht erschien ein neuer, noch größerer Schrecken, und seine Augen weiteten sich, als sein Blick auf einen Punkt am Boden neben Marks Bett fiel. »Mein Gott, was ist hier passiert?« flüsterte er.

Mark verstand im allerersten Moment kein Wort. Der Schrecken im Gesicht seines Vaters paßte zu gut zu seinen eigenen Empfindungen in diesem Augenblick, als daß er auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, einen besonderen Grund dafür zu suchen. Aber dann folgte er dem Blick seines Vaters und sah die Gestalt, die vor seinem Bett lag, und dieser Anblick zerriß die Membran endgültig, deren klebrige Reste ihn bisher noch festgehalten harten. Noch während er sich mit einem Ruck zur Seite schwang und in einer einzigen fließenden Bewegung halb vom Bett fiel, halb herunterglitt, um neben Marianne niederzuknien, ordneten sich die durcheinanderwirbelnden Bilder in seinem Kopf zu einem Puzzle, das Alptraum und Realität gleichermaßen umfaßte. Nicht alles hatte zu jener surrealistischen Welt des Kellers gehört. Die Stimme, die zweimal seinen Namen gerufen hatte, gehörte Marianne, und der pochende Schmerz in seiner rechten Hand erzählte den Rest der Geschichte: Offensichtlich hatte sich Marianne über ihn gebeugt, um ihn wachzurütteln, weil er im Schlaf geschrien hatte, und ebenso offensichtlich hatte er sie niedergeschlagen.

»Was zum Teufel hast du getan?!«

Mark ignorierte den schneidenden Ton in der Stimme seines Vaters ebenso wie dessen verwirrte Gesten. Sie waren beide nahezu gleichzeitig neben Marianne niedergekniet, aber sie schienen auch beide gleich hilflos. Mark streckte die Hände nach Marianne aus, aber er wagte es nicht, sie zu berühren. Seine Gedanken überschlugen sich. Marianne rührte sich nicht. Er konnte nicht sehen, daß sie atmete, und für einen Moment war er felsenfest davon überzeugt, sie getötet zu haben. Seine rechte Hand schmerzte immer heftiger. Er mußte in seinem panischen Kampf gegen den Todesengel mit aller Gewalt zugeschlagen haben. Er hatte sie umgebracht.

»Was ist denn nur passiert?« fragte sein Vater. Er klang jetzt nur noch erschrocken, nicht mehr zornig und fordernd, und obwohl ihm selbst der Gedanke in dieser Situation geradezu grotesk erschien, begriff Mark vielleicht zum ersten Mal wirklich, daß die herrische Art seines Vaters vielleicht nicht mehr als eine Maske war; eine Gewohnheit, die ihm so sehr in Fleisch und Blut übergegangen war, daß er sie schon gar nicht mehr abstreifen konnte, geschweige denn wollte. Aber er war gar nicht so. Nicht wirklich. Vielleicht war er nicht einmal annähernd so stark, wie Mark bisher geglaubt hatte.

»Ich weiß es nicht«, stammelte er. »Es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Es ist...«

Marianne bewegte stöhnend die Hände und versuchte den Kopf zu heben. Ihre Bewegungen waren unsicher und nicht richtig koordiniert, so daß Mark rasch ihre Hand ergriff und festhielt, damit sie sich nicht selbst verletzte.

»Marianne!« sagte er. »Können Sie mich verstehen? Was ist mit Ihnen? Sind Sie in Ordnung?«

Natürlich war sie es nicht. Sie hatte jetzt zwar die Augen geöffnet, schien ihn aber im ersten Moment gar nicht wahrzunehmen; zumindest war in ihrem Blick kein Erkennen. Mark sah, daß die linke Seite ihres Gesichtes bereits anzuschwellen begann.

»Es tut mir so leid«, murmelte er. »Bitte, da... das wollte ich nicht. Ich wußte nicht -«

»Was?« Der schneidende Ton war wieder da, und diesmal war er nicht gespielt. Mark sah nur flüchtig auf, aber schon dieser kurze Blick ins Gesicht seines Vaters reichte, ihn alles wieder streichen zu lassen, was er gerade über ihn gedacht hatte. Möglicherweise war seine Härte ja tatsächlich nur aufgesetzt - aber wenn, dann so perfekt, daß es keinen Unterschied machte.

