Kapitel einunddreißig

Martin Lindros telefonierte gut zwanzig Minuten mit Ethan Hearn. Der Anrufer besaß viele Informationen über den berühmten Stepan Spalko, die alle so erstaunliche Enthüllungen darstellten, dass Lindros einige Zeit brauchte, um sie aufzunehmen und zu verarbeiten. Letztlich war für ihn nichts interessanter als ein Beleg, der bewies, dass eine von Spalkos vielen Tarnfirmen den Preis für die illegal verkaufte Pistole überwiesen hatte, mit der Bourne zwei Morde in die Schuhe geschoben werden sollten.

Eine halbe Stunde später hatte er zwei Ausdrucke der Unterlagen, die Hearn ihm gemailt hatte, vor sich liegen. Er ließ seinen Wagen kommen, um sich ins Stadthaus des CIA-Direktors fahren zu lassen. Den Alten hatte über Nacht eine schwere Grippe erwischt. Sie muss echt schlimm sein, dachte Lindros jetzt, wenn er sein Büro während der Krise beim Gipfel überhaupt verlassen hat.

Sein Fahrer hielt mit dem Dienstwagen neben dem hohen Eisentor, beugte sich aus dem Fenster und drückte den Rufknopf der Sprechanlage. Als lange Schweigen herrschte, begann Lindros sich zu fragen, ob der Alte vielleicht wieder ins Büro gefahren war, ohne einem Menschen zu sagen, dass er wieder auf dem Damm war.

Endlich drang die grätige Stimme aus dem Lautsprecher, der Fahrer kündigte Lindros an, und im nächsten Augenblick schwangen die Torflügel lautlos auf. Der Fahrer hielt vor dem Eingang, und Lindros stieg aus. Er benützte den Türklopfer aus Messing, und als die Tür aufging, stand der Direktor mit runzligem Gesicht und zerzaustem Haar vor ihm, als habe sein Kopf auf einem Kissen gelegen. Er trug einen gestreiften Schlafanzug, über den er einen dicken Bademantel gezogen hatte. An den knochigen Füßen hatte er Filzpantoffeln.

«Herein mit Ihnen, Martin. Kommen Sie rein. «Er machte kehrt und ließ die Tür offen, ohne abzuwarten, bis Lindros über die Schwelle getreten war. Lindros folgte ihm und schloss die Tür hinter sich. Der Alte war in seinem Arbeitszimmer verschwunden, das links voraus lag. Dort brannte kein Licht; im ganzen Haus schien nirgends Licht zu brennen.

Lindros betrat das Arbeitszimmer, einen maskulinen Raum mit jägergrünen Wänden, einer cremeweißen Decke und übergroßen Ledersesseln mit dem dazu passenden Sofa. Der in eine Bücherwand eingelassene Fernseher war ausgeschaltet. Bei seinen früheren Besuchen war er stets — mit oder ohne Ton — auf CNN eingestellt gelaufen.

Der Alte ließ sich schwer in seinen Lieblingssessel fallen. Auf dem Tischchen neben ihm standen eine große Box Papiertaschentücher und Fläschchen mit Aspirin, Tylenol gegen Erkältung und Nebenhöhlenentzündung, NyQuil, Vick VapoRub, Coricidin, DayQuil und Hustensaft Robitussin DM.

«Was haben Sie da, Sir?«, fragte Lindros und zeigte auf die kleine Apotheke.

«Ich wusste nicht, was mir helfen würde«, sagte der Direktor,»also habe ich alles Einschlägige aus der Hausapotheke geholt.«

Dann entdeckte Lindros jedoch die Flasche Bourbon und das Old-Fashioned-Glas und runzelte die Stirn.

«Was geht hier vor, Sir?«Er verrenkte sich den Hals, um aus der offenen Tür des Arbeitszimmers sehen zu können.»Wo ist Madeleine?«

«Ah, Madeleine. «Der Alte griff nach seinem Whiskeyglas und nahm einen Schluck.»Madeleine ist zu ihrer Schwester in Phoenix geflogen.«

«Und hat Sie allein gelassen?«Als Lindros eine Hand ausstreckte und die Stehlampe einschaltete, blinzelte der Direktor ihn eulenhaft an.»Wann kommt sie zurück, Sir?«

«Hmmm. «Der Direktor schien über die Frage seines Stellvertreters nachzudenken.»Nun, das Problem ist, Martin, dass ich nicht weiß, wann sie zurückkommt.«

«Sir?«, fragte Lindros zunehmend besorgt.

