Robert Ludlum Das Bourne Vermächtnis

Prolog

Chalid Murat, der Führer der tschetschenischen Rebellen, saß unbeweglich im mittleren Fahrzeug der kleinen Kolonne, die sich ihren Weg durch die zerbombten Straßen von Grosny bahnte. Die Schützenpanzer BTR-60 BP stammten aus russischen Beständen, sodass der Konvoi als solcher sich nicht von all den anderen unterschied, die auf Streifenfahrt durch die Stadt rasselten. Murats schwer bewaffnete Männer hockten in den beiden anderen Fahrzeugen — eines vor und eines hinter seinem eigenen. Sie waren zum Krankenhaus Nummer neun unterwegs, das zu den sechs oder sieben Verstecken gehörte, die Murat benützte, um drei Schritte vor den russischen Truppen zu bleiben, die nach ihm fahndeten.

Murat hatte einen schwarzen Vollbart, die tapsigen Bewegungen eines Bären und den feurigen Blick eines wahren Eiferers. Er hatte frühzeitig gelernt, dass man nur mit eiserner Faust herrschen konnte. Er war dabei gewesen, als Jochar Dudajew erfolglos die Scharia, das religiöse Gesetz des Islams, eingeführt hatte. Er hatte das Blutbad erlebt, mit dem alles angefangen hatte, als von Tschetschenien aus operierende Kriegsherren, ausländische Verbündete Osama bin Ladens, in Daghestan eingefallen waren und in Moskau und Wolgodonsk Bombenanschläge hatten ausführen lassen, denen zweihundert Menschen zum Opfer gefallen waren. Als diese von Ausländern verübten Anschläge fälschlicherweise tschetschenischen Terroristen zugeschrieben wurden, hatten die Russen mit ihren verheerenden Bombenangriffen auf Grosny begonnen und große Teile der Hauptstadt in Trümmer gelegt.

Der Himmel über der Stadt war verschleiert, durch ständige Zufuhr von Asche und Schlacke getrübt; in dem Dunst entstand ein schimmerndes Leuchten, das so stark war, dass es fast radioaktiv wirkte. Überall in der Trümmerlandschaft brannten blakende Ölfeuer.

Chalid Murat starrte durch die getönte Panzerglasscheibe, als die Kolonne am ausgebrannten Skelett eines Gebäudes vorbeirollte: massiv, imposant aufragend, das dachlose Innere von flackernden Flammen erfüllt. Er grunzte, wandte sich an seinen Stellvertreter Hassan Ar-senow und sagte:»Grosny war einst die Heimatstadt von Liebespaaren, die auf den breiten, von Bäumen gesäumten Boulevards flanierten, von Müttern, die Kinderwagen über die begrünten Plätze schoben. Der große Zirkus war jeden Abend ausverkauft, voller fröhlicher, lachender Gesichter, und Architekten aus aller Welt pilgerten hierher, um die prachtvollen Gebäude zu sehen, die Grosny einst zu einer der schönsten Städte der Welt gemacht haben.«

Er schüttelte trübselig den Kopf, schlug dem anderen kameradschaftlich aufs Knie.»Allah, Hassan!«, rief er aus.»Sieh es dir genau an! Die Russen haben alles zerstört, was gut und schön war!«

Hassan Arsenow nickte. Er war ein lebhafter, energischer Mann, volle zehn Jahre jünger als Murat. Als ehemaliger Biathlet hatte er die breiten Schultern und schmalen Hüften eines geborenen Athleten. Als Murat zum Führer der Rebellen aufgestiegen war, hatte Arse-now ihn begleitet. Jetzt machte er Murat auf ein ausgebranntes Gebäude rechts vor ihnen aufmerksam.»Vor dem Krieg«, sagte er nachdrücklich ernst,»als Grosny noch ein Raffineriezentrum war, hat mein Vater dort im Öl-Institut gearbeitet. Statt Gewinnen aus der Ölförderung bekommen wir jetzt Großbrände, die unsere Luft und unser Wasser verunreinigen.«

Die beiden Aufständischen verfielen angesichts der ausgebombten Gebäude, zwischen denen sie hindurchfuhren, und der leeren Straßen, über die nur Aasfresser — menschliche und tierische — huschten, in bedrücktes Schweigen. Als sie sich wenige Minuten später einander zuwandten, stand Schmerz über die Leiden ihres Volkes in ihrem Blick. Murat wollte etwas sagen… und erstarrte dann, weil unverkennbar Geschosse gegen ihr Fahrzeug prasselten. Er brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass der Schützenpanzer mit Handfeuerwaffen beschossen wurde, deren Geschosse die massive Panzerung jedoch nicht durchschlagen konnten. Arsenow, stets wachsam, griff nach dem Mikrofon ihres Funkgeräts.