»Was... was ist passiert?« murmelte Marianne. Sie versuchte sich aufzusetzen, und Mark gewann einige kostbare Sekunden damit, ihr dabei zu helfen und sie zu stützen.

»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. »Ich wollte das nicht, Marianne. Ich glaube, ich...«

»Ich glaube«, unterbrach ihn sein Vater, »daß du uns eine Menge zu erklären hast, mein lieber Junge. Warst du das?«

»Er hat es nicht absichtlich getan«, sagte Marianne leise. »Bitte, Herr Sillmann - regen Sie sich nicht auf. Es war ein Unfall. Mark kann nichts dafür.«

Mark verspürte ein kurzes, heftiges Aufwallen von Dankbarkeit. Marianne war noch immer benommen. Selbst durch den dicken Stoff ihres Kleides hindurch konnte er spüren, daß sie am ganzen Leib zitterte, und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit wußte sie gar nicht, was passiert war. Trotzdem versuchte sie ihn in Schutz zu nehmen. Aber dieser Gedanke weckte auch seinen Trotz - und den Zorn auf seinen Vater, den er nicht umsonst monatelang sorgsam kultiviert hatte. Plötzlich begriff er wieder, daß es einen Grund dafür gab.

»Doch, ich kann etwas dafür«, sagte er. »Es war meine Schuld. Aber darüber reden wir später. Jetzt legen Sie sich erst einmal aufs Bett, und ich rufe Ihnen einen Arzt.«

»Nein!« Marianne klang fast entsetzt. »Keinen Arzt. Mir fehlt nichts.«

»Das zu beurteilen, überlassen Sie bitte Doktor Petri«, sagte Marks Vater. »Mark hat vollkommen recht. Wir rufen einen Arzt und klären hinterher, was überhaupt passiert ist.«

Das klang vernünftig - aber zugleich auch nicht besonders überzeugend. Mark mußte seinen Vater nicht einmal ansehen, um zu spüren, daß diese Worte nur rhetorisch gemeint waren. Vermutlich, dachte er wütend, arbeitete es hinter der Stirn seines Vaters schon wieder auf die gewohnte Art: Der Arzt würde Fragen stellen, und selbst wenn nicht, würde er sich seinen Teil denken. Die Leute könnten reden. Gut.

Mit einer fast zornigen Bewegung half er Marianne, sich auf das Bett zu legen, dann richtete er sich auf und deutete zur Tür. »Ich ruf jetzt den Arzt an. Und Sie rühren sich nicht, klar?«

»Bitte nicht«, sagte Marianne. »Mir fehlt nichts. Ein paar Minuten Ruhe und ein kalter Umschlag, und alles ist wieder in Ordnung.«

Mark machte sich nicht einmal die Mühe, zu antworten. Er sah sie nur an. Ihr linkes Auge schwoll so schnell zu, daß man dabei zusehen konnte. In spätestens einer Stunde würde sie Mühe haben, zu reden. Wortlos drehte er sich um, verließ das Zimmer und ging zum Telefon in der Diele, um den Arzt anzurufen. Er hätte es ebensogut vom Anschluß in seinem Zimmer aus tun können, aber das hätte bedeutet, länger in der Nähe seines Vaters zu bleiben, und aus irgendeinem Grund ertrug er den Gedanken im Moment einfach nicht. Es gab überhaupt keinen vernünftigen Anlaß dazu, aber in diesem Augenblick machte er nicht sich, sondern ihn für alles verantwortlich, was geschehen war. Dies war sein Haus, und es war der böse Geist seines Vaters, der es beherrschte.

Er fand die Nummer des Arztes auf der ersten Seite im Telefonbuch, aber er zögerte plötzlich, sie zu wählen. Er hatte nur flüchtige Erinnerungen an Dr. Petri, einen ältlichen, auf den ersten Blick netten Mann, der beinahe ebenso lange zu diesem Haushalt gehörte wie Marianne und sehr viel länger als er selbst. Mark war als Kind selten krank gewesen und hatte somit wenig Kontakt mit ihm gehabt. Trotzdem hatte er keine guten Erinnerungen an ihn. Dr. Petri war der Mann, der seine Mutter in die Klinik eingewiesen hatte.