«Sie hat mich verlassen. Zumindest glaube ich das. «Der Blick des Alten war starr, als er sein Glas leerte. Er schob die feucht glänzende Unterlippe vor, als sei er perplex.»Woher weiß man so was schon?«

«Haben Sie sich denn nicht ausgesprochen?«

«Ausgesprochen?«Als er kurz zu Lindros aufsah, war sein Blick nicht mehr verschwommen.»Nein. Gesprochen haben wir nicht darüber.«

«Woher wissen Sie’s dann?«

«Sie glauben, dass ich mir das nur einbilde, ein Sturm im Wasserglas, nicht wahr?«Sein Blick wurde für kurze Zeit lebendig, und seine Stimme klang vor mühsam unterdrückten Emotionen gepresst.»Aber sie hat ein paar Dinge mitgenommen, wissen Sie — persönliche Dinge, an denen ihr Herz hängt. Ohne diese Dinge ist das Haus verdammt leer.«

Lindros setzte sich ihm gegenüber.»Sir, das tut mir sehr Leid, und wenn ich irgendwas tun kann, um…«

«Vielleicht hat sie mich nie geliebt, Martin. «Der Alte griff nach der Bourbonflasche.»Aber wer versteht schon diese Mysterien?«

Lindros beugte sich nach vorn und nahm seinem Boss sanft die Flasche ab. Der Direktor schien sich nicht darüber zu wundern.»Ich kann versuchen, in dieser Sache zu vermitteln, Sir, wenn Sie wollen.«

Der Direktor nickte vage.»Wie Sie meinen.«

Lindros stellte die Flasche weg.»Aber im Augenblick sollte ich eine wichtige Sache mit Ihnen besprechen. «Er legte den Ausdruck von Ethan Hearns Material auf das Tischchen neben dem Alten.

«Was ist das? Ich kann jetzt nichts lesen, Martin.«

«Dann berichte ich Ihnen«, sagte Lindros. Als er fertig war, herrschte ein Schweigen, das durchs ganze Haus zu hallen schien.

Nach einiger Zeit sah der CIA-Direktor mit wässrigen Augen zu seinem Stellvertreter hinüber.»Warum hat er das getan, Martin? Warum hat Alex gegen sämtliche Vorschriften verstoßen und einen unserer eigenen Leute verschwinden lassen?«

«Ich glaube, er hat geahnt, was kommen würde, Sir. Er hat Spalko gefürchtet. Und wie sich gezeigt hat, hatte er allen Grund dazu.«

Der Alte lehnte seufzend den Kopf zurück.»Dann war’s also gar kein Verrat.«

«Nein, Sir.«

«Gott sei Dank.«

Lindros räusperte sich.»Sir, Sie müssen den Befehl, Jason Bourne zu liquidieren, sofort aufheben, und wir müssen ihn ausführlich befragen.«

«Ja, natürlich. Ich denke, dass dafür Sie am besten geeignet sind, Martin.«

«Ja, Sir. «Lindros stand auf.

«Wohin wollen Sie?«Die Stimme des Alten klang wieder gereizt.

«Zum Chef der Virginia State Police. Ich habe ein weiteres Exemplar dieser Akte, das ich ihm hinknallen werde. Ich werde darauf bestehen, dass Detective Harris wieder eingestellt wird — mit einer Belobigung von uns. Und was die Nationale Sicherheitsberaterin betrifft…?«

Der CIA-Direktor griff nach der Akte, fuhr leicht mit der Hand darüber. Dabei wirkte er etwas lebhafter, hatte wieder etwas mehr Farbe.»Lassen Sie mir bis morgen früh Zeit, Martin. «In seinen Augen erschien allmählich wieder der alte Glanz.»Mir fällt bestimmt etwas köstlich Angemessenes ein. «Er lachte, offenbar erstmals seit langem.»>Lasst die Strafe dem Verbrechen entsprechen«, was?«

Chan harrte bis zum Schluss bei Sina aus. Den Diffusor NX 20 hatte er mitsamt seiner grausig tödlichen Ladung versteckt. In den Augen der Sicherheitsbeamten, die auch in die Fernwärmezentrale strömten, war er ein Held. Sie wussten nichts von der Biowaffe. Sie wussten nichts über ihn.

Für Chan war das eine merkwürdige Zeit. Er hielt die Hand einer sterbenden jungen Frau, die nicht reden und kaum atmen konnte, ihn aber offensichtlich nicht gehen lassen wollte. Vielleicht lag das einfach daran, dass sie nicht sterben wollte.