«Ich lasse die Besatzung unserer Begleitfahrzeuge zurückschießen.«

Murat schüttelte den Kopf.»Nein, Hassan. Überleg doch! Wir fahren zur Tarnung in russischen Uniformen mit russischen Schützenpanzern. Wer uns beschießt, ist eher ein Verbündeter als ein Feind. Das müssen wir feststellen, bevor wir das Blut von Unschuldigen vergießen.«

Er nahm Arsenow das Mikrofon aus der Hand und ließ die Fahrzeuge halten.

«Leutnant Gotschijajew«, sagte er über Funk,»schicken Sie einen Stoßtrupp zur Erkundung los. Ich will wissen, wer uns beschießt, aber den Schützen soll nichts geschehen.«

Im Führungsfahrzeug befahl Leutnant Gotschijajew seinen Männern, in Deckung des bewaffneten Konvois auszuschwärmen. Er folgte ihnen auf die mit Trümmern übersäte Straße hinaus, zog in der schneidenden Kälte die Schultern hoch. Mit präzisen Handzeichen dirigierte er seine Männer so, dass sie die vermutliche Feuerstellung auf beiden Seiten umgingen.

Die Männer waren gut ausgebildet: Sie bewegten sich rasch und lautlos von Trümmerbrocken zu Mauerresten und zu verbogenen Metallträgern hinüber, blieben stets geduckt und boten so möglichst kleine Ziele. Allerdings fielen keine weiteren Schüsse. Den abschließenden Angriff begannen sie gemeinsam: eine Zangenbewegung, die den Gegner einschließen und durch mörderisches Kreuzfeuer vernichten sollte.

Im mittleren Fahrzeug beobachtete Hassan Arsenow weiter die Stelle, auf die Gotschijajews Männer zuhielten, und wartete auf eine wilde Schießerei, doch die Feuerstöße aus den Sturmgewehren blieben aus. Stattdessen tauchten in der Ferne Kopf und Schultern des Leutnants auf. Mit Blick zu dem mittleren BTR-60 BP bewegte er den erhobenen rechten Arm bogenförmig, um zu signalisieren, das Gebiet sei gesichert. Auf dieses Zeichen hin zwängte Chalid Murat sich an Arsenow vorbei, stieg aus dem Schützenpanzer und marschierte ohne zu zögern durch die kältestarren Ruinen auf seine Männer zu.

«Chalid Murat!«, rief Arsenow besorgt und lief hinter seinem Anführer her.

Murat hielt jedoch sichtlich unbekümmert auf einen niedrigen Mauerrest zu, hinter dem die Schüsse abgegeben worden waren. Sein Weg führte an mehreren Müllhaufen vorbei; auf einem lag ein weißer Leichnam mit wächserner Haut, der schon vor einiger Zeit seiner Kleidung beraubt worden war. Selbst aus größerer Entfernung traf einen der Verwesungsgestank wie ein Keulenschlag. Arsenow holte Murat schließlich ein und zog seine Pistole.

Als Murat den Mauerrest erreichte, standen seine Männer mit schussbereiten Waffen rechts und links davon aufgebaut. Der böige Wind pfiff und heulte durch die Ruinen. Der metallisch düstre Himmel verfinsterte sich noch mehr, und es begann zu schneien. Eine dünne Schneeschicht bedeckte rasch die Kappen von Murats Stiefeln und bildete ein Netz im drahtigen Gewirr seines Vollbarts.

«Leutnant Gotschijajew, Sie haben die Angreifer aufgespürt?«

«Das habe ich.«

«Allah leitet mich in allen Dingen; er leitet mich auch diesmal. Lassen Sie sie mich sehen.«

«Es ist nur einer«, antwortete Gotschijajew.

«Einer?«, rief Arsenow.»Wer? Hat er gewusst, dass wir Tschetschenen sind?«

«Ihr seid Tschetschenen?«, fragte eine dünne Stimme. Hinter der Mauer tauchte das blasse Gesicht eines Jungen von kaum mehr als zehn Jahren auf. Er trug eine schmutzige Wollmütze, einen durchgewetzten Pullover über mehreren karierten Hemden, eine geflickte Hose und viel zu große rissige Gummistiefel, die er vermutlich einem Toten ausgezogen hatte. Obgleich er noch ein Kind war, hatte er die Augen eines Erwachsenen; sie beobachteten alles mit einer Mischung aus Vorsicht und Misstrauen. Er stand schützend über einer nicht detonierten russischen Rakete, die er geborgen hatte, um Brot kaufen zu können — vermutlich das Einzige, was zwischen seiner Familie und dem Hungertod stand. In der linken Hand hielt er eine Pistole; sein rechter Arm endete am Handgelenk. Murat sah gleich wieder weg, aber Arsenow starrte den Armstumpf weiter an.

