Kapitel zweiundzwanzig

Annaka rammte ihren abgewinkelten Ellbogen gegen den Arm mit dem Revolver. Sie hatte den rechten Augenblick und McColls erste Bewegung abgewartet. Das Geschoss schlug weit über Bournes Kopf an der Stelle in die Wand ein, wo sie an die Decke stieß.

Der Amerikaner brüllte vor Wut und grapschte mit der linken Hand nach ihr, während er die Rechte schon wieder senkte, um auf den halb Liegenden zu zielen. Seine Finger gruben sich in Annakas Haar, packten fest zu, rissen sie nach hinten von den Beinen. Im selben Augenblick kam Bournes Hand mit der Keramikpistole unter der Steppdecke hervor. Er wollte dem Angreifer in die Brust schießen, aber Annaka stand zwischen ihnen. Also veränderte er den Zielpunkt und traf den rechten Oberarm des Eindringlings. Der Revolver fiel auf den Teppich, aus der Wunde spritzte Blut, und Annaka kreischte, als McColl sie als Schutzschild vor sich zog.

Bourne hatte sich auf einem Knie aufgerichtet. Die Mündung seiner Pistole suchte vergeblich ein Ziel, während der Amerikaner, der Annaka an sich gepresst hielt, sich zur offenen Wohnungstür zurückzog.

«Wir sind noch längst nicht fertig miteinander«, knurrte McColl, ohne ihn aus den Augen zu lassen.»Ich soll Sie liquidieren, und genau das werde ich tun. «Nach dieser drohenden Ankündigung hob er Annaka hoch und schleuderte sie Bourne entgegen.

Bourne war aufgesprungen und fing Annaka auf, bevor sie seitlich gegen das Sofa prallen konnte. Er schob sie beiseite, dann spurtete er auf den Korridor hinaus und sah gerade noch, wie die Aufzugtür sich schloss. Er lief leicht hinkend die Treppe hinunter. Seine Seite brannte wie Feuer, und er hatte weiche Knie. Er begann keuchend zu atmen und wäre am liebsten einen Augenblick stehen geblieben, um wieder genug Sauerstoff in die Lungen zu bekommen, aber er rannte weiter, nahm immer zwei bis drei Stufen auf einmal. Nach dem untersten Treppenabsatz rutschte sein linker Fuß auf einer Stufe aus, sodass er den Rest der Treppe halb rutschend, halb fallend zurücklegte.

Unten rappelte Bourne sich ächzend auf, rannte durch die zweiflüglige Tür zur Eingangshalle. Auf dem Marmorboden waren Blutspuren zu sehen, aber der Attentäter war verschwunden. Er machte noch einen Schritt in die Eingangshalle, dann gaben seine Beine nach. Er saß halb benommen da, hielt in einer Hand seine Waffe und hatte die andere mit der Handfläche nach oben auf seinem Schenkel liegen. Seine Augen waren vor Schmerzen glasig, und er schien vergessen zu haben, wie man atmete.

Du darfst den Hundesohn nicht entwischen lassen, dachte er. Aber sein Kopf war von lautem Lärm erfüllt, den er endlich als das Hämmern seines überanstrengten Herzens erkannte. Zumindest vorläufig war er zu keiner Bewegung imstande. Bevor Annaka ihn erreichte, hatte er gerade noch Zeit, sich zu überlegen, dass sein vorgetäuschter Tod die Agency nicht lange in die Irre geführt hatte.

Annaka wurde vor Sorge blass, als sie ihn sah.»Jason!«Sie kniete bei ihm nieder und legte ihm einen Arm um die Schultern.

«Hilf mir aufstehen«, sagte er.

Sie zog ihn über ihre ausgestellte Hüfte hoch.»Wo ist er? Wohin ist er abgehauen?«

Das hätte er eigentlich wissen müssen. Jesus, dachte er, vielleicht hat sie Recht, vielleicht brauchst du wirklich einen Arzt.

Vielleicht war’s der giftige Hass in seinem Herzen, der Chan so rasch aus der Bewusstlosigkeit erwachen ließ. Jedenfalls war er schon Minuten nach dem Angriff wieder auf den Beinen und aus dem Skoda heraus. Gewiss, sein Kopf tat weh, aber in Wirklichkeit hatte der Angriff vor allem sein Ego getroffen. Als er die ganze Szene in Gedanken rekapitulierte, erkannte er mit einer Gewissheit, die ihm ein flaues Gefühl im Magen bescherte, dass nur seine törichten und gefährlichen Empfindungen für Annaka ihn heute so verwundbar gemacht hatten.