Als Hull und Karpow erkannten, dass Sina im Sterben lag und ihnen keine Informationen liefern konnte, verloren sie das Interesse an ihr und ließen sie mit Chan allein. Und er, dem der Tod so vertraut war, erlebte etwas völlig Unerwartetes. Jeder Atemzug, den sie mühsam und schmerzvoll machte, glich einem ganzen Leben. Das las er in ihrem Blick, der ihn ebenso wenig losließ wie ihre Hand. Sie ertrank in der Stille, versank im Dunkel. Das durfte er nicht zulassen.

Gegen seinen Willen wurde sein eigener Schmerz durch ihren an die Oberfläche gebracht, und er erzählte ihr aus seinem Leben: vom Umherirren im Dschungel, von seiner Gefangenschaft bei dem vietnamesischen Wafffenschmugg-ler, seinem von dem Missionar erzwungenen Übertritt zum Christentum, von der politischen Gehirnwäsche durch seinen Folterer bei den Roten Khmer.

Und dann wurden ihm, was am schmerzhaftesten war, seine Gefühle in Bezug auf Li-Li entrissen.»Ich hatte eine Schwester«, sagte er mit dünner, brüchiger Stimme.»Hätte sie überlebt, wäre sie jetzt ungefähr in deinem Alter. Sie war zwei Jahre jünger als ich, hat zu mir aufgesehen, und ich. ich war ihr Beschützer. Den Drang, sie vor Schaden zu bewahren, hatte ich nicht nur, weil meine Eltern das wollten, sondern weil ich sie beschützen musste. Mein Vater war viel auf Reisen. Wer außer mir hätte Li-Li bei unseren Spielen beschützen sollen?«

Wider Willen hatte Chan heiße Tränen in den Augen, die seinen Blick verschwimmen ließen. Er wollte sich schamerfüllt abwenden, aber dann erkannte er etwas in Sinas Blick: leidenschaftliches Mitgefühl, das ihm als Rettungsanker diente, sodass sein Schamgefühl verschwand. Als er jetzt fortfuhr, fühlte er sich noch intimer mit ihr verbunden.»Aber letztlich habe ich Li-Li doch im Stich gelassen. Meine Schwester ist wie meine Mutter umgekommen. Auch ich hätte sterben sollen, aber ich habe überlebt. «Seine Hand tastete nach dem aus Stein geschnittenen Buddha, der ihm wie schon so oft neue Kraft gab.»Ich habe mich lange, sehr lange gefragt, welchen Zweck mein Überleben haben sollte. Ich hatte sie im Stich gelassen.«

Als Sina leicht den Mund öffnete, sah er, dass ihre Zähne blutig waren. Ihre Hand, die er so fest umklammerte, drückte seine, und er wusste, dass dies eine Aufforderung zum Weitersprechen war. Er befreite nicht nur sie von ihrer Agonie, sondern auch sich selbst von seiner eigenen. Und das Eigenartigste daran war, dass das funktionierte. Obwohl sie nicht sprechen konnte, obwohl sie langsam starb, arbeitete ihr Gehirn weiterhin. Sie hörte, was er sagte, und ihr Gesichtsausdruck zeigte ihm, dass es ihr etwas bedeutete — er wusste, dass sie angerührt war und seine Geschichte verstand.

«Sina«, sagte Chan,»in gewisser Weise sind wir verwandte Seelen. Ich sehe mich in dir — entfremdet, verlassen, völlig allein. Ich weiß, dass dir das vielleicht unverständlich vorkommen wird, aber meine Schuldgefühle, weil ich nicht imstande gewesen war, meine Schwester zu schützen, haben mich dazu gebracht, wider alle Vernunft meinen Vater zu hassen. Ich konnte nur sehen, dass er uns — mich — verlassen hatte. «Und dann erkannte er in einem Augenblick staunenswerter Erleuchtung, dass er in einen dunklen Spiegel sah und in ihr nur erkannte, dass er sich verändert hatte. Sie war tatsächlich noch immer, wie er früher gewesen war. Es war viel leichter gewesen, Rache an seinem Vater zu planen, als die ganze Wucht der eigenen Schuldgefühle zu ertragen. Aus diesem Bewusstsein entstand sein Wunsch, ihr zu helfen. Chan wünschte sich sehnlich, er könnte ihr Leben retten.

Aber besser als alle anderen erkannte er aus langer Er-fahrung das Nahen des Todes. Ließ sein Tritt sich erst vernehmen, war er nicht mehr aufzuhalten, nicht einmal von ihm. Und als die Zeit kam, als er diesen Schritt hörte und die Nähe des Todes in ihren Augen sah, beugte er sich über Sina und lächelte sie beruhigend an, ohne sich dessen recht bewusst zu sein.