«Eine Schützenmine«, sagte der Junge herzzerreißend nüchtern.»Von den Russenschweinen gelegt.«

«Allah sei gepriesen! Was für ein kleiner Soldat!«, rief Murat aus, indem er den Jungen mit seinem strahlenden, entwaffnenden Lächeln bedachte. Es war genau dieses Lächeln, das seine Leute angezogen hatte wie ein Magnet Eisenfeilspäne.»Komm, komm. «Er winkte ihn zu sich heran, hielt dann die leeren Handflächen hoch.»Wie du siehst, sind wir Tschetschenen wie du.«

«Wenn ihr Tschetschenen seid«, sagte der Junge,»wieso fahrt ihr dann mit russischen Schützenpanzern herum?«

«Wie kann man sich besser vor dem russischen Wolf verbergen, ha?«Murat kniff die Augen zusammen und lachte, als er sah, dass der Junge eine Gjursa hatte.»Du trägst die Pistole der russischen Elitetruppen. Solche Tapferkeit muss belohnt werden, stimmt’s?«

Murat kniete neben dem Jungen nieder und fragte ihn nach seinem Namen. Als er ihn erfahren hatte, fuhr er fort:»Asnor, weißt du, wer ich bin? Ich bin Chalid Murat, und auch ich möchte das russische Joch abschütteln. Gemeinsam können wir’s schaffen, nicht wahr?«

«Ich wollte nie auf tschetschenische Landsleute schießen«, sagte Asnor. Mit seinem verstümmelten Arm deutete er auf die Kolonne.»Ich hab gedacht, da käme eine satschistka.« Damit meinte er die von russischen Soldaten auf der Suche nach mutmaßlichen Rebellen durchgeführ-ten barbarischen Säuberungen. Bei diesen satschistkas waren über zwölftausend Tschetschenen ermordet worden; zweitausend waren einfach verschwunden, unzählige andere waren verletzt, gefoltert, verstümmelt oder vergewaltigt worden.»Die Russen haben meinen Vater und meine Onkel ermordet. Wärt ihr Russen, hätte ich euch alle umgebracht. «Ein Krampf aus Wut und Verzweiflung zog über sein Gesicht.

«Das glaube ich dir«, sagte Murat feierlich. Er zog einige Geldscheine aus der Tasche. Der Junge musste seine Pistole in den Hosenbund stecken, um die Scheine mit der Linken entgegenzunehmen. Murat beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte mit Verschwörermiene:»Pass auf, ich sage dir, wo du Munition für deine Gjursa kaufen kannst, damit du vorbereitet bist, wenn die nächste satschistka kommt.«

«Danke!«Asnor rang sich ein Lächeln ab.

Chalid Murat flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann stand er auf und klopfte dem Jungen auf die Schulter.»Allah sei mit dir, kleiner Soldat, und mit allem, was du tust.«

Der Tschetschenenführer und sein Stellvertreter beobachteten, wie der kleine Junge mit dem unter den Arm geklemmten Blindgänger über die Ruinen kletterte und verschwand. Dann kehrten sie zu ihrem Fahrzeug zurück. Mit angewidertem Grunzen knallte Hassan die Panzerstahltür zu, um die Außenwelt — Asnors Welt — auszuschließen.»Bedrückt es dich nicht, dass du ein Kind in den Tod geschickt hast?«

Murat sah zu ihm hinüber. Der Schnee in seinem Bart war zu leicht zitternden Tropfen geschmolzen, sodass er in Arsenows Augen eher an einen Imam als an einen Kommandeur erinnerte.»Ich habe diesem Kind — das den Rest seiner Familie ernähren und kleiden und vor allem beschützen muss, als sei es ein Erwachsener — Hoffnung und ein bestimmtes Ziel gegeben. Kurz gesagt: Ich habe ihm einen Lebenszweck gegeben.«

Verbitterung machte Arsenows Gesicht blass und hart; er starrte Murat böse an.»Russische Kugeln werden ihn zerfetzen.«

«Glaubst du das wirklich, Hassan? Dass Asnor dumm oder — noch schlimmer — leichtsinnig ist?«