Welchen Beweis brauchte er noch, um einzusehen, dass emotionale Bindungen um jeden Preis vermieden werden mussten? Sie waren ihn bei seinen Eltern teuer zu stehen gekommen, dann wieder bei Richard Wick und zuletzt bei Annaka, die ihn an Stepan Spalko verraten hatte — und das von Anfang an.

Und was war mit Spalko? »Wir sind doch keine Fremden. Wir teilen die ungeheuerlichsten Geheimnisse«, hatte er in jener Nacht in Grosny gesagt. »Ich würde gern glauben, wir wären mehr als Geschäftsmann und Auftraggeber.«

Wie Richard Wick hatte er angeboten, Chan bei sich aufzunehmen, hatte behauptet, er wolle sein Freund sein, ihn zum Bestandteil einer versteckten — und irgendwie intimen — Welt zu machen. »Sie verdanken Ihren glänzenden Ruf nicht zuletzt den Aufträgen, die Sie von mir erhalten haben.« Als betrachte Spalko sich wie einst Richard Wick als Chans Wohltäter. Diese Leute bildeten sich ein, auf einer höheren Ebene zu leben, einer Elite anzugehören. Wie schon Wick hatte Spalko Chan belogen, um ihn für seine eigenen Zwecke zu benutzen.

Was hatte Spalko von ihm gewollt? Das spielte fast keine Rolle mehr; für ihn war es nicht mehr wichtig. Chan wollte nur noch mit Stepan Spalko abrechnen, alles vergangene Unrecht in Recht verwandeln. Nichts Geringeres als Spalkos Tod konnte ihn jetzt noch besänftigen. Spalko würde der erste und letzte Auftrag sein, den er sich selbst erteilte.

In diesem Augenblick, als er im Schatten eines Hauseingangs hockte und sich unbewusst den Hinterkopf rieb, an dem er bereits eine große Beule hatte, hörte er ihre Stimme. Sie stieg aus der Tiefe, aus den Schatten auf, in denen er hockte, sank durch die Tiefen herab, zog ihn unter die sich kräuselnden Wellen.

«Li-Li«, flüsterte er.»Li-Li!«

Es war ihre Stimme, die nach ihm rief. Und er wusste, was sie wollte: Sie wollte, dass er sich als Ertrunkener in den Tiefen zu ihr gesellte. Er ließ den schmerzenden Kopf in die Hände sinken, und ein grässliches Stöhnen entrang sich seinen Lippen, als stieße seine Lunge die letzte Luftblase aus. Li-Li. Er hatte so lange nicht mehr an sie gedacht — oder stimmte das etwa nicht? Er hatte fast jede Nacht von ihr geträumt, aber diese Tatsache erst jetzt erkannt. Weshalb? Was hatte sich so verändert, dass sie nach so langer Abwesenheit mit solcher Gewalt auf ihn eindringen konnte?

Dann hörte Chan, wie eine Haustür zugeknallt wurde, hob gerade noch rechtzeitig den Kopf und sah einen großen Mann aus dem Gebäude 106–108 Fo utca stürmen. Er hielt sich mit der linken Hand den rechten Oberarm, und aus der Blutspur, die er hinter sich herzog, schloss Chan, dass er einen Zusammenstoß mit Jason Bourne gehabt hatte. Ein schwaches Lächeln glitt über sein Gesicht, denn er wusste, dass dies der Mann sein musste, der ihn niedergeschlagen hatte.

Chan fühlte den starken Drang, ihn umzulegen, aber er beherrschte sich mit ziemlicher Anstrengung und kam auf eine bessere Idee. Er verließ sein Versteck und folgte dem Mann, als er die Fo utca entlang flüchtete.

Die Dohany-Synagoge war die größte Synagoge Europas. Nach Westen hin wies der riesige Bau eine kunstvolle byzantinische Ziegelfassade in den Farben Blau, Rot und Gelb auf — den Farben der Stadt Budapest. Über dem Portal befand sich ein großes buntes Glasfenster. Über diesem imponierenden Anblick erhoben sich zwei maurische vieleckige Türme, die von imposanten Kuppeln aus Kupfer und Gold gekrönt wurden.