Chan machte dort weiter, wo Bourne, sein Vater, aufgehört hatte, und sagte:»Denk daran, was du den Befra-gern antworten musst, Sina. >Mein Gott ist Allah, mein Prophet Mohammed, meine Religion der Islam und meine Kibla die heilige Kaaba.<«Es schien so vieles zu geben, was sie ihm erzählen wollte, aber nicht mehr sagen konnte.»Du gehörst zu den Gerechten, Sina. Sie werden dich in ihre glorreichen Reihen aufnehmen.«

Sinas Blick flackerte einmal, dann erlosch das Leben, das ihn beseelt hatte, wie eine Flamme.

Jamie Hull erwartete Bourne, als er ins Hotel Oskjuhlid zurückkam. Für die Rückfahrt hatte Bourne ziemlich lange gebraucht. Zweimal war er fast ohnmächtig geworden und hatte am Straßenrand halten und den Kopf aufs Lenkrad legen müssen, bis er weiterfahren konnte. Obwohl er starke Schmerzen hatte und völlig übermüdet war, trieb sein Wunsch, Chan zu begegnen, ihn weiter. Wie die Sicherheitsleute auf sein Erscheinen reagieren würden, war ihm egal; er wollte nur noch mit seinem Sohn zusammen sein.

Nachdem Bourne im Hotel kurz Spalkos Rolle bei dem Anschlag auf die Teilnehmer des Gipfeltreffens geschildert hatte, bestand Hull darauf, ihn in den hier eingerichteten Erste-Hilfe-Raum zu bringen, damit ein Sanitäter seine Wunden versorgen konnte.

«Spalko genießt weltweit einen so glänzenden Ruf, dass viele Leute ihn weiter für unschuldig halten werden, auch nachdem wir die Leiche geborgen und das Beweismaterial vorgelegt haben«, sagte Hull auf dem Weg zur Sanitätsstation.

Der Erste-Hilfe-Raum war voller Verletzter, die auf rasch aufgeschlagenen Feldbetten lagen. Die Schwerverletzten waren bereits von Krankenwagen abtransportiert worden. Und dann gab es die Toten, von denen vorläufig noch niemand sprechen wollte.

«Wir kennen Ihre Rolle in dieser Sache, und ich muss sagen, dass wir Ihnen alle dankbar sind«, fuhr Hull fort, als er neben Bourne saß.»Der Präsident will natürlich mit Ihnen reden, aber das hat Zeit.«

Die Sanitäterin kam zurück und fing an, die Platzwunde auf Bournes Wange zu nähen.

«Schön verheilt das nicht«, sagte sie.»Vielleicht sollten Sie später zu einem Schönheitschirurgen gehen.«

«Das ist nicht meine erste Narbe«, sagte Bourne.

«Das sehe ich«, sagte sie trocken.

Hull sprach weiter.»Eine Sache, die uns Rätsel aufgibt, ist das Vorhandensein von ABC-Schutzanzügen. Dabei haben wir keine Spur von biologischen oder chemischen Kampfstoffen gefunden. Wissen Sie etwas darüber?«

Bourne musste rasch nachdenken. Er hatte Chan allein mit Sina und der Biowaffe zurückgelassen. Jähe Angst traf ihn wie ein Stich ins Herz.»Nein. Wir waren ebenso überrascht wie Sie. Aber nach dem Kampf war niemand mehr am Leben, den wir hätten fragen können.«

Hull nickte, und als die Sanitäterin fertig war, half er Bourne aufstehen und führte ihn auf den Gang hinaus.

«Ich weiß, dass Sie sich nichts dringender wünschen als eine heiße Dusche und frische Kleidung, aber es ist wichtig, dass ich Sie sofort befrage. «Er lächelte beruhigend.»Hier geht es um Fragen der nationalen Sicherheit, ich bitte um Ihr Verständnis. Aber wir können die Sache wenigstens auf zivilisierte Art bei einer heißen Mahlzeit hinter uns bringen, okay?«

Ohne ein weiteres Wort brachte er einen kurzen, trockenen Nierenhaken an, und Bourne sank auf die Knie. Während Bourne nach Atem rang, hob Hull die Linke. In ihr hielt er einen Springdolch, dessen kurze, breite Klinge zwischen Zeige- und Mittelfinger hervorragte. An der Spitze war der Stahl dunkel — bestimmt ein hoch wirksames Gift.