«Er ist nur ein Kind.«

«Ist die Saat einmal ausgebracht, keimen die Triebe auch in kargstem Boden. So war’s schon immer, Hassan. Glaube und Mut jedes Einzelnen wachsen und vervielfältigen sich, bis aus diesem einen zehn, zwanzig, hundert, tausend Kämpfer geworden sind!«

«Und in dieser ganzen Zeit wird unser Volk ermordet, vergewaltigt, verprügelt, ausgehungert, wie Vieh eingesperrt. Das reicht nicht, Chalid. Das ist nicht mal andeutungsweise genug!«

«In dir steckt noch die Ungeduld der Jugend, Hassan. «Murat packte ihn an der Schulter.»Nun, das sollte mich nicht überraschen, stimmt’s?«

Arsenow, der sich von Murat bemitleidet fühlte, biss die Zähne zusammen und wandte den Blick ab. Draußen machte der Schnee Luftwirbel sichtbar, die wie tschetschenische Derwische in ekstatischer Trance über die Straße wirbelten. Murat hielt das anscheinend für eine Bestätigung der Bedeutsamkeit dessen, was er eben getan hatte, was er zu sagen im Begriff stand.»Du musst Vertrauen haben«, sagte in besänftigendem, weihevollem Tonfall,»zu Allah und zu diesem mutigen Jungen.«

Zehn Minuten später hielt die Kolonne vor dem Krankenhaus Nummer neun. Arsenow sah auf seine Uhr.»Es ist fast soweit«, sagte er. Dass die beiden im selben Fahrzeug saßen, war ein Verstoß gegen die üblichen Sicherheitsbestimmungen, der sich nur mit der extremen Wichtigkeit des Anrufs, den sie erwarteten, rechtfertigen ließ.

Murat beugte sich nach vorn und drückte auf einen Knopf, und zwischen ihnen und dem Fahrer und den vier Leibwächtern fuhr eine schalldichte Trennwand in die Höhe. Die fünf Männer waren gut ausgebildet; sie starrten weiter nach vorn durch die Panzerglasscheibe.

«Erzähl mir, welche Bedenken du hegst, Chalid, da nun der Augenblick der Wahrheit bevorsteht.«

Murat zog seine buschigen Augenbrauen nach Arse-nows Meinung übertrieben verständnislos hoch.»Bedenken?«

«Willst du nicht, was uns rechtmäßig zusteht, Chalid, was Allah uns bestimmt hat?«

«Du bist sehr impulsiv, mein Freund. Das weiß ich nur zu gut. Wir haben oft Seite an Seite gekämpft — wir haben gemeinsam getötet, und wir verdanken einander unser Leben, nicht wahr? Nun hör mir zu. Ich leide mit unserem Volk. Seine Qualen erfüllen mich mit Zorn, den ich kaum beherrschen kann. Das weißt du vermutlich besser als jeder andere. Aber die Geschichte warnt vor dem, was man am liebsten täte. Die Folgen dessen, was uns vorgeschlagen wird…«

«Was wir selbst geplant haben!«

«Ja, geplant haben«, bestätigte Murat.»Aber die Folgen müssen bedacht werden.«

«Vorsicht«, sagte Arsenow verbittert.»Immer Vorsicht!«

«Mein Freund. «Chalid Murat lächelte, als er den anderen an der Schulter packte.»Ich will nicht irregeführt werden. Ein leichtsinniger Gegner ist schnell besiegt. Du musst lernen, aus Geduld eine Tugend zu machen.«

«Geduld!«, knurrte Arsenow.»Dem Jungen von vorhin hast du keine Geduld ans Herz gelegt. Du hast ihm Geld gegeben und ihm gesagt, wo er Munition kaufen kann. Du hast ihn auf die Russen gehetzt. Jeder Tag, den wir vergeuden, ist ein Tag, an dem dieser Junge und tausend andere wie er ihr Leben riskieren. Ich sage dir, die gesamte Zukunft Tschetscheniens hängt davon ab, wie wir uns entscheiden.«

Murat rieb sich mit kreisenden Bewegungen seiner Daumen die Augen.»Es gibt andere Wege, Hassan. Es gibt immer andere Wege. Vielleicht sollten wir überlegen, ob.«

«Dafür ist keine Zeit mehr. Die Ankündigung ist erfolgt, das Datum festgelegt. Der Scheich hat Recht.«

«Der Scheich, ja. «Chalid Murat schüttelte den Kopf.»Immer der Scheich.«

In diesem Augenblick klingelte das Autotelefon. Murat sah zu seinem treuen Gefährten hinüber, dann schaltete er ruhig den Lautsprecher ein.»Ja, Scheich«, sagte er in ehrerbietigem Ton.»Hassan und ich sind beide hier. Wir erwarten deine Befehle.«