«Ich gehe rein und hole ihn«, sagte Annaka, als sie aus ihrem Skoda stiegen. Istvans Telefondienst hatte versucht, sie zu einem anderen Arzt zu dirigieren, aber sie hatte darauf bestanden, Dr. Ambrus zu sprechen, der ein alter Freund ihrer Familie sei, und war schließlich hierher geschickt worden.»Je weniger Leute dich in diesem Zustand sehen, desto besser.«

Bourne nickte zustimmend.»Hör zu, Annaka, ich weiß bald nicht mehr, wie oft du mir schon das Leben gerettet hast.«

Sie sah zu ihm auf und lächelte.»Dann hör einfach zu zählen auf.«

«Der Mann, der dich überfallen hat…«

«Kevin McColl.«

«Er ist ein Spezialist der Agency. «Bourne brauchte nicht erst auszuführen, worauf McColl spezialisiert war. Auch das gefiel ihm an ihr.»Du hast dich gut gegen ihn gehalten.«

«Bis er mich als Schutzschild benützt hat«, sagte sie erbittert.»Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass er…«

«Wir haben überlebt. Nur das zählt.«

«Aber er ist weiter auf freiem Fuß, und die von ihm ausgehende Gefahr.«

«Wenn er das nächste Mal kommt, bin ich bereit.«

Das schwache Lächeln kehrte auf Annakas Gesicht zurück. Sie schickte ihn auf den Hof hinter der Synagoge, auf dem er — wie sie ihm versicherte — auf ihre Rückkehr warten konnte, ohne befürchten zu müssen, von jemandem angesprochen zu werden.

Istvan Ambrus, Janos Vadas’ alter Bekannter, betete in der Synagoge, aber er reagierte durchaus freundlich, als Annaka hineinging und ihm flüsternd von dem Notfall erzählte.

«Natürlich helfe ich Ihnen gern, soweit ich kann, Annaka«, sagte er, als aufstand und mit ihr durch den mit prächtigen Kronleuchtern geschmückten Innenraum ging. Hinter ihnen ragte die gewaltige Orgel mit fünftausend Pfeifen auf — ein für jüdische Gotteshäuser höchst ungewöhnliches Instrument, auf dem schon so berühmte Komponisten wie Franz Liszt und Camille Saint-Saens gespielt hatten.

«Der Tod Ihres Vaters hat uns alle schwer getroffen. «Ambrus nahm ihre Hand, drückte sie kurz. Er hatte die breiten, kräftigen Finger eines Chirurgen… oder eines Maurers.»Wie kommen Sie damit zurecht, meine Liebe?«

«Einigermaßen«, sagte sie leise und ging ins Freie voraus.

Bourne saß auf dem Hof, unter dessen Erde die sterblichen Überreste von fünftausend Juden lagen, die in dem strengen Winter 1944–1945 umgekommen waren, als Adolf Eichmann die Synagoge in einen Sammelplatz verwandelt hatte, von dem aus er die zehnfache Anzahl in Vernichtungslager geschickt hatte. Der Hof zwischen den Bogengängen der inneren Loggia war mit hellen Gedenksteinen angefüllt, zwischen denen dunkelgrüner Efeu rankte. Auch die Stämme der hier gepflanzten Bäume waren von Efeu umrankt. Ein kalter Wind ließ das Laub rascheln: ein Geräusch, das man an diesem Ort für fernes Stimmengemurmel hätte halten können.

Es war schwierig, hier zu sitzen und nicht an die Toten und das schreckliche Leid in jener dunklen Zeit zu denken. Bourne fragte sich, ob jetzt wieder eine dunkle Zeit heraufzog. Er blickte aus seinen trübseligen Gedanken auf und sah Annaka in Begleitung eines eleganten kleinen Mannes mit rundem Gesicht, schmalem Schnurrbart und rosigen Wangen zurückkommen. Er trug einen braunen Dreiteiler, und die Schuhe an seinen kleinen Füßen waren auf Hochglanz poliert.

«Sie sind also der Unglücksrabe«, sagte er, nachdem Annaka sie bekannt gemacht und ihm versichert hatte, Bourne spreche Ungarisch.»Nein, nein, nicht aufstehen«, wehrte er ab, als er sich neben ihn setzte und mit der Untersuchung begann.»Hmmm, Annaka hat die Schwere Ihrer Verletzungen untertrieben, fürchte ich. Sie sehen aus wie durch einen Fleischwolf gedreht.«

«Genauso fühle ich mich auch, Doktor. «Er zuckte unwillkürlich zusammen, als Ambras’ Finger eine besonders schmerzhafte Stelle abtasteten.