Als er ihn eben in Bournes Nacken stoßen wollte, hallte ein gedämpfter Schuss durch den Korridor. Bourne sackte seitlich gegen die Wand, weil er nicht mehr von Hull festgehalten wurde. Als er den Kopf zur Seite drehte, sah er Jamie Hull, der mit dem vergifteten Springdolch in seiner Linken tot auf dem kastanienbraunen Läufer lag, und Boris Iljitsch Karpow, den Kommandeur der Alpha-Einheit des FSB, der mit einer Pistole mit Schalldämpfer in der Hand leicht o-beinig heranhastete.

«Ich muss gestehen«, sagte Karpow auf Russisch, als er Bourne hochzog,»dass ich schon immer insgeheim den Wunsch hatte, einen CIA-Agenten zu erschießen.«

«Jesus, danke!«, keuchte Bourne in derselben Sprache.

«War mir ein Vergnügen, das dürfen Sie mir glauben. «Karpow starrte auf Hull hinab.»Der CIA-Mordbefehl gegen Sie ist aufgehoben, aber ihn hat das nicht gekümmert. Sie haben anscheinend noch immer Feinde in Ihrer eigenen Agency.«

Bourne atmete mehrmals tief durch, was allein schrecklich schmerzhaft war. Er wartete, bis er wieder einigermaßen klar denken konnte.»Karpow, woher kenne ich Sie?«

Der Russe ließ sein dröhnendes Lachen hören. »Gospodin Bourne, wie ich sehe, stimmen die Gerüchte über Ihr Gedächtnis. «Er legte Bourne einen Arm um die Taille und stützte ihn.»Erinnern Sie sich nicht? Nein, das tun Sie nicht. Also, tatsächlich sind wir uns schon mehrmals begegnet. Beim letzten Mal haben Sie mir das Leben gerettet. «Er lachte erneut über Bournes verwirrten Gesichtsausdruck.»Das ist eine hörenswerte Geschichte, mein Freund. Eine, die man gut bei einer Flasche Wodka erzählen kann. Oder vielleicht auch bei zweien, was? Nach einer Nacht wie dieser… wer weiß?«

«Ich wäre dankbar für einen Schluck Wodka«, gab Bourne zu,»aber ich muss erst noch jemanden finden.«

«Kommen Sie«, sagte Karpow,»ich lasse meine Leute diesen Unrat wegräumen, und wir tun gemeinsam, was erledigt werden muss. «Er grinste breit, was die Brutalität seiner Züge abmilderte.»Sie stinken wie ein eine Woche alter Fisch, wissen Sie das? Aber das macht nichts, ich bin an solche Gerüche gewöhnt!«Er lachte wieder.»Wie ich mich freue, Sie wiederzusehen! In unserem Beruf, das weiß ich längst, findet man nicht gerade leicht Freunde. Und deshalb müssen wir dieses Ereignis, dieses Wiedersehen gebührend feiern, stimmen Sie mir zu?«

«Unbedingt.«

«Und wen suchen Sie so dringend, mein guter Freund Jason Bourne, dass Sie nicht erst heiß duschen und die verdiente Ruhe genießen wollen?«

«Einen jungen Mann namens Chan. Sie haben ihn kennen gelernt, nehme ich an.«

«Allerdings«, sagte Karpow, indem er Bourne einen anderen Korridor entlang führte.»Ein höchst bemerkenswerter junger Mann. Wissen Sie, dass er nicht von der Seite der sterbenden Tschetschenin gewichen ist? Und sie hat ihrerseits seine Hand bis zum Schluss umklammert. «Er schüttelte den Kopf.»Höchst ungewöhnlich.«

Karpow schürzte seine roten Lippen.»Nicht, dass sie seine Fürsorge verdient hätte. Was war sie — eine Mörderin, eine Zerstörerin? Man braucht sich nur anzusehen, was hier geplant war, um zu begreifen, was für ein Ungeheuer sie war.«

«Und trotzdem«, sagte Bourne,»hatte sie das Bedürfnis, seine Hand zu halten.«

«Wie er das ertragen hat, werde ich nie begreifen.«

«Vielleicht hat er auch von ihr etwas gebraucht. «Bourne musterte ihn.»Glauben Sie wirklich, dass sie ein Ungeheuer war?«

«O ja«, sagte Karpow,»aber die Tschetschenen haben mich selbst gelehrt, sie für Ungeheuer zu halten.«

«Und das ist nicht zu ändern?«, fragte Bourne.