Hoch über der Straße, auf der die Schützenpanzer mit laufenden Motoren standen, kauerte auf einem Flachdach eine Gestalt, die ihre Ellbogen auf die niedrige Brüstung gestützt hatte. Hinter der Brüstung lag ein Sako TRG-41, ein finnisches Scharfschützengewehr mit Drehkammerverschluss — eine der vielen Waffen, die der Mann selbst modifiziert hatte. Ihr Schaft aus Aluminium und Polyurethan machte sie ebenso leicht wie tödlich treffsicher. Er trug einen russischen Tarnanzug, der durchaus zu dem asiatischen Schnitt seines glatten Gesichts passte.

Über der Uniform hatte er ein leichtes Gurtzeug aus Kevlar angelegt, an dem ein Karabinerhaken hing. In seiner Rechten hielt er einen mattschwarzen Kasten von der Größe einer Zigarettenschachtel. Das war ein kleiner Sender, in dessen Vorderseite zwei Knöpfe eingelassen waren. Den Mann umgab Stille wie eine Aura, die andere Menschen einschüchterte. Es war, als verstünde er sich auf Stille, als könne er sie in sich sammeln, manipulieren und schlagartig wie eine Waffe einsetzen.

In seinen schwarzen Augen stand die gesamte Welt, und die Straße, die Gebäude, die er jetzt betrachtete, waren nicht mehr als Kulissen. Er zählte die tschetschenischen Soldaten, als sie aus den Begleitfahrzeugen stiegen. Es waren achtzehn Mann; die Fahrer blieben auf ihren Plätzen, und im mittleren BTR-60 BP saßen außer den beiden Hauptpersonen noch mindestens vier Leibwächter.

Als die Rebellen das Krankenhaus durch den Haupteingang betraten, um es zu sichern, drückte er den oberen Knopf der Fernsteuerung, zündete die C4-Ladungen und ließ den Eingang einstürzen. Die Druckwelle erschütterte die Straße und ließ die schweren Fahrzeuge auf ihren überdimensionierten Stoßdämpfern schwanken. Die von der Detonation erfassten Rebellen wurden zerrissen oder von herabstürzenden Trümmern erschlagen, aber er wusste, dass zumindest einige der am weitesten in das Gebäude eingedrungenen Rebellen überlebt haben könnten — eine Möglichkeit, die er bei der Planung berücksichtigt hatte.

Während die erste Detonation noch in seinen Ohren nachhallte und bevor der Staub sich gesetzt hatte, sah der Attentäter auf die Fernsteuerung in seiner Hand hinunter und drückte den zweiten Knopf. Mit ohrenbetäubendem Knall flog die mit Schlaglöchern übersäte Makadamstraße vor und hinter dem Konvoi in die Luft.

Während die Männer unter ihm sich noch abmühten, das von ihm angerichtete Blutbad zu begreifen, nahm der Attentäter mit methodischer, nicht überhasteter Präzision die Präzisionsbüchse zur Hand. Das Gewehr war mit nicht zerlegenden Vollmantelgeschossen geladen, mit den leichtesten und schnellsten Geschossen, die es für diese Waffe gab. Das IR-Zielfernrohr zeigte ihm drei Rebellen, die die Detonationen mit nur leichten Verletzungen überlebt hatten. Sie rannten zum mittleren Fahrzeug und kreischten ihre Kameraden an, sie sollten schleunigst aussteigen, bevor es ebenfalls hochgehe. Er beobachtete, wie sie die rechte Tür aufrissen, damit Hassan Arsenow und ein Leibwächter aussteigen konnten. Damit befanden sich drinnen noch der Fahrer und drei Leibwächter mit Chalid Murat. Als Arsenow sich abwandte, zielte der Attentäter auf seinen Kopf. Durchs Zielfernrohr sah er den starr befehlenden Ausdruck auf Arsenows Gesicht. Dann bewegte er mit glatter, geübter Bewegung die Mündung seiner Waffe und zielte nun auf den Oberschenkel des Tschetschenen. Als der Scharfschütze abdrückte, griff Arsenow sich ans linke Bein und brach mit einem Aufschrei zusammen. Einer der Rebellen lief zu ihm hinüber und schleifte ihn in Deckung. Die beiden anderen Männer stellten rasch fest, woher der Schuss gekommen war, hetzten über die Straße und stürmten in das Gebäude, auf dessen Dach der Scharfschütze kauerte.