Aber das spielte im Moment keine Rolle. Er war ein sehr guter Arzt, und das allein zählte. Außerdem würde er wahrscheinlich sehr schnell hier sein. Seine Praxis befand sich nur zwei Straßen entfernt. Mark wählte seine Nummer, wartete ungeduldig, bis sich die Sprechstundenhilfe meldete, und bat mit knappen Worten um einen Besuch. Wieder ein winziges Detail, das zeigte, welchen Einfluß sein Vater besaß: Die junge Frauenstimme am Telefon fragte nicht, was geschehen war, sondern antwortete nur, daß Dr. Petri in spätestens zehn Minuten kommen würde. Marks Zorn auf seinen Vater stieg.

Aus diesem Grund ging er auch nicht in sein Zimmer zurück, sondern wartete in der Halle, bis der Arzt kam - was tatsächlich nicht einmal zehn Minuten dauerte. Petri schien alles stehen- und liegengelassen zu haben, um zu seinem wichtigsten Patienten zu eilen.

Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck maßloser Überraschung, als er Mark erkannte, aber gleich darauf auch ein Lächeln, das so ehrlich war, daß Mark sich seiner eigenen Gedanken von vorhin fast schämte. Er begegnete in letzter Zeit sehr selten Menschen, die sich freuten, ihn zu sehen. Zu selten, als daß er es sich leisten konnte, ungerecht zu sein.

»Mark!« sagte Petri. »Sie sind zu Hause? Das ist ja eine Überraschung. Sind denn schon wieder Ferien?«

Mark trat zurück und öffnete in der gleichen Bewegung weiter die Tür. »Nein«, antwortete er. »Ich bin nur... zu einem kurzen Besuch.«

»Das ist schön«, sagte Petri und trat ein. Mark hatte ihn als alten, sehr schlanken Mann in Erinnerung, aber in beiden Punkten hatte er sich getäuscht Er war nicht annähernd so alt, wie er geglaubt hatte, dafür aber so dürr, daß selbst der teure Maßanzug, den er trug, um seine Gestalt zu schlottern schien. Die Arzttasche in seiner rechten Hand schien viel zu schwer für einen Mann seiner Statur.

»Wie lang haben wir uns nicht mehr gesehen? Drei Jahre? Vier?«

»So ungefähr«, sagte Mark. Er war ein bißchen verlegen. Natürlich konnte Petri nicht wissen, was er über ihn gedacht hatte, aber er wußte es, und das allein reichte, ihn sich unwohl fühlen zu lassen. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sich bei Petri zu entschuldigen.

»Wie die Zeit doch vergeht«, murmelte Petri. Plötzlich erschien ein Ausdruck leiser Sorge auf seinem zerfurchten Gesicht. »Aber was ist denn eigentlich passiert? Meine Sprechstundenhilfe sagte nur, daß ich vorbeikommen soll und daß es eilig wäre. Es ist doch nichts mit Ihrem Vater?«

»Marianne«, verbesserte ihn Mark kopfschüttelnd. »Es hat einen kleinen Unfall gegeben.«

»Ein Unfall?« Petri wirkte alarmiert. Vielleicht mehr, als er sollte.

»Es ist wirklich nichts Schlimmes, Doktor.« Marks Vater erschien unter der Tür und riß allein durch sein Auftauchen die Regie der Szene wieder an sich. Er lächelte knapp und ohne echtes Gefühl und fuhr fort: »Aber Mark hat schon recht - es ist besser, Sie sehen nach ihr. Kommen Sie, Doktor.«

Petri wirkte nun vollends verwirrt, aber sein Vater war nun wieder vollkommen zu dem Mann geworden, als den er ihn in Erinnerung hatte: Er sprach weder besonders laut noch mit besonderer Betonung, doch sein Wort war Befehl, der keinen Widerspruch duldete. Mark gestand es sich ungern ein, aber selbst er spürte die Autorität, die sein Vater ausstrahlte.

»Mark, wartest du bitte oben in der Bibliothek? Ich komme dann sofort nach.«

»Sicher.«

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