«Nicht, bevor wir sie ausgerottet haben. «Karpow beobachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus.»Hören Sie, mein idealistischer Freund, sie haben über uns gesagt, was andere Terroristen von euch Amerikanern behauptet haben: >Gott hat euch den Krieg erklärt.< Wir haben aus bitterer Erfahrung gelernt, solche Äußerungen ernst zu nehmen.«

Karpow wusste zufällig genau, wo Chan war: im Hauptrestaurant des Hotels, das wieder einigermaßen in Betrieb war und eine beschränkte Auswahl an Speisen anbot.

«Spalko ist tot«, sagte Bourne nüchtern, um die Gefühle, die beim Anblick Chans auf ihn einstürmten, zu verbergen.

Chan legte seinen Hamburger auf den Teller und begutachtete Bournes geschwollene Wange mit der genähten Platzwunde.»Hast du was abgekriegt?«

«Nicht der Rede wert. «Bourne verzog das Gesicht, als er sich setzte.

Chan nickte, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Karpow hatte sich neben Bourne gesetzt. Er hielt einen vorbeihastenden Ober an und bestellte eine Flasche Wodka.»Russischen«, betonte er,»nicht das polnische Gesöff. Und bringen Sie drei große Gläser. Wir sind hier echte Männer: ein Russe und zwei Helden, die fast so gut wie Russen sind!«Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den anderen zu.»Also gut, was übersehe ich?«, fragte er listig.

«Nichts«, sagten Chan und Bourne wie aus einem Mund.

«Ach, wirklich?«Die raupenartigen Augenbrauen des Russen gingen nach oben.»Nun, dann können wir nur noch trinken. In vino veritas. Im Wein liegt Wahrheit — das haben die alten Römer geglaubt. Und wer wollte das bezweifeln? Sie waren verdammt gute Soldaten, die Römer, und hatten ausgezeichnete Feldherren, aber sie wären noch besser gewesen, wenn sie Wodka statt Wein getrunken hätten!«Karpow lachte schallend, bis die beiden anderen schließlich einstimmen mussten.

Dann wurde der Wodka mit drei Wassergläsern serviert. Karpow scheuchte den Ober mit einer Handbewegung weg.»Die erste Flasche muss man selbst öffnen«, behauptete er.»Das ist Tradition.«

«Das ist alter Käse«, sagte Bourne, indem er sich Chan zuwandte.»Eine Sitte aus der Zeit, als russischer Wodka oft so schlecht gebrannt war, dass er Fuselöle enthielt.«

«Hören Sie nicht auf ihn. «Karpow schürzte die Lippen, aber zugleich blinzelte er humorvoll. Er schenkte ihre Gläser voll und stellte sie sehr förmlich vor sie hin.»Sich eine Flasche guten russischen Wodka zu teilen ist in gewissem Sinn die Definition von Freundschaft — ob mit oder ohne Fuselöle. Denn bei einer guten Flasche Wodka reden wir von alten Zeiten, über Kameraden und Feinde, die von uns gegangen sind.«

Er hob sein Glas, und die beiden anderen folgten seinem Beispiel.

«Na sdarowje!«, rief er und leerte sein Glas auf einen Zug.

«Na sdarowje!«, wiederholten Vater und Sohn und taten es ihm gleich.

Bourne tränten die Augen. Der Wodka brannte bis in seinen Magen hinunter, aber wenige Augenblicke später durchströmte wohlige Wärme den gesamten Körper bis in die Fingerspitzen und milderte seine pochenden Schmerzen.

Karpow beugte sich zu ihnen hinüber. Sein Gesicht war von dem starken Getränk und dem schlichten Vergnügen, mit Freunden zusammen zu sein, leicht gerötet.»Jetzt betrinken wir uns und erzählen uns alle unsere Geheimnisse. Wir erfahren, was es bedeutet, Freunde zu sein.«

Nach einem weiteren Glas sagte er:»Also, ich fange an. Hier ist mein erstes Geheimnis. Ich weiß, wer Sie sind, Chan. Obwohl es offiziell kein Foto von Ihnen gibt, kenne ich Sie. «Karpow legte einen Finger an die Nase.»Ich bin nicht seit zwanzig Jahren im Einsatz, ohne meinen sechsten Sinn geschärft zu haben. Und weil ich das wusste, habe ich Sie von Hull fern gehalten, weil er Sie ohne Rücksicht auf Ihren Heldenstatus verhaftet hätte, wenn er Ihre wahre Identität geahnt hätte.«