Als drei weitere Rebellen aus einem Seitenausgang des Krankenhauses gestürmt kamen, ließ der Scharfschütze das TRG-41 fallen. Er beobachtete jetzt, wie der Fahrer des Schützenpanzers mit Chalid Murat krachend den Rückwärtsgang einlegte. Hinter und unter sich konnte er hören, wie Stiefel die Treppe zu seinem Versteck hinaufpolterten. Weiterhin gelassen brachte er Spikes aus Titan und Korund an seinen Stiefeln an. Dann hob er eine Armbrust aus Verbundmaterial, schoss den Bolzen mit einem Seil in einen Lichtmast genau hinter dem mittleren Schützenpanzer und band das Seil an der Brüstung fest, damit es straff war. Aufgeregte Stimmen drangen an sein Ohr. Die Rebellen hatten das Stockwerk unter ihm erreicht.

Der BTR-60 BP war jetzt von vorn sichtbar, während sein Fahrer versuchte, mitten zwischen den von der Detonation aufgeworfenen riesigen Brocken aus Beton, Granit und Makadamplatten zu wenden. Der Scharfschütze konnte die beiden Scheiben, die gemeinsam die Windschutzscheibe ergaben, sanft glänzen sehen. Das war ein Problem, das die Russen noch nicht gelöst hatten: Das schussfeste Panzerglas war so schwer, dass die Windschutzscheibe zweigeteilt sein musste. Die verwundbare Stelle des Schützenpanzers war der Metallrahmen zwischen den beiden Scheiben.

Er hakte den Karabiner seines Gurtzeugs in das straff gespannte Seil ein. Gut dreißig Meter hinter sich hörte er die Rebellen auf das Flachdach stürmen. Als sie den Scharfschützen entdeckten, warfen sie sich herum, um im Laufen auf ihn zu schießen, wobei sie unbemerkt gegen einen dünnen Draht rannten. Im nächsten Augenblick verschwanden sie in der Detonation der letzten C4-

Ladung, die der Attentäter am Vorabend angebracht hatte.

Ohne sich umzudrehen, um das Blutbad hinter sich zu begutachten, prüfte der Mann das Seil und schwang sich über die Dachbrüstung. Als er das Seil hinunterglitt, hob er so die Beine, dass die Spikes auf das Mittelstück zwischen den beiden Panzerglasscheiben zielten. Traf er es nicht ganz genau, würde es halten — und er hatte gute Chancen, sich ein Bein zu brechen.

Die Wucht des Aufpralls zuckte durch seine Beine bis ins Rückgrat nach oben, während die Titan- und Korundspikes das Mittelstück wie eine Konservenbüchse eindrückten, sodass die Scheiben nach innen fielen. Mit großen Teilen der Windschutzscheibe krachte er durch die Fensteröffnung ins Fahrzeuginnere. Ein Brocken traf den Fahrer am Hals und trennte ihm fast den Kopf vom Rumpf. Der Attentäter warf sich nach links. Der Leibwächter auf dem Beifahrersitz war mit dem Blut des Fahrers bedeckt. Er griff nach seiner Pistole, doch der Attentäter packte mit starken Händen seinen Kopf und brach ihm das Genick, bevor er einen Schuss abgeben konnte.

Die beiden anderen Leibwächter auf den Notsitzen direkt hinter dem Fahrer schossen wild auf den Attentäter, der ihren Kameraden vor sich hielt und dessen Körper als Kugelfang nutzte. Aus dieser improvisierten Deckung heraus benützte er die Pistole des Toten, um beide Leibwächter mit je einem Schuss in die Stirn zu erledigen.

Damit war nur noch Chalid Murat übrig. Das Gesicht des Tschetschenenführers war eine von Hass verzerrte Maske. Er hatte die Tür aufgestoßen und rief laut nach seinen Männern. Der Attentäter sprang ihn an und schüttelte den großen Mann wie ein Terrier eine Bisamratte;

Murats Kiefer schnappten zu und hätten ihn fast ein Ohr gekostet. Ruhig, methodisch, fast genüsslich legte er Murat die Hände um den Hals, starrte ihm ins Gesicht und drückte beide Daumen in den Ringknorpel des Kehlkopfs des Tschetschenen. Murats Hals füllte sich augenblicklich mit Blut, was ihm alle Kraft raubte und ihn langsam erstickte. Er schlug wild um sich; seine Hände trafen Gesicht und Kopf des Attentäters. Aber das nützte nichts mehr. Murat ertrank im eigenen Blut. Seine Lunge füllte sich, und seine Atmung wurde unregelmäßig, röchelnd. Er spuckte Blut, dann verdrehte er die Augen nach oben.