«Als ich auf den Hof gekommen bin, habe ich Sie tief in Gedanken gesehen«, sagte der Arzt im Plauderton.»In gewisser Weise ist dies ein Schreckensort, dieser Hof, der uns an die erinnert, die wir verloren haben — und daran, was die gesamte Menschheit durch den Holocaust verloren hat. «Seine Finger waren überraschend zart und beweglich, als sie über Bournes empfindliche Körperhälfte glitten.»Aber die damalige Zeit war nicht nur schlimm, wissen Sie. Kurz bevor Eichmann und sein Stab einmarschierten, halfen mehrere Geistliche dem Rabbi, siebenundzwanzig Thorarollen aus dem Thoraschrein der Synagoge zu bergen. Sie nahmen sie mit, diese Priester, und vergruben sie auf einem christlichen Friedhof, wo sie bis Kriegsende vor den Nazis sicher waren. «Er lächelte schwach.»Was lernen wir daraus? Selbst ins tiefste Dunkel kann ein Lichtstrahl fallen. Auch von unerwarteter Seite kann uns Mitleid entgegengebracht werden. Und Sie haben zwei gebrochene Rippen.«

Er stand auf.»Kommen Sie, wir fahren zu mir nach Hause, damit ich Sie richtig verbinden kann. In ungefähr einer Woche lassen die Schmerzen nach, und dann sind Sie bald wieder gesund. «Er hob mahnend einen dicken Zeigefinger.»Aber bis dahin müssen Sie mir versprechen, sich zu schonen. Keine großen körperlichen Anstrengungen. Am besten überhaupt keine Anstrengungen.«

«Das kann ich Ihnen nicht versprechen, Doktor.«

Dr. Ambrus seufzte, während er rasch zu Annaka hinübersah.»Wieso überrascht mich das eigentlich nicht?«

Bourne stand ebenfalls auf.»Tut mir Leid, aber ich rechne damit, alles tun zu müssen, was Sie mir gerade verboten haben. Deshalb möchte ich Sie bitten, alles zu tun, was die beschädigten Rippen schützen kann.«

«Wie wär’s mit einer Ritterrüstung?«Ambrus schmunzelte über seinen eigenen Scherz, wurde aber sofort wieder ernst, als er Bournes Gesichtsausdruck sah.»Großer Gott, Mann, mit wem müssen Sie’s aufnehmen?«

«Wenn ich das wüsste«, sagte Bourne trübselig,»wäre uns allen geholfen.«

Obwohl Dr. Ambrus sichtlich betroffen war, hielt er Wort und nahm sie in sein Haus in Buda hoch über der Donau mit, in dem er ein kleines Sprechzimmer hatte, wo andere vielleicht ein Arbeitszimmer gehabt hätten. Vor dem Fenster rankten Kletterrosen, aber die Geranienkästen waren noch leer und warteten auf wärmeres Wetter. Drinnen gab es cremeweiße Wände, weißen Stuck an der Decke und auf den Schränken gerahmte Fotos von Ambrus’ Frau mit seinen beiden Söhnen.

Während Bourne auf dem Untersuchungstisch saß, suchte Dr. Ambrus leise vor sich hinsummend aus den Schränken zusammen, was er brauchte. Als er zu seinem Patienten zurückkam, der den Oberkörper hatte freimachen müssen, schaltete er eine verspiegelte starke Lampe ein, die er auf das Schlachtfeld richtete. Dann machte er sich daran, Bourne einen straffen Dachziegelverband anzulegen, der aus drei Lagen bestand: aus Watte, Verbandmull und einem gummiartigen Material, das Kevlar enthielt, wie er sagte.

«Mehr hätte niemand für Sie tun können«, behauptete er, als er fertig war.

«Ich kriege kaum Luft«, keuchte Bourne.

«Gut, dann haben Sie weniger Schmerzen. «Er klapperte mit Pillen in einem braunen Plastikfläschchen.»Ich würde Ihnen ein Schmerzmittel geben, aber bei einem Mann wie Ihnen. nein, das lassen wir lieber. Das Zeug würde Ihre Sinne abstumpfen, Ihre Reflexe wären langsamer, und ich würde Sie vielleicht auf einer Steinplatte liegend Wiedersehen.«

Bourne lächelte über Ambrus’ missglückten Scherz.»Ich werde mein Bestes tun, um Ihnen diesen Anblick zu ersparen. «Er wollte seine Geldbörse ziehen.»Was bin ich schuldig?«

Dr. Ambrus hob abwehrend die Hände.»Bitte!«

«Wie können wir Ihnen sonst danken, Istvan?«, fragte Annaka.

«Sie wiederzusehen, meine Liebe, ist Lohn genug. «Dr. Ambrus nahm ihr Gesicht in die Hände, küsste sie erst auf eine Wange, dann auf die andere.»Versprechen Sie mir, bald einmal zum Abendessen zu uns zu kommen. Bela hat erst neulich nach Ihnen gefragt. Kommen Sie, meine Liebe, kommen Sie bald! Sie kocht Ihnen das Gulyas, das Sie als Kind so gern gegessen haben.«

«Ich versprech’s Ihnen, Istvan. Bald.«

Dr. Ambrus, der mit diesem versprochenen Lohn zufrieden war, ließ sie gehen.

Загрузка...