Chan setzte sich auf.»Warum haben Sie das getan?«

«Oho, jetzt würden Sie mich umlegen? Gleich hier in dieser freundschaftlichen Runde? Sie glauben, dass ich Sie für mich aufheben wollte? Habe ich nicht gesagt, dass wir Freunde sind?«Er schüttelte den Kopf.»Sie müssen noch viel über Freundschaft lernen, mein junger Freund. «Er beugte sich nach vorn.»Beschützt habe ich Sie wegen Jason Bourne, der immer allein arbeitet. Sie waren mit ihm zusammen, deshalb wusste ich, dass Sie für ihn wichtig sind.«

Er füllte die Gläser, dann deutete er auf Bourne.»Jetzt sind Sie an der Reihe, mein Freund.«

Bourne starrte in seinen Wodka. Er war sich bewusst, dass Chan ihn scharf beobachtete. Er wusste, welches Geheimnis er preisgeben wollte, aber er fürchtete, wenn er das tue, werde Chan aufstehen und für immer verschwinden. Aber er wollte ihnen etwas Wahres berichten. Schließlich sah er auf.

«Als ich Spalko allein gegenüberstand, hätte ich fast versagt. Spalko hätte mich beinahe erledigt, aber die Wahrheit ist. die Wahrheit ist.«

«Heraus mit der Sprache, dann ist Ihnen wohler«, drängte der Russe.

Bourne setzte sein Glas an, trank einen Schluck von dem flüssigen Mut und wandte sich seinem Sohn zu.»Ich habe an dich gedacht. Ich habe mir gesagt, dass ich nicht zurückkommen werde, wenn ich versage, wenn ich zulasse, dass Spalko mich umlegt. Aber ich wollte dich nicht verlassen; ich durfte dich nicht im Stich lassen.«

«Sehr gut!«Karpow knallte sein Glas auf die Tischplatte. Er deutete auf Chan.»Jetzt Sie, mein junger Freund.«

In der nun folgenden Stille hatte Bourne das Gefühl, sein Herz könnte jeden Augenblick stillstehen. Sein Puls pochte in den Schläfen, und die vorübergehend betäubten Schmerzen von seinen vielen Wunden kehrten zurück.

«Nun«, fragte Karpow,»hat’s Ihnen die Sprache verschlagen? Ihre Freunde haben sich freimütig erklärt und warten jetzt auf ein Wort von Ihnen.«

Chan sah dem Russen ins Gesicht.»Boris Iljitsch Kar-pow, ich möchte mich Ihnen offiziell vorstellen. Ich heiße Joshua und bin Jason Bournes Sohn.«

Mehrere Stunden und zwei Flaschen Wodka später standen Bourne und Chan im Keller des Hotels Oskjuhlid. Dort unten war es moderig kühl, aber sie rochen nur Wodkadunst. Überall waren noch Blutflecken zu sehen.

«Du fragst dich vermutlich, was mit dem NX 20 passiert ist«, sagte Chan.

Bourne nickte.»Hull war misstrauisch wegen der Schutzanzüge. Er hat gesagt, sie hätten keine Spur von biologischen oder chemischen Waffen gefunden.«

«Ich habe den Diffusor versteckt«, sagte Chan.»Ich habe auf deine Rückkehr gewartet, damit wir ihn gemeinsam vernichten können.«

Bourne zögerte kurz.»Du hast darauf vertraut, dass ich zurückkommen werde.«

Chan wandte sich seinem Vater zu.»Ich scheine neues Vertrauen gewonnen zu haben.«

«Oder altes Vertrauen wieder gewonnen.«

«Erzähl mir nicht, was.«

«Ich weiß, ich weiß, es steht mir nicht zu, dir zu sagen, was du denken sollst. «Bourne nickte besänftigend.»Manche Einsichten dauern eben etwas länger.«

Chan führte ihn zu der Stelle, wo er den NX 20 in einem Hohlraum über den riesigen Fernwärmerohren versteckt hatte.»Um das zu tun, musste ich Sina einen Augenblick allein lassen«, berichtete er,»aber das ließ sich nicht ändern. «Er behandelte den Diffusor mit verständlichem Respekt, als er ihn Bourne übergab. Dann zog er noch einen kleinen Metallbehälter aus dem Hohlraum.»Die Phiole mit der er geladen war, ist hier drin.«

«Wir brauchen ein starkes Feuer«, sagte Bourne, der an die Warnung auf Dr. Sidos Bildschirm dachte.»Hitze tötet die Viren ab.«

Die riesige Hotelküche war fleckenlos sauber. Ohne das emsige Treiben des Küchenpersonals wirkten die glänzenden Oberflächen aus Edelstahl noch kälter. Bourne hatte die Notbesatzung vorübergehend hinausgeschickt, bevor er mit Chan an einen der riesigen Backöfen trat. Er wurde mit Gas befeuert, das Bourne ganz aufdrehte. Sofort schossen hohe Flammen in die Flammrohre des mit Schamottsteinen ausgemauerten Ofens. Nach wenigen Minuten war er so heiß, dass man sich ihm kaum nähern konnte.