Der Attentäter ließ den schlaffen Körper sinken, kletterte wieder auf den Vordersitz und stieß die Leiche des Fahrers aus der Tür. Bevor die letzten überlebenden Rebellen reagieren konnten, legte er den ersten Gang ein und gab Vollgas. Der BTR-60 BP schoss vorwärts wie ein Rennpferd aus der Startmaschine, überwand die Hindernisse aus Beton und Makadam und schien sich dann in Luft aufzulösen, als er in dem Krater verschwand, den eine der Sprengladungen in die Straße gerissen hatte.

Unter der Erde schaltete der Attentäter hoch und raste durch die enge Röhre eines Abwasserkanals davon, den die Russen verbreitert hatten, um ihn für Überfälle auf Stellungen der Rebellen benützen zu können. Funken flogen, als die Stahlkotflügel immer wieder die halbkreisförmig betonierten Tunnelwände streiften. Trotzdem war er jetzt in Sicherheit. Sein Einsatz hatte geendet, wie er begonnen hatte: mit der perfekten Präzision eines Uhrwerks.

Nach Mitternacht verzogen die giftigen Wolken sich allmählich und gaben endlich den Blick auf den Mond frei.

Die mit Schadstoffen belastete Atmosphäre ließ ihn rötlich leuchten, und sein sanftes Licht wurde hier und da von den noch immer brennenden Feuern überstrahlt.

Zwei Männer standen mitten auf einer stählernen Bogenbrücke. Unter ihnen spiegelten sich die verkohlten Trümmer, die ein endloser Krieg zurückgelassen hatte, in träge fließendem Wasser.

«Auftrag ausgeführt«, sagte der erste Mann.»Chalid Murat ist auf eine Weise ermordet worden, die größtes Aufsehen erregen muss.«

«Ich hatte nicht weniger erwartet, Chan«, antwortete der zweite Mann.»Sie verdanken Ihren glänzenden Ruf nicht zuletzt den Aufträgen, die Sie von mir erhalten haben. «Er war eine Handbreit größer als der Attentäter, breitschultrig, langbeinig. Beeinträchtigt wurde seine Erscheinung nur durch die bis zum Hals hinunter seltsam glasige, völlig unbehaarte Haut der linken Gesichthälfte. Er besaß das Charisma eines geborenen Führers. eines Mannes, mit dem nicht zu spaßen war. Man merkte ihm an, dass er in Machtzentren zu Hause war — in öffentlichen Foren ebenso wie in den dunklen Gassen von Verbrechervierteln.

Chan genoss noch immer den Blick, mit dem Murat gestorben war. Dieser Blick war bei jedem anders. Aus Erfahrung wusste Chan, dass es keine Gemeinsamkeit gab, denn das Leben jedes Mannes war einzigartig, und obwohl alle sündigten, war die von diesen Sünden bewirkte Korrosion bei jedem anders — wie die Struktur einer Schneeflocke, die sich niemals wiederholte. Was war es bei Murat gewesen? Nicht Angst. Erstaunen, ja, Zorn, gewiss, aber auch eine tiefere Empfindung: Trauer über ein nun unvollendet bleibendes Lebenswerk. Die Analyse des letzten Blicks war immer unvollständig, das wusste Chan. Beispielsweise hätte er gern erfahren, ob auch ein Element des Verrats mitgespielt hatte. Hatte Murat gewusst, wer seine Ermordung befohlen hatte?

Er sah wieder zu Stepan Spalko auf, der ihm einen dicken Umschlag mit Geld hinhielt.

«Ihr Honorar«, sagte Spalko.»Und ein Bonus.«

«Bonus?«Als von Geld die Rede war, konzentrierte Chan sich sofort auf die Gegenwart.»Von einem Bonus haben wir nie gesprochen.«

Spalko zuckte mit den Schultern. Das rötliche Mondlicht ließ Wange und Halsseite wie eine blutige Masse leuchten.»Chalid Murat war Ihr fünfundzwanzigster Auftrag für mich. Nennen wir’s meinetwegen eine Jubiläumsprämie.«

«Sehr großzügig von Ihnen, Mr. Spalko. «Chan steckte den Umschlag ein, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Alles andere wäre höchst ungehörig gewesen.

«Ich habe Sie gebeten, mich Stepan zu nennen. Schließlich sage ich Chan zu Ihnen.«

«Das ist etwas anderes.«

«Warum?«

Chan stand unbeweglich da, nahm die Stille in sich auf. Sie sammelte sich in ihm, ließ ihn größer und breitschultriger wirken.