Sie trugen ABC-Schutzanzüge, als sie den Diffusor zerlegten. Dann warf jeder von ihnen eine Hälfte in die Flammen, und die Phiole folgte.

«Wie ein Scheiterhaufen für einen toten Wikinger«, sagte Bourne, als sie zusahen, wie der NX 20 zusammen-schmolz. Er schloss die Ofentür, und sie zogen die Schutzanzüge aus.

Er wandte sich an seinen Sohn:»Ich habe mit Marie telefoniert, ihr aber noch nichts von dir erzählt. Ich wollte abwarten, bis…«

«Ich komme nicht mit«, sagte Chan.

Bourne wählte seine nächsten Worte sehr sorgfältig.»Das wäre nicht mein Wunsch.«

«Ich weiß«, bestätigte Chan.»Aber ich denke, du hattest sehr gute Gründe, deiner Frau nichts von mir zu erzählen.«

In der Stille, die sie plötzlich umgab, wurde Bourne von schrecklichem Kummer erfasst. Er wollte wegsehen, um zu verbergen, was auf seinem Gesicht stand, aber er konnte sich nicht abwenden. Er wollte seine Gefühle nicht mehr vor seinem Sohn und sich selbst verbergen.

«Du hast Marie und zwei kleine Kinder«, sagte Chan.»Das ist das neue Leben, das David Webb sich geschaffen hat, und ich gehöre nicht in dieses Leben.«

In den wenigen Tagen, seit die erste Kugel mit warnendem Sirren auf dem Campus an seinem Ohr vorbeigezischt war, hatte Bourne vieles gelernt — auch wann er im Gespräch mit seinem Sohn besser den Mund hielt. Chan hatte einen Entschluss gefasst, und das war’s dann. Zu versuchen, ihm seinen Entschluss auszureden, wäre sinnlos gewesen. Und noch schlimmer: Das hätte seinen noch latenten Zorn, den Chan nicht so bald vergessen würde, erneut angefacht. Dieses Gefühl war so verderblich und saß so tief, dass es sich nicht binnen Tagen, Wochen oder auch nur Monaten abschütteln ließ.

Bourne begriff, dass Chan eine kluge Entscheidung getroffen hatte. Die Schmerzen waren noch zu stark, die

Wunde war noch nicht verheilt, auch wenn wenigstens die Blutung gestillt war. Und wie Chan scharfsinnig bemerkt hatte, war ihm im Innersten bewusst, dass Chans Eintritt in das Leben, das David Webb sich geschaffen hatte, völlig sinnlos gewesen wäre.

«Vielleicht nicht jetzt, vielleicht niemals. Aber unabhängig davon, was du für mich empfindest, sollst du wissen, dass du einen Bruder und eine Schwester hast, die es verdienen, dich zu kennen und einen älteren Bruder in ihrem Leben zu haben. Ich hoffe, dass es eines Tages dazu kommen wird — zu unser aller Wohl.«

Sie gingen miteinander zum Ausgang, und Bourne war sich sehr bewusst, dass dies ihr letztes Zusammensein für viele Monate sein würde. Aber nicht ihr letztes, nein. Zumindest das musste er seinem Sohn begreiflich machen.

Er trat einen Schritt vor und schloss Chan in die Arme. Sie hielten einander schweigend umfangen. Bourne konnte das Brausen der Gasflammen hören. Das helle Feuer im Backofen vernichtete die schreckliche Gefahr, die ihnen allen gedroht hatte.

Als er Chan widerstrebend losließ, konnte er ihn für einen ganz kurzen Moment, während er seinem Sohn in die Augen starrte, als kleinen Jungen in Phnom Penh mit der sengend heißen asiatischen Sonne auf dem Gesicht sehen, und im gesprenkelten Schatten der Palmen gleich dahinter beobachtete Dao sie und lächelte ihnen zu.

«Ich bin auch Jason Bourne«, sagte er.»Das ist etwas, das du nie vergessen sollst.«

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