«Ich brauche mich Ihnen gegenüber nicht zu rechtfertigen, Mr. Spalko.«

«Ach, kommen Sie«, sagte Spalko mit einer beschwichtigenden Geste.»Wir sind doch keine Fremden. Wir teilen die ungeheuerlichsten Geheimnisse.«

Die Stille nahm zu. Irgendwo in den Außenbezirken von Grosny erhellte eine Detonation den Nachthimmel, und Feuerstöße aus Maschinenpistolen knatterten in der Ferne wie Explosionen von Kinderknallkörpern.

Endlich sprach Chan.»Im Dschungel habe ich zwei lebenswichtige Lektionen gelernt. Die erste war, dass man nur sich selbst rückhaltlos trauen kann. Und die zweite war, dass es wichtig ist, penibel auf zivilisierte Umgangsformen zu achten, denn allein die Tatsache, dass man seinen Platz in der Welt kennt, steht zwischen einem selbst und der Anarchie des Dschungels.«

Spalko betrachtete ihn lange nachdenklich. Das Flackerlicht der Schießerei stand in Chans Augen, verlieh ihnen einen wilden Ausdruck. Spalko stellte ihn sich im Dschungel vor: das Opfer von Entbehrungen, die Beute von Gier und zügelloser, blutiger Grausamkeit. Der Dschungel Südostasiens war eine Welt für sich. Ein barbarisches, verpestetes Gebiet mit eigenen, seltsamen Gesetzen. Dass Chan dort nicht nur überlebt hatte, sondern gediehen war, stellte — zumindest für Spalko — den größten Teil des Mysteriums dar, das ihn umgab.

«Ich würde gern glauben, wir wären mehr als Geschäftsmann und Auftraggeber.«

Chan schüttelte den Kopf.»Der Tod hat einen besonderen Geruch. Ich rieche diesen Geruch an Ihnen.«

«Und ich an Ihnen.«Über Spalkos Gesicht zog ein langsames Lächeln.»Sie stimmen mir also zu, dass uns etwas Besonderes verbindet.«

«Wir sind Männer mit Geheimnissen«, sagte Chan,»nicht wahr?«

«Wir beten den Tod an — wir verstehen beide seine Macht. «Spalko nickte zustimmend.»Ich habe mitgebracht, worum Sie mich gebeten haben. «Er hielt ihm einen schwarzen Schnellhefter hin.

Chan sah kurz in Spalkos Augen. Sein scharfes Ohr hatte einen gewissen gönnerhaften Ton wahrgenommen, den er unverzeihlich fand. Wie er schon vor langer Zeit gelernt hatte, lächelte er über diese Kränkung und verbarg seine Empörung hinter der undurchdringlichen Maske seines Gesichts. Eine weitere Lektion, die er im Dschungel gelernt hatte: Impulsiv und heißblütig zu handeln führte oft zu Fehlern, die sich nicht mehr gutmachen ließen; geduldig abzuwarten, bis das heiße Blut abgekühlt war, war die Grundlage für jede erfolgreiche Rache. Er griff nach dem Schnellhefter und beschäftigte sich damit, das Dossier aufzuschlagen. Es enthielt ein einziges Blatt Luftpostpapier mit drei eng getippten Absätzen und dem Passfoto eines gut aussehenden Mannes. Unter dem Foto stand ein Name: David Webb.»Das ist alles?«

«Aus vielen Quellen zusammengetragen. Alle über ihn bekannten Informationen. «Er sprach so flüssig, dass Chan sich sicher war, dass er die Antwort eingeübt hatte.

«Aber dies ist der Mann?«

Spalko nickte.

«Ohne jeden Zweifel?«

«Todsicher.«

Nach dem sich ausbreitenden Feuerschein zu urteilen, war die Schießerei zu einem Nachtgefecht geworden. Granatwerfer waren zu hören, ein Feuerregen ging nieder. Über ihnen schien der Mond in einem dunkleren Rot zu glühen.

Chan kniff die Augen zusammen und ballte die rechte Hand langsam zu einer hasserfüllten Faust.»Ich konnte nie eine Spur von ihm finden. Ich dachte, er sei tot.«

«In gewisser Weise«, sagte Spalko,»ist er das.«

Er beobachtete, wie Chan über die Brücke davonging. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte den Rauch und atmete ihn widerstrebend aus. Als Chan in den Schatten verschwunden war, zog Spalko sein Handy aus der Jackentasche und tippte eine Auslandsnummer ein. Eine Stimme meldete sich, und Spalko sagte:»Er hat das Dossier. Ist alles vorbereitet?«

«Ja, Sir.«

«Gut. Um Mitternacht Ihrer Zeit beginnen Sie mit dem Einsatz.«

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